Was den Grünen für den Sprung auf Platz eins fehlt

Politik

Vor 30 Jahren, am 14. Mai 1993, schlossen sich die Grünen und Bündnis 90 zusammen. Damit rückten fundamentalistische Positionen innerhalb der Partei verstärkt in den Hintergrund. Fortan galt das Engagement für Menschenrechte als besonderes Anliegen. Auch in der Sicherheitspolitik wurde die strikte Gewaltfreiheit angepasst, beispielsweise im Hinblick auf die kriegerischen Konflikte auf dem Balkan. Die Grünen hatten sich bereits zuvor gewandelt, nachdem extremistische Strömungen wie die Ökosozialisten um Thomas Ebermann und Rainer Trampert aus Hamburg oder die Radikalökologen um die Frankfurterin Jutta Ditfurth aus der Partei ausgeschieden waren. Schon lange waren die Grünen keine „Antipartei-Partei“ (Petra Kelly) mehr. Sie distanzierten sich vom Rotationsprinzip ebenso wie von der „Basisdemokratie“ im Sinne eines imperativen Mandats.

Die Grünen entstanden in den 1970er Jahren aus einer Vielzahl von Protestbewegungen. Bürgerinitiativen, die zunächst vereinzelt aufgetreten waren, entwickelten sich Mitte der Siebzigerjahre allmählich zu einer regional und überregional organisierten Umweltschutzbewegung. Im Vorfeld der Bundestagswahl im Januar 1980 wurde die Partei „Die Grünen“ auf Bundesebene gegründet, sie war jedoch aufgrund von Austritten und Abspaltungen noch nicht gefestigt. Bei dieser Bundestagswahl konnten die Grünen lediglich 1,5 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. In den 1990er Jahren bestand die Partei grob gesagt aus einem „ökoliberalen“ Flügel, der durch Reformen der bestehenden politischen Ordnung die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen bekämpfen wollte (die sogenannten „Realos“), sowie aus einem „fundamentaloppositionellen“ Flügel, der das „industrielle System“ grundlegend verändern wollte, ohne sich zu sehr darauf einzulassen.

Einst ein Rasselbündnis

Die Grünen verstanden sich lange als Alternative zu den anderen Parteien. Sie betonten anfangs vier Grundwerte: „ökologisch“, „sozial“, „basisdemokratisch“ und „gewaltfrei“. Und sie forderten eine prinzipielle Umorientierung des sozialen wie wirtschaftlichen Lebens und arbeiteten intensiv daran, über den Umweltschutz hinaus auch in anderen Politikfeldern eigenständige Positionen zu erarbeiten. Dies war schon deshalb notwendig, um einer möglichst breiten Palette von außerparlamentarischem Protest eine politische Heimat zu bieten, wie zum Beispiel Pazifisten, Feministinnen, sexuellen und ethnischen Minderheiten.

Die deutsche Vereinigung hatte den Grünen gleichermaßen geschadet und genützt. Geschadet deshalb, weil sie bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl aufgrund einer speziellen Sperrklausel für Ost- und Westdeutschland an der Fünfprozenthürde. Sie waren keine Anhänger der Wiedervereinigung – ihr Wahlkampfslogan lautete: „Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Wetter.“ Erst einen Tag nach der Bundestagswahl 1990 schlossen sich die Grünen aus den neuen Bundesländern den Grünen im Westen an. Bei einem früheren Zusammenschluss hätte es ihnen bundesweit gereicht, die Fünfprozentklausel zu überwinden. Nur das ostdeutsche Bündnis 90/Grüne, das in den neuen Bundesländern 6,0 Prozent der Stimmen erhielt, schaffte es mit acht Abgeordneten in den Bundestag.

Aber die Wiedervereinigung nützte der Partei auch. Die Vereinigung mit der ostdeutschen Bürgerbewegung eröffnete den Grünen programmatische Erweiterungen und half, ideologischen Ballast abzuschütteln. Die linken Strömungen wurden geschwächt, die pragmatischen gestärkt. Erstere waren aus ihrem Kampf gegen die SED-Diktatur hervorgegangen, Letztere größtenteils aus der antikapitalistisch ausgerichteten „Neuen Linken“.

Die Neuen im Regierungsschach

Nach rot-grünen Bündnissen in der ersten Hälfte der 1990er Jahre entstand 1998 die erste rot-grüne Koalition auf Bundesebene. Sie wurde durch die Beteiligung Deutschlands am Kosovokrieg gleich vor große Herausforderungen gestellt. Außenminister Joschka Fischer setzte den ersten Bundeswehreinsatz in einem militärischen Konflikt gegen Widerstand in der eigenen Partei durch. 2002 wurde das rot-grüne Bündnis fortgesetzt (der Stimmenanteil der Grünen stieg von 6,7 auf 8,6 Prozent), bis es durch die vorzeitige Neuwahl 2005 auseinanderbrach. Die Grünen öffneten sich allmählich auf der Länderebene für Bündnisse mit der CDU, zuerst 2008 in Hamburg. Wie bei der ersten rot-grünen Koalition, die vorzeitig endete (1987 in Hessen), traf dies auch auf die schwarz-grüne Koalition zu (2010). Im Jahr 2013 hätte es arithmetisch für eine schwarz-grüne Koalition auf Bundes–ebene gereicht, doch nicht politisch. Vier Jahre später war es umgekehrt.

Die Partei kann mittlerweile auf eine beeindruckende Erfolgsgeschichte zurückblicken. Bei der Bundestagswahl 2021 erzielte sie mit 14,8 Prozent ihr bisher bestes Ergebnis in der Geschichte (allerdings weniger Stimmen als erwartet), und sie gehört als zweitstärkste Kraft der Bundesregierung an. Wirtschaftsminister Robert Habeck und Außenministerin Annalena Baerbock zählen derzeit zu den prägenden Persönlichkeiten in der deutschen Politik. Die Partei sitzt in allen Bundesländern (außer dem Saarland) im Parlament und regiert in elf Bundesländern mit: In Baden-Württemberg stellt sie seit 2011 mit Winfried Kretschmann sogar den Regierungschef; in jeweils fünf Bundesländern ist sie Juniorpartner einer Zweierkoalition (in Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein) bzw. einer Dreierkoalition (Brandenburg, Bremen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Thüringen).

Die Partei kann, mit Ausnahme der AfD, mit allen Parteien koalieren: mit der Union und der FDP wie mit der SPD und den Postkommunisten. Bisher war sie nur in Bayern und Mecklenburg-Vorpommern nicht in der Regierung vertreten. Im Gegensatz zu den anderen Kräften vermochte sie die Mitgliederzahl beträchtlich zu steigern. Hatte sie Ende 1992, vor 30 Jahren, nur 36.320 Mitglieder, so sind es Ende 2022 mit 126.451 mehr als dreimal so viele.

Grüner Zeigefinger

Trotzdem haben es die Grünen bisher nicht geschafft, eine Volkspartei zu werden. Das liegt daran, dass sie über keine stabile Wählerschaft verfügen und sich vor allem auf ein bestimmtes kosmopolitisches Milieu konzentrieren, das urban und akademisch geprägt ist. Wähler vom „flachen Land“ und aus der Arbeiterschaft fehlen ihnen weitgehend. In den neuen Bundesländern schneiden sie nur halb so gut ab wie in den alten. Die Partei ist eine Vorreiterin in Sachen Identitäts- und Genderpolitik und gewinnt damit junge Wähler, polarisiert aber gleichzeitig. Die Erfolge der AfD sind wohl nicht zuletzt eine Reaktion auf den Aufstieg der Grünen. Der grüne Moralismus, der bei Themen wie der Migrationspolitik zum Ausdruck kommt, wird von vielen nicht begrüßt.

Am 15. April 2023 wurden die letzten drei Atomkraftwerke im Land abgeschaltet. Dafür hatte die Partei jahrzehntelang gekämpft. Doch ist das angesichts der großen Energiekrise möglicherweise ein Pyrrhussieg. Klimaschädliche Kohlekraftwerke werden weiterhin betrieben. Ist bei der strikten Ablehnung der Atomenergie auch Ideologie im Spiel? Viele europäische Staaten halten vorerst an Atommeilern fest, manche bauen gar neue.

Die Zukunft ist grün – oder?

Das allgegenwärtige Thema Klimaschutz ist prinzipiell ein Pluspunkt für die Grünen, da ihnen von den Wählern hohe Kompetenz zugesprochen wird. Doch hier geraten sie zwischen die Fronten. Einerseits heißt es, Klimaschutz dürfe nicht die Effizienz der Wirtschaft und die Sozialverträglichkeit gefährden. Andererseits gibt es radikale antikapitalistische Klimaaktivisten wie die „Letzte Generation“, die den als halbherzig angesehenen Kurs der Grünen nicht akzeptieren. Das versetzt die Partei in eine Zwickmühle.

Die Zukunft der Partei ist offen. Es bieten sich in absehbarer Zeit zwei vielversprechende Optionen auf Bundes–ebene: entweder als Juniorpartner in einer Zweierkoalition mit der Union oder als Seniorpartner in einer Dreierkoalition mit der SPD und der FDP. Beide Varianten haben für die Partei Vor- und Nachteile. In einer Zweierkoalition ist das Regieren einfacher, wenngleich die Grünen dann nicht den Ton angeben. In einer Dreierkoalition dürften die Konflikte zwischen den Parteien größer sein, selbst wenn die Grünen die Nummer eins sind.

Ein Linksbündnis aus Grünen, SPD und Die Linke ist gegenwärtig weder arithmetisch noch politisch realistisch. Was jedoch realistisch sein könnte: Die Grünen lösen die SPD als stärkste Kraft im linken Spektrum ab – vorübergehend oder auf längere Zeit. Bei der Europawahl 2019 ist ihnen das bereits gelungen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 143 – Thema: 15 Young Thinkers. Das Heft können Sie hier bestellen.