Verlieben, verloren, vergessen, verzeih’n

Politik

Politische Organisationen haben oft einen familiären Charakter. An der Basis – in den örtlichen Zusammenhängen also – haben Politiker nicht bloß ein instrumentelles Verhältnis zueinander. Gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen schweißen zusammen – im Kampf gegen den politischen Gegner oder im Werben um Mehrheiten. Private Freundschaften und sogar verwandtschaftliche Beziehungen zwischen den Akteuren haben sich oft über Jahrzehnte entwickelt. Die Steigerungsform „Feind-Todfeind-Parteifreund“ wird oft und auch zu Recht verwendet. Doch das gegenteilige Verständnis existiert ebenfalls.

CDU-Politiker sehen die Union als eine „Familie“. Sozialdemokraten erinnern an die 160 Jahre, in denen ihre Partei sich für die Interessen der Arbeitnehmerschaft einsetzte und für ein demokratisches Deutschland kämpfte. Helmut Kohl (CDU) wollte die Union nicht verlassen. Selbst als deren Führung sich wegen seiner Parteispendenaffäre von ihm distanzierte, blieb er. Gerhard Schröder blieb der SPD treu, obwohl sich die SPD-Spitze und viele Untergliederungen wegen seiner Freundschaft zu Putin von ihm abwandten und Ausschlussverfahren einleiteten. Die Ehrung für 60 Jahre Mitgliedschaft nahm er an. Die beiden Ex-Kanzler wollten ihre Parteispitzen mit dem Verbleiben nicht bloß drangsalieren. Der eine sah sich weiterhin als Christdemokrat, der andere als Sozialdemokrat. Sogar Sahra Wagenknecht bekundete in einer der Jahresrückblicksendungen im Fernsehen, der Austritt aus der Linkspartei sei ihr schwergefallen. Vieles habe sie mit früheren Parteigenossen verbunden. Freunde habe sie verlassen. Politische Glücksritter freilich gibt es auch.

Einer der ersten prominenten Parteiwechsler war Gustav Heinemann. Nach dem Krieg zählte er zu den Mitgründern der CDU. 1949 war er unter Konrad Adenauer der erste Bundesinnenminister. Schon 1950 legte er sein Amt nieder und trat aus der CDU aus. Er lehnte das Ansinnen Adenauers ab, die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik anzustreben. Mit Vertrauten gründete er eine Organisation namens Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP). Doch die GVP hatte bei Wahlen keinen Erfolg. 1957 wechselten viele ihrer Mitglieder zur SPD. Manche kamen später in herausragende Ämter – Johannes Rau und Erhard Eppler etwa. Heinemann wurde 1969 mit den Stimmen von SPD und FDP zum Bundespräsidenten gewählt – eine besondere Provokation für die Unionsparteien.

Auch andere vormalige CDU-Mitglieder waren bei der Gründung neuer Parteien dabei. Zu nennen ist Herbert Gruhl. Für die CDU saß er in den 1970er Jahren im Bundestag. Er kümmerte sich um Umweltpolitik und schrieb einen Bestseller: „Ein Planet wird geplündert“. Nachdem ihm die umweltpolitische Zuständigkeit in der Unionsfraktion entzogen wurde, verließ er Partei und Fraktion und gründete eine neue Partei, die „Grüne Aktion Zukunft“ (GAZ). 1980 ging die GAZ in der neuen Partei „Die Grünen“ auf. Gruhl konnte jedoch nicht in die Führung der Grünen aufsteigen. Er verließ auch diese Partei und gründete die „Ökologisch Demokratische Partei“ (ÖDP). In der CDU wurde sein Austritt als Verlust betrachtet. Umweltpolitische Glaubwürdigkeit sei verloren gegangen. Für die Grünen aber war Gruhl am Anfang wichtig – als bürgerlich-wertkonservatives Aushängeschild.

Von Roten und Grünen

Größer war die Zahl ehemaliger Sozialdemokraten, die bei der Gründung der Grünen mitwirkten. Petra Kelly war eine der prominenten Gründerinnen. Wegen der Umwelt-, Kernenergie- und Verteidigungspolitik von Bundeskanzler Helmut Schmidt hatten sie und viele andere die SPD verlassen. Die damaligen Auseinandersetzungen spiegeln sich noch heute auf verpuppte Weise in den rot-grünen Streitigkeiten wider. Die Geschichte der Grünen war begleitet von einer Fülle von Austritten. Gruhl und nationalkonservative Gründungsmitglieder waren die Ersten. Ende der 1980er Jahre, auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen zwischen „Realos“ und „Fundamentalisten“, verließen weitere prominente Mitglieder die Partei, darunter auch Gründungsmitglieder. Otto Schily fühlte sich in der Grünen-Bundestagsfraktion an den Rand gedrängt – politisch wie persönlich. Er verließ die Grünen und trat der SPD bei. 1998 wurde er Bundesinnenminister im Kabinett Gerhard Schröders. Die Prognose mancher Grüner „Wenn Otto Schily geht, geht er nicht allein“ bewahrheitete sich freilich nicht. Schilys Wechsel blieb ein Einzelfall.

Wenig später, Anfang der 1990er Jahre, verließen maßgebliche Vertreter des linken-fundamentalistischen Flügels die Grünen: Jutta Ditfurth und Manfred Zieran in Frankfurt, Thomas Ebermann, Rainer Trampert und Jürgen Reents in Hamburg. Sie empfanden die Grünen zunehmend als zu bürgerlich und angepasst. Sie blieben politisch aktiv – jedoch ohne großen Erfolg und Einfluss. Ditfurth sitzt heute als Vertreterin einer Kleingruppe im Frankfurter Stadtparlament. Ebermann und Trampert betätigen sich als Schriftsteller und Kabarettisten. Reents wechselte ins Milieu der SED-Nachfolgeorganisationen. Für die Grünen hatten diese Austritte eine letztlich positive Wirkung. Die selbstzerstörerischen Flügelkämpfe „Fundis gegen Realos“ waren weitgehend beendet. Das ebnete den Weg zur rot-grünen Regierungsbeteiligung 1998.

Mehr noch als bei den Grünen ist die Geschichte der FDP von Aus- und Übertritten geprägt. Parteiinterne Querelen führten dazu, dass 1956 FDP-Bundesminister die Partei („Ministerflügel“ genannt) verließen, eine Splitterorganisation gründeten und schließlich bei der CDU landeten. In den Anfangsjahren der sozialliberalen Koalition kam es zu einem weiteren Aderlass. Erich Mende, vormaliger Parteichef, und andere nationalliberale FDP-Abgeordnete, die mit der Ostpolitik von Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) und Außenminister Walter Scheel (FDP) haderten, wechselten zur CDU/CSU-Fraktion. Ihre politischen Karrieren endeten bald darauf. 1982 beendete die FDP unter Hans-Dietrich Genscher die Koalition mit der SPD, ging ein Bündnis mit den Unionsparteien ein und wählte Helmut Kohl zum Bundeskanzler. Bedeutende Vertreter des sozialliberalen Flügels verließen die FDP. Günter Verheugen, bis dato FDP-Generalsekretär, und die Finanzpolitikerin Ingrid Matthäus-Maier traten der SPD bei und machten dort Karriere. Weniger bekannte Ausreißer versuchten sich – freilich erfolglos – als Gründer einer neuen Partei namens „Liberale Demokraten“. Der sozialliberale Flügel der FDP war parteiintern auf Dauer keine Kraft mehr.

Bundeskanzler als Geburtshelfer

Fast zu Konstanten deutscher Politik gehört es, dass Bundeskanzler mit ihrer Politik unfreiwillig das Aufkommen und die Stärkung anderer Parteien beförderten. Die Grünen entstanden maßgeblich durch die Politik Helmut Schmidts. Gerhard Schröders sozialpolitisches Reformprojekt „Agenda 2010“ löste parteiintern und bei den Gewerkschaften heftige Proteste aus. In deren Folge entstand im Gebiet der alten Bundesrepublik die „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ (WASG), die sich mit der SED-Nachfolgeorganisation PDS zur Partei „Die Linke“ zusammentat.

Oskar Lafontaine, ehedem SPD-Chef und Schröders Finanzminister, schloss sich der neuen Partei an und wurde auch dort Parteivorsitzender. Die neue Konkurrenz der SPD trug dazu bei, dass Schröder die Bundestagswahl 2005 knapp verlor und die rot-grüne Zeit endete. Der Verlauf der Wahlen in diesem Jahr wird zeigen, was aus der Linkspartei nach dem Austritt Lafontaines wird. Welcher Erfolg dem „Bündnis Sahra Wagenknecht – für Vernunft und Gerechtigkeit“ beschieden sein wird, steht ebenso in den Sternen. Bemerkenswert ist, wie viele Mitglieder der Linkspartei Wagenknecht folgten und dass mit Thomas Geisel ein ehemaliges SPD-Mitglied dabei ist. Geisel suchte neue Aufgaben. Nun hat der frühere Oberbürgermeister von Düsseldorf Aussichten, ins Europaparlament zu kommen.

Am Ende steht meist ein Abstieg

Angela Merkels parteipolitische Hinterlassenschaft ist die AfD. Merkel und ihre Anhänger in der CDU legten keinen Wert auf den Zuspruch des rechten Partei­flügels, der sich im „Berliner Kreis“ organisierte. In der Flüchtlings- und Euro-Finanzpolitik sah die CDU-Spitze keine Alternative zum Kurs der Bundeskanzlerin. Ein Gespräch zwischen Vertretern des „Berliner Kreises“ und dem damaligen CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe endete politisch ergebnislos und persönlich im Streit. Konservative CDU-Mitglieder beteiligten sich bald an der Gründung der „Alternative für Deutschland“ – darunter Alexander Gauland, langjähriger hessischer CDU-Funktionär. Anfang des Jahres folgten weitere Abspaltungen: Die einst CDU-nahe Werteunion möchte ebenfalls eine Partei werden.

In der Regel muss viel zusammenkommen, bis Mitglieder ihre Partei verlassen. Politische Differenzen stehen meist im Mittelpunkt. Sei es, dass die Mehrheit der Partei einen Kurswechsel vollzog (zum Beispiel bei Kernkraft, Wehrpflicht, Sozialpolitik, Waffenexporten), sei es, dass einzelne Mitglieder ihre politischen Ansichten änderten oder sich an den Rand gedrängt sahen. Und: Je prominenter ein Fall ist, umso mehr spielen öffentlich und in den Medien ausgetragene Auseinandersetzungen eine Rolle. Irgendwann ist ein Fass übergelaufen – auch bei einstigen Führungspolitikern und sogar Bundesministern. Beispiele sind Oskar Lafontaine, aber auch Wolfgang Clement (SPD) und Jürgen Möllemann (FDP). Meist endet es mit einem Abstieg.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 146 – Thema: Plötzlich Opposition. Das Heft können Sie hier bestellen.