Spieglein, Spieglein

Bundestag

Der Bundestag wird nie ein exaktes Spiegelbild der Gesellschaft sein.“ Diese Aussage Wolfgang Schäubles war der Fluchtpunkt in seiner Eröffnungsrede am 26. Oktober 2021 als Alterspräsident des Deutschen Bundestages. Für ihn sind Abgeordnete Vertreter des ganzen Volkes, nicht einer bestimmten Schicht. In der Tat sagt die Zusammensetzung eines Parlaments nach Beruf, Ethnie, Geschlecht, Herkunft, Region und Religion wenig über dessen Qualität aus. Das Thema beschäftigt Schäuble aber nicht erst seit Kurzem. Bereits im Sommer 2021 hat er diesen Gedanken in einem Zeitungsartikel Ausdruck verliehen.

Worum geht es genau? Nicht nur Angehörige nehmen die Interessen ihrer gesellschaftlichen Gruppen wahr. Auch die Belange der ganz Jungen, die noch nicht ins Parlament einziehen können, und die der ganz Alten, die ihm nicht mehr angehören, fallen keineswegs unter den Tisch. Mehr noch: Diese Gruppenzugehörigkeiten spiegeln keineswegs politische Positionen wider. Das Denken in diesen Kategorien vernachlässigt das Votum des jeweiligen Individuums. So lehnen viele Frauen Quoten für ihr Geschlecht ab. Es ist schwierig, politische Themen eindeutig einzelnen Parteien zuzu­ordnen.

Dasselbe Problem stellt sich auch bei gesellschaftlichen Gruppen. Wir lesen häufig, ein gesteigertes Umweltbewusstsein und eine liberale Einwanderungspolitik fielen unvermeidlich zusammen und würden vornehmlich von jüngeren Bewohnern reicher Stadtviertel vertreten werden, die für deren politische Umsetzung die Grünen wählten. Aber warum soll eine alte Landbewohnerin nicht ebenso denken? Oftmals wird vergessen, dass ähnliche politische Überzeugungen aus völlig unterschiedlichen Gründen zustande kommen können. So kann die Oma vom Land ihr eigenes Gemüsebeet bewirtschaften und Flüchtlinge betreuen, weil sie selbst Fluchterfahrung hat.

In einer Umfrage des Umweltministeriums von 2019 stimmten nicht nur 89 Prozent des sozial-ökologischen Milieus der Aussage zu, wir dürften Natur nur so nutzen, dass dies kommenden Generationen im gleichen Umfang möglich sei. Auch 82 Prozent des traditionellen Milieus waren dieser Meinung. Ein Denkfehler liegt darin, Überzeugungen unterschiedlicher Politikfelder zu einem Weltbild zu verschmelzen. Was besonders absurd ist: Wer gegen die expansive Euro-Politik ist, muss auch gegen Einwanderung sein, nicht an den Klimawandel glauben, Putin-Anhänger sein und das neuartige Coronavirus für erfunden (– und gleichzeitig die Impfung als wirkungslos dagegen) halten.

Parteien müssen viele politische Positionen zu einem Bild versammeln, wenn sie ihre Grundsatz- und Wahlprogramme zusammenstellen. Das heißt noch lange nicht, dass wir es ihnen bei unserem Blick auf die Bevölkerung gleichtun. Kaum jemand wählt eine Partei, weil ihre Aussagen zu 100 Prozent mit den eigenen Überzeugungen übereinstimmen.

„Vertreter des ganzen Volkes“

Das Grundgesetz stellt im Artikel 38 klar fest, Abgeordnete seien „Vertreter des ganzen Volkes“. Das Bundesverfassungsgericht hat das wiederholt betont. So urteilten die Verfassungsrichter 2012, die „Abgeordneten sind nicht einem Land, einem Wahlkreis, einer Partei oder einer Bevölkerungsgruppe, sondern dem ganzen Volk gegenüber verantwortlich; sie repräsentieren zudem das Volk grundsätzlich in ihrer Gesamtheit, nicht als Einzelne“. Das ist eine klare Absage an die Vorstellung, dass Abgeordnete bestimmte Teilgruppen der Bevölkerung repräsentieren. Jüngst haben Landesverfassungsgerichte mit dieser Argumentation Gesetze für paritätisch besetzte Wahllisten als verfassungswidrig verworfen.

Das Parteiengesetz weist den Parteien die Aufgabe zu, als Bindeglied zwischen dem Souverän, dem Volk, und den Staatsorganen zu fungieren. Damit ist eigens gesagt, dass die Auswahl von Kandidaten allein den Auftrag einer politischen Partei nicht vollständig erfüllt. Wie die Bürger in den politischen Willensbildungsprozess einbezogen werden sollen, erörtert das Gesetz nicht konkret.

Wo gehöre ich hin?

Die Sozialwissenschaften haben Versuche unternommen, die moderne Gesellschaft zu vermessen. Laut Sinus-Institut besteht die Bevölkerung aus zehn Gruppen. Der „bürgerlichen Mitte“ etwa rechnen die Wissenschaftler rund 13 Prozent der Deutschen zu. Diese Gruppe unterstütze die gesellschaftliche Ordnung, strebe danach, sich beruflich und sozial zu etablieren, und wünsche sich gesicherte und harmonische Verhältnisse. Die relativ größte Gruppe, die „Hedonisten“, mache dagegen 15 Prozent der Bevölkerung aus, sei sozial in der unteren Mittelschicht zu verorten und richte ihr Leben danach aus, den Zwängen des Alltags zu entfliehen. Natürlich darf man die Bedeutung solcher Kategorien nicht überschätzen. Harte Kriterien stellen sie nicht dar. Parteien, Journalisten und Juristen sollten Entwicklungen in den Sozialwissenschaften nicht vernachlässigen, wenn sie über Repräsentation und Repräsentativität nachdenken und nicht auf einem Auge blind sein wollen.

Solche Milieu-Definitionen teilen Menschen nicht mehr entlang ihres Alters oder ihres Bildungsabschlusses ein, sondern nehmen vermehrt spezifische Lebenseinstellungen in den Blick, die das menschliche Denken und Handeln beeinflussen können. Karl Marx schrieb einmal: „Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“ Es ist an der Zeit, dieses geflügelte Wort zu hinterfragen. Wir sollten den Menschen zutrauen, in ihrer eigenen Mentalität zu wachsen. Daraus sollten wir die richtigen Schlüsse ziehen, statt Menschen auf Rollen festzulegen und ihnen Werte unterzuschieben, die sie vielleicht gar nicht teilen.

Wer die Menschen selbst fragt, welche Trennlinien die Gesellschaft durchziehen, erhält althergebrachte Antworten. In einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach 2019 sahen die meisten Befragten soziale Gründe, die Bürger hierzulande voneinander trennen. 75 Prozent sagten demnach, die soziale Schicht, der man angehöre, gliedere unsere Gesellschaft. Auch die nachfolgenden gesellschaftlichen Gräben, das Einkommen (69 Prozent), die Nationalität (66 Prozent) und das Eigentum (60 Prozent), scheinen unüberwindbar. Erst an fünfter Stelle folgt mit der politischen Einstellung (59 Prozent) ein Unterscheidungsmerkmal, das man in einer Sinnkrise an einem Sonntagnachmittag über Bord werfen könnte.

Vielfalt ist wichtig

Gleichwohl ist Repräsentation nicht wünschenswert ohne Repräsentativität. „Wer Repräsentation mit Repräsentativität gleichsetzt, wird eine Fülle eklatanter Abweichungen finden“, sagte Schäuble in seiner Rede. Wer aber Repräsentativität keinerlei Gewicht beimisst, schüttet das Kind mit dem Bade aus. Vielfalt ist geboten – und zwar in unterschiedlichster Weise. Wer in einer Art Blase verkehrt, dem mangelt es an Verständnis für fremde Lebenswelten. Der Bundestag ist jünger und diverser geworden. Insofern ist Bärbel Bas (SPD), Schäubles Nachfolgerin im Bundestagspräsidium, zuzustimmen, wenn sie über die neuen Abgeordneten sagt: „Ihre Lebenswege und Lebensläufe werden unsere Debatten bereichern.“

Was den beruflichen Hintergrund der Bundestagsabgeordneten angeht, sind einige Berufsgruppen immer noch deutlich überrepräsentiert. 109 der 736 Parlamentarier sind Juristen. Das ist ein Anteil von 14,8 Prozent. Viele dagegen sind nicht vertreten. Nur vier üben den Beruf eines Landwirts aus. Dabei arbeitet die größte Gruppe der Beschäftigten in Büro- und Verwaltungsjobs. Rund 5,3 Millionen zählte die Bundesagentur für Arbeit 2021. Beschäftigte im Verkauf stellen mit 2,9 Millionen die drittgrößte Berufsgruppe. In den Reihen der Parlamentarier sucht man sie ebenso vergebens wie Reinigungskräfte (1,9 Millionen) oder Lkw-Fahrer, Zugführer und Busfahrer (1,5 Millionen).

Auch wenn darüber gestritten werden kann, wie das Verhältnis von Repräsentation und Repräsentativität im Einzelnen auszugestalten ist – für Minderheiten ist das eine äußerst bedeutende Frage. Beim Afrozensus 2020, einer Umfrage unter Schwarzen in Deutschland, gaben rund 70 Prozent der Befragten an, „fehlende Repräsentation auf allen gesellschaft­lichen Ebenen“ sei ein großes Problem. Damit beschäftigte dieser Missstand schwarze Menschen stärker als „Diskriminierung durch die Polizei“ (57,4 Prozent), „Diskriminierung in den Medien“ (56,2 Prozent) und „Verschärfung des Asylrechts“ (51,9 Prozent).

Im Bundestag sind viel zu wenige Personen aus sozial schwachen Milieus vertreten. Der Weg vom Kreißsaal über den Hörsaal zum Plenarsaal ist ein Irrweg! Wer das kritisiert, plädiert jedoch nicht automatisch für Quoten und Paritätsgesetze. Erwünschte Bürgernähe der Abgeordneten hängt von vielen Faktoren ab, nicht nur von der sozialen Zusammensetzung des Parlaments. Eine parlamentarische Demokratie ist keine Ständegesellschaft. Was folgt hieraus? Diese Feststellung ist wohl vor allem ein Aufruf an alle Politiker. Sie müssen bedenken, dass sie den verfassungsmäßigen Auftrag haben, alle Staatsbürger zu repräsentieren. Eine Überidentifikation mit einer spezifischen Gruppe ist somit nicht die Lösung, sondern im Hinblick auf die unausgewogene Besetzung des Parlaments immer auch das Problem gewesen. Denn fehlende Repräsentation wiegt schwerer als fehlende Repräsentativität.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 138 – Thema: Rising Stars. Das Heft können Sie hier bestellen.