Im Vorfeld der Wahlen am 8. Oktober in den Flächenländern Bayern und Hessen, mitten in der Legislaturperiode der Bundestagswahl, wurde in dieser politisch bewegten Zeit – geprägt von Migrationsdruck, dem Krieg gegen die Ukraine, der Klimakrise – mit Verlusten für die Berliner Regierungsparteien gerechnet. Die Umfragen verhießen für die Rechtsaußenpartei AfD einen Höhenflug und für Die Linke vom anderen politischen Spektrum einen schweren Absturz. Fast jeder vierte Bundesbürger war zur Teilnahme an dieser „kleinen Bundestagswahl“ aufgerufen.
Die Demoskopen prophezeiten den drei Regierungsparteien also Unheil – und sollten Recht behalten. Auch die Postkommunisten litten wie prognostiziert. Die AfD legte dagegen deutlich zu, ebenso wie – besonders in Bayern – die Partei der Freien Wähler. Die Unionskräfte behaupteten erwartungsgemäß den ersten Platz – mit starken Gewinnen für die CDU und leichten Verlusten für die CSU. Die Schwesterparteien hatten ganz unterschiedliche Akzente gesetzt. Bayerns Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder meldet sich gern kritisch zur Bundespolitik. Er schloss eine Regierung mit den Grünen durch seine „Negative-Campaigning-Strategie“ kategorisch aus. Sein hessischer Amtskollege Boris Rhein (CDU) hob dagegen die gute Zusammenarbeit mit den Grünen hervor (dass er sich nach der Wahl für ein Bündnis mit den Sozialdemokraten entscheiden sollte, war nach seinem Wahlkampf kaum abzusehen). Der Amtsbonus beider Regierungschefs nutzte ihren Parteien.
Im Gegensatz dazu spürten SPD, Grüne und Liberale auch in den Ländern den heftigen Gegenwind, der ihnen in Berlin entgegenschlägt. Die Migrationsproblematik, die stotternde Energiewende mit dem Hin und Her rund um das Heizungsgesetz, die hohe Inflationsquote – die Mehrheit der Bürger ist höchst unzufrieden und machte das an den Wahlurnen deutlich. Die Kritik gilt nicht nur der mängelbehafteten Kommunikation der Regierung, sondern ebenso dem als führungsschwach wahrgenommenen Kanzler.
Verluste für die Berliner Regierungsparteien
Die Kanzlerpartei SPD brach geradezu ein. Das lag weniger an landespolitischen Themen, die im Wahlkampf ohnehin kaum eine Rolle spielten. Die Gründe sind bundespolitisch – aber auch personell bedingt. Der SPD-Spitzenkandidat in Bayern, Florian von Brunn, blieb im Wahlkampf ein „Nobody“, ebenso wie der Grüne Frontmann Ludwig Hartmann. Die Frau im grünen Spitzenduo, Katharina Schulze, ist im Freistaat bekannter, aber nicht besonders beliebt.
Die SPD-Spitzenkandidatin in Hessen, Nancy Faeser, hatte keine Probleme mit ihrer Bekanntheit. Dafür litt der Wahlkampf der Bundesinnenministerin unter den bundes- und landespolitischen Blößen, die ihr zugeschrieben werden. Die Grünen hatten mit Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir einen respektablen und beliebten Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten. Das eigensinnige Vorpreschen in der Energiepolitik schadete den Grünen und ihrer Glaubwürdigkeit in Bayern und Hessen allerdings massiv. Einige Wählergruppen erkoren sie nachgerade zu einem Feindbild, nicht ohne Zutun der Kampagnenstrategie des politischen Gegners. Die „Letzte Generation“ erwies den Grünen mit ihren illegalen Klebeaktivitäten ohnehin einen Bärendienst.
Die FDP geriet in eine Zwickmühle: Im Bund unterstützte sie teilweise schweren Herzens bestimmte Entscheidungen. In den beiden Ländern schlüpfte sie dagegen in die Oppositionsrolle, obwohl sie die dortige Regierungspolitik eigentlich hätte mittragen können. Zum sechsten und siebten Mal in Folge verzeichneten die Liberalen Stimmeneinbußen. Olaf Scholz hat wohl aufgeatmet, als der FDP knapp der Einzug ins hessische Landesparlament gelang. Andernfalls wäre ihm eine widerborstige FDP nicht erspart geblieben. Dennoch streben die Liberalen jetzt eine stärkere Erkennbarkeit an und suchen sich zu profilieren.
Die Partei Die Linke verlor dramatisch, zum elften und zwölften Mal in Folge seit den Wahlen in Sachsen-Anhalt im Juni 2021. Sie büßte etwa die Hälfte ihrer Stimmen ein. So miserabel wie in Bayern hatte sie zuletzt 2005 bei der nordrhein-westfälischen Landtagswahl abgeschnitten. Damit ist sie in keinem westdeutschen Flächenstaat mehr parlamentarisch vertreten. Obwohl sie 15 Jahre lang ununterbrochen im hessischen Landtag saß, fehlte der Partei mit Janine Wissler ihre prominenteste Figur im Land: Sie ist seit 2021 in Berlin als Bundesvorsitzende.
Die Protesthaltung vieler Wähler nützte teilweise der Union als Opposition im System, aber mehr noch der Opposition zum System: der AfD. Die positioniert sich als einzige Kraft gegen „die da oben“ in vielen Fragen und erzielte Zuwächse von jeweils 40 Prozent. Damit übertraf sie alle drei Berliner Regierungsparteien, und das in westdeutschen Bundesländern. Die Erfolge der AfD sind schwerlich ihrer Landespolitik zuzuschreiben.
Sie punktete ausschließlich mit ihrem Populismus. Die Freien Wähler triumphierten dagegen in ihrem Stammland Bayern. Dort stichelten sie gegen die CSU, ihren großen Koalitionspartner, und mehr noch gegen die Bundespolitik. Auch sie konnten damit vom Verdruss mit den Etablierten profitieren.
Wie geht es weiter?
Nach den Wahlen ist vor den Wahlen: Von den Europawahlen am 9. Juni einmal abgesehen, sind bei den drei Landtagswahlen im September 2024 in Brandenburg, Sachsen und Thüringen schwierige Regierungsbildungen zu erwarten. Das liegt vor allem an der Stärke der AfD, die – vorsichtig formuliert – als koalitionsunfähig gilt. Bei der nächsten Bundestagswahl 2025 könnten sich dann zwei weitere Parteien realistische Hoffnungen auf den Einzug in das Bundesparlament machen: die Freien Wähler, ermuntert durch ihr Spitzenergebnis im bayerischen Freistaat, und die neue politische Kraft um Sahra Wagenknecht. Es verwundert nicht, dass Wagenknecht bald nach den Landtagswahlen mit neun anderen Abgeordneten ihre Links-Fraktion im Bundestag verließ. Für Anfang 2024 verkündete sie die Gründung einer neuen Partei.
Das Gründungsmanifest vom „Bündnis Sahra Wagenknecht“ stellt drei Grundsätze in den Vordergrund: wirtschaftliche Vernunft, soziale Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit. Ihr Bündnis entzieht sich (noch) einer herkömmlichen politischen Einordnung. Auf der einen Seite wird soziale Ungerechtigkeit angeprangert, auf der anderen Seite „Konformitätsdruck und die zunehmende Verengung des Meinungsspektrums“. Unabhängig davon, ob eine solche Kraft nicht nur im Osten, sondern auch im Westen auf Zustimmung stößt: Das Parteiensystem der Bundesrepublik ist 75 Jahre nach der Gründung auf dem Weg, fragmentierter und polarisierter zu werden.
Die Folgen der beiden Landtagswahlen für den Bund sind schwer einzuschätzen. Fragen überlagern Antworten: Unterlässt die Bundesregierung ihre unsäglichen Streitereien? Warum sind ihre bisherigen Leistungen (etwa beim Mindestlohn und beim Bürgergeld) nicht durchgeschlagen? Ringt sich die Union zu einem einheitlichen Kurs gegenüber den Grünen durch? Können die etablierten Kräfte die AfD entzaubern? Oder gelingt das einer Wagenknecht-Partei? Sorgt eine bessere Migrationspolitik für weniger Unmut bei der Bevölkerung, wenn sie dazu noch auf einem Kompromiss mit der Union und den Ländern fußt? Gerade durch den Überfall der Hamas auf Israel zeichnet sich hier ein grundsätzlicher Wandel ab. Die etablierten Kräfte sind ohnehin im Zugzwang – die Berliner Regierung dürfte aber bestehen bleiben und nicht auseinanderbrechen. Keine der drei Parteien hat daran ein Interesse: Es fehlen überzeugende Alternativen.
Sind die Wahlschlappen der Regierungsparteien ein Präjudiz für die Bundestagswahl? Wer das denkt, muss wissen: In der Mitte einer Legislaturperiode kommt meist ein „anti-gouvernementaler Effekt“ zum Tragen. Heißt: Bürger verpassen der Regierung einen Denkzettel. Die Parteiidentifikation hat nachgelassen, die Volatilität zugenommen. Stimmungen schlagen sich schneller in Stimmen nieder als früher. Der personelle Faktor beeinflusst den Wahlausgang immer mehr. Wer überzeugt, wer wird als glaubwürdig wahrgenommen, wer baut Brücken zur Konkurrenz, wem schreibt das Elektorat Kompetenz zu?
Die Union kann sich ihrer guten Umfragewerte nicht übermäßig erfreuen. Lediglich 40 Prozent der Wähler glauben, sie würden die Regierungsarbeit besser machen. Trotzdem spricht vieles für einen ersten Platz der Union – sie liegt weit vorne. Mit Friedrich Merz, Markus Söder und Hendrik Wüst stehen drei Personen bereit, um als Kanzlerkandidat für die Unionsparteien ins Rennen zu gehen. Merz und Söder sind entschiedene Gegner der Grünen, Wüst kooperiert gut mit ihnen. Die Gretchenfrage an die Union dürfte – zumal nach diesen beiden Wahlen – frei nach Goethe lauten: „Nun sag, wie hast du’s mit den Grünen?“
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 145 – Thema: Halbzeit. Das Heft können Sie hier bestellen.