Warum sich die SPD dabei verrenkt, die Koalition zusammenzuhalten

Politik

Das war ein kluger Schachzug der SPD: Die Parteispitze um Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans nominierte im August 2020 Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten. Esken und Walter-Borjans hatten im November 2019 Scholz und Klara Geywitz im Rennen um den Parteivorsitz in einer Stichwahl besiegt – als Vertreter des linken Parteiflügels. Scholz wurde dann im Mai 2021 auf dem Parteitag mit einer überwältigenden Mehrheit von 96 Prozent gewählt. Strategisch war dies klug, denn Scholz, als Vertreter der rechten Mitte seiner Partei, stieß bei der Bevölkerung auf deutlich mehr Sympathie als Esken oder Walter-Borjans. Als Finanzminister fungierte Scholz als Vizekanzler in der Großen Koalition unter Angela Merkel und konnte so indirekt einen Kanzlerbonus für sich beanspruchen.

Er profitierte zudem von folgendem Umstand: Die Union und die Grünen nominierten mit Armin Laschet und Annalena Baerbock jeweils Kandidaten, die intern jeweils auf mehr Zuspruch stießen als Markus Söder und Robert Habeck, obwohl diese außerhalb der eigenen Partei populärer waren. Scholz profitierte weiterhin vom Verzicht Merkels auf eine erneute Kanzlerkandidatur und von der Geschlossenheit seiner Partei. Mit 25,7 Prozent der Stimmen konnte die SPD ihren Anteil um 5,2 Punkte steigern. Sie lag damit zum ersten Mal seit 2002 wieder an der Spitze. Dies war maßgeblich Scholz’ Verdienst, der im Wahlkampf sachlich blieb und polemische Töne mied.

Ehrwürdige Geschichte

1890 wurde die SPD zur stärksten Partei im Kaiserreich. Dies geschah gleich nach der Aufhebung des „Sozialistengesetzes“. Die Partei hatte eine tragende Rolle beim Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik. Sie musste sich der Kräfte von rechts- und linksaußen erwehren. In der ersten deutschen Demokratie fiel ihr nicht der Einfluss zu, der ihr nach den Wahlergebnissen eigentlich zustand. Im Dritten Reich schnell verboten, kehrte sie mit ihrem Widerstand gegen das Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933 nach dem Krieg unbelastet in die politische Arena zurück. Wurde die Partei in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) beziehungsweise DDR durch die Zwangsfusion mit der KPD zur SED am 21./22. April 1946 ausgeschaltet, spielte sie in der Bundesrepublik Deutschland auf Bundesebene lange nur eine Nebenrolle.

Mit dem Godesberger Programm von 1959 und der Juniorpartnerschaft im Bund zwischen 1966 und 1969 wurde die SPD salonfähig. In einigen Bundesländern war sie da bereits zur führenden Kraft avanciert. Unter Willy Brandt schmiedete sie im Bund zwischen 1969 und 1974 eine Koalition mit der FDP und zwischen 1974 und 1982 unter Helmut Schmidt. Gerhard Schröder schließlich hielt das Bündnis mit den Grünen zusammen (1998–2005). Parteiinterne Zerwürfnisse waren eher der Grund für das Koalitionsende 1982 und 2005 als Konflikte mit dem Juniorpartner.

Primus inter pares

Die Bildung der auf Bundesebene neuartigen rot-grün-gelben Koalition ist ein lagerübergreifendes Bündnis. Sie vollzog sich vergleichsweise schnell und reibungslos.
Im Februar 2022 bezeichnete Olaf Scholz die militärische Aggression Russlands gegen die Ukraine als „Zeitenwende“. Er erkannte den Ernst der Lage und stellte der Bundeswehr 100 Milliarden Euro zur Verfügung. Dies stieß auf Zustimmung nicht nur bei weiten Teilen der Bevölkerung, sondern auch bei der Union, der klar stärksten Oppositionskraft. Schon bald überholte angesichts des koalitionsinternen Streits, etwa beim Umgang mit der Pandemie, die Union in Umfragen die SPD, und seit Juni 2023 liegt sogar die AfD vor der SPD, die nicht einmal 20 Prozent erreicht. Die Vorwürfe gegenüber Scholz betreffen dessen mangelnde Kommunikationskraft beim Blick auf wichtige Maßnahmen.

Der SPD als der stärksten Regierungskraft wird das Chaos bei der Energiepolitik angelastet. Schließlich lautet der Vorhalt, die Partei mache sich spezifische Minderheitsthemen (Stichwort: LSBTIQ) der Grünen zu eigen. Ein großer Teil ihrer nicht über die Maßen kosmopolitisch orientierten Wählerschaft kann mit diesen Themen wenig anfangen. Hingegen nehme die SPD die Probleme, die aus der anhaltenden Migration und den schwachen Wachstumsraten für große Teile der hiesigen Bevölkerung erwachsen, nicht ernst genug.

Da der Partei mittlerweile der Markenkern fehlt, verliert sie nach allen Richtungen. Allerdings sind die niedrigen Umfragewerte wegen des bekannten „Zwischenwahl­effektes“ zu relativieren: Gemeinhin schneidet die Hauptregierungspartei im Bund bei Wahlen und Umfragen eher schlecht ab, weil sich der Unmut vor allem bei ihr entlädt.

Die Landtagswahlergebnisse für die SPD nach der Bundestagswahl 2021 fielen daher nicht besonders gut aus. Im Saarland, der ersten Wahl nach der Bundestagswahl, gewann sie freilich 13,9 Prozentpunkte hinzu, in Bremen 4,9. Beide Resultate sind vornehmlich regional bedingt und lassen sich wesentlich auf die Spitzenpolitiker der SPD zurückführen, Anke Rehlinger und Andreas Bovenschulte. Bei den anderen vier Landtagswahlen in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Berlin büßte die Partei jeweils Stimmen zwischen 3,0 und 5,5 Prozentpunkte ein. In Niedersachsen stellt sie mit Stephan Weil gleichwohl weiterhin den Ministerpräsidenten, diesmal sogar in einer Koalition mit den Grünen.

Besonders schmerzlich ist für die SPD der Ausgang der Wiederholungswahl in Berlin gewesen. Franziska Giffey musste das Amt der „Regierenden“ aufgeben. Die Wahlen in Bayern wie in Hessen am 8. Oktober verheißen für die Partei nach den Umfragen nichts Gutes. Sie könnte, wie bereits 2018, in Bayern nur auf dem fünften Platz landen, in Hessen lediglich knapp vor der AfD. Und enden die drei Wahlen 2024 in den neuen Bundesländern Brandenburg, Sachsen, Thüringen für die Partei in einem Desaster?

Obwohl die SPD in sieben Ländern den Regierungschef stellt (Dietmar Woidke in Brandenburg seit 2013; Andreas Bovenschulte in Bremen seit 2019; Peter Tschentscher in Hamburg seit 2018; Manuela Schwesig in Mecklenburg-Vorpommern seit 2017; Stephan Weil in Niedersachsen seit 2013; Marie-Luise Dreyer in Rheinland-Pfalz seit 2013; Anke Rehlinger seit 2022 im Saarland), sieht es für sie auf Länderebene nicht gut aus.

In vier Bundesländern (Bayern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen) fielen die Ergebnisse letztens einstellig aus. In Nordrhein-Westfalen, dem größten Bundesland, hatte die SPD 2022 so schlecht abgeschnitten wie nie zuvor. Dort geht es chaotisch zu und Machtkämpfe toben. Kann das neue Spitzentandem Sarah Philipp und Achim Post für Ruhe sorgen?

Keine guten Perspektiven

Gegen die bislang geschlossen agierende Partei spricht: Unabhängig von der politisch gewollten Fortsetzung der „Fortschrittskoalition“ ist die starke AfD ein Problem. Da sie für eine Regierungsbildung ausscheidet, ist eine Weiterführung der bisherigen Koalition im Bund arithmetisch kaum möglich. Die drei Parteien kommen zusammen auf nicht mehr als 40 Prozent (2021: 52,0 Prozent).

Die stärkste Kraft dürfte mithin den nächsten Bundeskanzler stellen. Nach menschlichem Ermessen wird dies eine Persönlichkeit aus den Reihen der Union sein, unabhängig von der Koalitionskonstellation.

Vielleicht wäre dies ein weiterer kluger personeller Schachzug: Scholz, bei der Bundestagswahl 2025 67 Jahre alt, verzichtet auf eine zweite Kanzlerkandidatur und macht für den – nur unwesentlich jüngeren – Verteidigungsminister Boris Pistorius Platz. Der bei Umfragen beliebteste Politiker, der zehn Jahre lang als niedersächsischer Innenminister amtierte, vertritt im Kern keine anderen politischen Positionen. Seine Führungskraft und kommunikativen Fähigkeiten sind jedoch deutlich besser, und das alles ohne Besserwissertum.

Mit Pistorius als Zugpferd könnten sich die Chancen der SPD erhöhen. Viele Wähler legen heutzutage mehr Wert auf die Person als auf die Parteiidentität. Doch ist es sicher, dass ein Wechsel an der Spitze zum ersten Platz führt? Unabhängig davon: Es spricht wenig dafür, dass der loyale Pistorius am Stuhl seines Chefs sägt und dass Scholz es Angela Merkel gleichtut. Er möchte wie seine Vorgänger Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder vielmehr eine zweite Wahl gewinnen. Denn Macht ist eine große Versuchung.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 144 – Thema: Interview mit Can Dündar. Das Heft können Sie hier bestellen.