Deutschland hat Interessen und muss das sagen

Gastbeitrag

Unsicherer, unsteter, unvorhersehbarer – so ließe sich der Zustand der aktuellen Weltlage wohl beschreiben. Die Antwort darauf muss eine klare deutsche Außenpolitik sein, die uns spätestens jetzt zu der grundlegenden Frage führt: Was will Deutschland? Was sind unsere nationalen Interessen?

Keine leicht zu beantwortende Frage, denn die deutschen Auslegungen davon sind schwammig und oft leblos. Das politische Berlin würde wahrscheinlich auf Dokumente wie die kürzlich im Auswärtigen Amt erarbeitete „Nationale Sicherheitsstrategie“ verweisen, auf das „Weißbuch“ des Verteidigungsministeriums oder vielleicht sogar für Kenner auf die „Weltraumstrategie“. Der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog sagte 1995, deutsche Interessen seien „zunächst unsere unmittelbaren nationalen Interessen wie Sicherheit und Bewahrung von Wohlstand. Es hat keinen Sinn, das verschweigen zu wollen.“. Es war ein Versuch, deutsche Interessen zu definieren und gleichzeitig aufzuzeigen, wie unglaubwürdig es wirkt, wenn man sie nicht nach außen vertritt. Und noch 2018 sagte der damalige Außenminister Heiko Maas, „das nationale Interesse Deutschlands hat einen Namen: Europa.“

Was ist seitdem passiert?

In der politischen Kommunikation kommt dieser Begriff weiterhin kaum vor, obwohl er eine bedeutende Tragweite hat. Der Grund dafür mag in unserer Vergangenheit liegen. Schnell kommt die Sorge auf, dass das Wort „nationale Interessen“ einen falschen Eindruck erweckt, weil damit rohes Machtstreben und Nationalismus verbunden werden. Diese Sorge kann – muss – im Jahre 2024 jedoch bewusst abgeschüttelt werden. Jedes Land hat Interessen, Deutschland bildet da keine Ausnahme. Deutschlands Außenpolitik, die interessen- und wertegeleitet sein sollte, darf kein glitschiger Lachs sein, den man nicht zu fassen bekommt!

Die Vorteile klar definierter Interessen liegen auf der Hand: Sie fördern Transparenz, können strategisch klug sein und schaffen Vertrauen: Sowohl nach innen, in der eifenen Bevölkerung, als auch nach außen für unsere Partner. Wo andere Regierungen ihre Absichten deutlich artikulieren und verfolgen, wirkt Stillschweigen und Herumlavieren verdächtig. Niemand – auch keine befreundete Nation – kauft Deutschland ab, keine nationalen Interessen zu verfolgen. Was bleibt, ist ein suspekter Eindruck, der unser außenpolitisches Image beschädigt.

Gleichzeitig darf das offene Formulieren und Kommunizieren der eigenen nationalen Interessen nicht als Versuch verstanden werden, sich von internationaler Zusammenarbeit abzukapseln. Ganz im Gegenteil: Es ist ein Zeichen von Reife, Offenheit und Verantwortungsbewusstsein. Die Zurückhaltung, klare nationale Interessen zu formulieren, ist heute weniger ein Akt der Klugheit als ein Ausdruck von Unentschlossenheit. Deutschland muss sich von dieser Passivität verabschieden und ohne Furcht eigene Überzeugungen offenlegen.

Doch beim Formulieren von nationalen Interessen alleine darf es nicht bleiben. Sie müssen auch verfolgt werden – im Zweifelsfall gegen Widerstände und Interessen anderer Akteure. Hier kann das Streben nach Win-Win Situationen an seine Grenzen stoßen. Denn die eigenen Werte und Interessen ernst zu nehmen und durchzusetzen bedeutet, sich für einige zum Feindbild zu machen. Die verständliche Sehnsucht Deutschlands, niemandes Feind mehr zu sein mag legitim sein, ist jedoch naiv – oder, um es mit Taylor Swifts Worten zu sagen: „A friend to all is a friend to none.“

Gretchenfrage Militär

Im Umkehrschluss bedeutet das leider auch, dass wir Rivalen und auch Feinde unserer Interessen benennen und mit ihnen in die (diplomatische) Auseinandersetzung treten müssen – im Notfall auch militärisch. Eine Forderung, die Bundespräsident Horst Köhler vor rund dreizehn Jahren bereits äußerte, und die ihn schlussendlich zum Bundespräsident a. D. machte. Mit ihrer reflexhaften Empörung über dieses Aussprechen einer Selbstverständlichkeit zeigte die deutsche Bevölkerung und Politik damals ihre Verblendung in aller Deutlichkeit. Zukünftige Generationen dürften auf diese Episode mit einem ähnlich ungläubigen Kopfschütteln zurückblicken wie auf Hexenverbrennungen oder kommunistische Fieberträume. Heute tun wir im Roten Meer nämlich genau dies: deutsche (wirtschaftliche) Interessen militärisch schützen. Es tut sich also etwas. Es ist jedoch nicht mehr, als eine Entwicklung in Trippelschritten. Von einer wirklichen außenpolitischen Zeitenwende zu sprechen wäre überzogen.

Die Verweigerung, unsere nationalen Interessen glasklar zu definieren, zu kommunizieren und durchzusetzen, können wir uns im Getöse der Weltpolitik nicht mehr erlauben. Anstatt also Zeit und Kraft für „darf man das“-Diskurse und Schnappatmung zu verschwenden, sollten Politik und Gesellschaft zügig zu einer gemeinsamen Definition von unseren nationalen Interessen finden. Wie diese gesamtgesellschaftliche Definitions-Findung in einem Land geschehen soll, in dem die Regierung nicht einmal einen Nationalen Sicherheitsrat aufgestellt bekommt, wird die große Herausforderung sein. Schlussendlich wird es an den Parteien liegen mutige Vorschläge zu erarbeiten und diese durch die demokratische Legitimation langfristig zu etablieren und durchzusetzen. Viele Punkte liegen auf der Hand: Sicherheit, Wohlstand, Europa, Menschenrechte. Hier aufgeschrieben nicht mehr als Worthülsen, die mit Bedeutung gefüllt werden müssen und mit der Frage verbunden, wie wichtig sie uns sind und wie weit wir für sie gehen wollen.

Zentral ist, dass nicht alles gleich wichtig sein kann – denn auch unsere nationalen Interessen sind nicht allen so wichtig wie uns.