Wie Parteien ihre Parteitage inszenieren

Politik

Rosa Luxemburg und Clara Zetkin betreten im Jahr 1910 Arm in Arm den SPD-Parteitag in Mannheim. Ein berühmtes Schwarz-Weiß-Foto hält diesen Moment fest: Zetkin blickt in die Kamera, während Luxemburg mit Strohhut und kariertem Rock neben Männern in dunklen Anzügen hervorsticht. Obwohl sie selbst noch nicht wählen dürfen, sind die beiden Frauen bereits wichtige Stimmen der Sozialdemokratie. Luxemburg insbesondere hat auf Parteitagen schon mehrere, teils umstrittene Reden gehalten. Ein Beispiel ist ihre Rede in Jena im September 1906, in der sie, entgegen der Mehrheitsmeinung in der SPD, klar für Massenstreiks argumentierte und den Parteivorstand für seine Hinterzimmer-Abmachungen „in stiller Kammer“ kritisierte.

Die Meinungsbildung innerhalb der Partei und die Kritik an der Parteiführung sind feste Bestandteile von Parteitagen. Früher fanden die Reden der Delegierten ohne Öffentlichkeit statt. Heute planen die Parteien Parteitage minutiös als Inszenierungen für die Öffentlichkeit: Zeitungen und Rundfunk berichten mit vielen Korrespondentinnen vor Ort, und über Debatten wird teilweise live auf Social-Media-Plattformen berichtet.

Die Parteien versuchen deshalb, die Tage in ihrem Sinne zu arrangieren. Wie sie das tun, legen sie weitgehend in ihren Satzungen fest. Bei SPD und FDP sind etwa 600 Delegierte anwesend, bei den Grünen mehr als 800 und bei der CDU sogar um die 1000. Das Parteiengesetz macht keine genauen Vorgaben, bestimmt aber, dass die Parteitage das oberste Organ sind. „Das heißt, die Delegierten könnten theoretisch den kompletten Kurs der Partei und insbesondere der Parteiführung kippen“, sagt Philipp Richter, Politikwissenschaftler und Experte für Parteitage an der NRW School of Governance. Deshalb ist die Organisation und Steuerung der Debatten und Entscheidungen für die Regie des Parteitags so bedeutend.

So organisieren sie nicht nur die Wahl des Parteivorsitzenden oder Wahlkampfentscheidungen, sondern verwenden große Mühe darauf, Stimmung und Bilder des Parteitags möglichst zu ihrem Vorteil zu beeinflussen. „Diese Inszenierungsfunktion hat seit den 70ern und nochmals in den 2000ern stark zugenommen“, sagt der Experte.

SPD: Zusammenstehen in der Krise

Viele Parteitage verfügen über eigene Websites. Besucht man beispielsweise eine Webseite des SPD-Treffens vom vergangenen Dezember, startet sofort ein Video von knapp zwei Minuten Länge. Es zeigt applaudierende Gäste und Politiker, die sich gegenseitig in den Armen liegen. Dabei stand Olaf Scholz vor dem Parteitag ziemlich unter Druck: schlechte Umfragewerte, eine ungelöste Haushaltskrise und ständige Streitigkeiten innerhalb der Ampel-Regierung. Kritik kam auch aus den eigenen Reihen. Trotzdem sorgte die Partei, mit Generalsekretär Kevin Kühnert an der Spitze, für genügend euphorische Bilder. Sie verließ sich dabei nicht nur auf das Charisma ihres Kanzlers. „Es gab eine Anweisung, während seiner Rede nicht auf Handys oder Tablets zu schauen“, sagt Richter. „Details wie diese beeinflussen das Bild des Parteitags und damit den parteipolitischen Nutzen“, erklärt der Politikwissenschaftler.

Das Ziel ist offensichtlich: Die SPD präsentiert sich geschlossen und steht hinter Olaf Scholz. „Bilder der Einheit sind für Parteien ganz besonders in schweren Zeiten wichtig“, erklärt Richter. Nach innen sollen sie das Gemeinschaftsgefühl stärken und den Mitgliedern vermitteln, einer wirkungsvollen Organisation anzugehören. Nach außen hin möchte man den Eindruck einer Partei vermeiden, die sich in Streitigkeiten zerreibt oder die falsche Parteiführung unterstützt. Entsprechend zeigt das Rückblick-Video auf der SPD-Website nichts von der Kritik, die vor Ort durchaus am Kanzler geübt wurde. Mareike Engel, die Vorsitzende des Juso-Vorstands Sachsen, sprach etwa von den sehr schlechten Umfragewerten im Osten und gab Scholz eine Mitschuld daran, dass die SPD dort unter die Fünf-Prozent-Hürde rutschen könnte. Sie erntete für diese Kritik allerdings Pfiffe. Dieser Moment zeigte die Geschlossenheit der Partei, schaffte es aber nicht in den Imagefilm. Eine 24-Jährige auszubuhen sieht nicht so gut aus.

Bündnis 90/Die Grünen: Misstrauensvotum in Verkleidung

Neben nachträglich kuratierten Bildern nutzen die Parteien weitere Kniffe, um Einfluss zu nehmen. „Wichtig sind etwa die Beschränkung der Redezeit einzelner Tagesordnungspunkte und die gezielte Organisation des Ablaufs“, sagt Richter. Das war Ende November 2023 beim Parteitag der Grünen in Karlsruhe zu beobachten. Die Parteispitzen standen vor einem ungewöhnlich langen, viertägigen Parteitag stark unter Druck. Robert Habeck und Annalena Baerbock verteidigten tapfer ihre Regierungspolitik, um sie an der Basis rückzuversichern. Beide trugen den strengeren Asylkurs, der Verfahren an EU-Außengrenzen, Rückführungen und Kürzungen von Sozialleistungen einschließt. Das Thema ist heikel und für viele in der Partei schmerzhaft. Vor allem die Grüne Jugend kritisiert die Maßnahmen scharf.

Vor dem Parteitag reichte die Parteijugend einen Dringlichkeitsantrag ein. Sie forderte darin, dass grüne Abgeordnete keine Verschärfungen des Asylrechts mittragen sollen. Die Debatte dauerte mehr als zwei Stunden. Habeck bezeichnete den Antrag als „verkleidetes Misstrauensvotum“. Er warnte vor einem Koalitionsbruch, sollten die Delegierten dafür stimmen. Am Ende stand die Partei hinter ihrer Spitze und bestätigte den Regierungskurs. Im Vorfeld war dieses Ergebnis allerdings nicht sicher gewesen. Bei den Grünen plant der Bundesvorstand die Treffen. Auf Basis der eingebrachten Anträge und der geplanten Gastreden macht er vorab einen Vorschlag für die Tagesordnung des Parteitags. Darüber wird dann zu Beginn abgestimmt.

Dass die Asylpolitik-Debatte zu einer kritischen Angelegenheit werden könnte, war dem Bundesvorstand wohl bewusst. Er setzte die Debatte nach einigem Hin und Her für Samstagabend ab 22 Uhr an. Der Parteitagsexperte Richter sieht solche Zeitpläne nicht als Zufall: „Gerade bei heiklen Themen ist es eine große Kunst, die Debatten in Balance zu halten“, sagt er. „Die Parteitage müssen ein Ventil sein, über das Delegierte Dampf ablassen können, und gleichzeitig darf die Kritik nicht so groß werden, dass der Partei ihr Treffen um die Ohren fliegt“, sagt er. Richter beobachtet auch bei der SPD, dass man schwierige Themen gerne auf den Samstagabend legt, wenn zeitgleich mit einer gemeinsamen Feier der traditionelle Parteiabend steigt. „Für Eintritt, Essen und Trinken zahlen die Delegierten rund 30 Euro und gehen nach mehr als sieben Stunden Sitzungen lieber dorthin“, erklärt Richter die Taktik. So ließe sich die ein oder andere kommunikative Panne vermeiden. Bei den Grünen ist diese Taktik nur bedingt aufgegangen. Letztlich war die Debatte hochemotional und der Saal trotz der späten Stunde gut gefüllt. Die innerparteiliche Demo­kratie hat das vermutlich gestärkt.

FDP: Mehr Lindner, weniger Diskussion

Anders sah es beim FDP-Parteitag im April des vergangenen Jahres aus: Er wirkte teils sehr glatt. Die Redner wiederholten vor allem die eigenen Positionen. Kritische Töne? Fehlanzeige. Dabei sind FDP-Parteitage laut der Deutschlandfunk-Korrespondentin Ann-Kathrin Büüsker, die die Liberalen seit Jahren beobachtet, normalerweise Hochfeste innerparteilicher Demokratie. „Auf diesem
Parteitag jedoch blieben kontroverse inhaltliche Debatten weitgehend aus“, kommentierte sie im Sender.

Dabei lief es auch für die FDP im Vorfeld des Parteitags alles andere als rund: Auf Länderebene hatte die Partei große Niederlagen einstecken müssen. An Gründen für Unzufriedenheit mit der Parteispitze hätte es also nicht gemangelt. Doch einzig in der Debatte um einen Antrag zur Nachbesserung des Heizungsgesetzes wurde teilweise emotional diskutiert. Die Delegierten blieben jedoch zahm: Sie forderten nur kleine Nachbesserungen und nahmen den Antrag mit großer Mehrheit an. Beobachter werteten das als eingepreiste Debatte – mit erwartbarem Ergebnis.

Insgesamt lässt sich sagen: Alle Regierungsparteien behielten weitgehend die Kontrolle über Ablauf und Inszenierung. Dass die Kontrolle auch einer Partei entgleiten kann, zeigte eindrücklich die AfD bei ihrem Parteitag im Juni 2022. Ein Streit zwischen dem Rechtsextremisten Björn Höcke und der Parteispitze um Alice Weidel und Tino Chrupalla bezüglich der Haltung der Partei gegenüber Russland führte zum frühzeitigen Abbruch des Treffens. Obwohl die Parteitagsregie eine wichtige regulierende Wirkung hat, „können sich immer unerwartete Dynamiken entwickeln“, sagt Richter. Das gleiche einem Kaleidoskop: Die Grundfarben und -formen sind festgelegt, doch je nachdem, wie man es dreht, ergeben sich unberechenbare Muster und Bilder.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 146 – Thema: Plötzlich Opposition. Das Heft können Sie hier bestellen.