"Die alte Geheimnis­kultur ist heute nicht mehr ­möglich"

Interview mit Michael Naumann

Wie definieren Sie Vertraulichkeit?

Vertraulichkeit bringt zum Ausdruck, dass jemand bei der Übermittlung von zumeist diskreten Nachrichten Vertrauen zu seinem Gegenüber gefasst hat. Vertraulichkeit zu wahren ist eine Verhaltensweise, eine Tugend. Sie ist aber kein Wert an sich – im Gegensatz zu Vertrauen.

Was heißt das mit Blick auf die Politik?

Gegenseitiges Vertrauen kann ein ganzes Milieu betreffen, etwa in Form von mancherlei Stillhalteabkommen zwischen Politikern und Journalisten zu Bonner Zeiten. Alle wussten bestimmte Dinge, aber niemand hat darüber geschrieben. Geheimnisse wurden gewahrt.

Und nach dem Wechsel der Bundespolitik nach Berlin?

Die alte Form der Geheimniskultur ist heute nicht mehr möglich – schon aufgrund der Größe der Hauptstadt und der stark gewachsenen Zahl von Akteuren. Politiker werden mehr durchleuchtet, denken Sie an den Rücktritt von Christian Wulff als Bundespräsident. Was früher vertraulich geblieben wäre, diente 2012 zum Errichten eines öffentlichen Prangers – und zwar mit Behauptungen statt Belegen. Das öffentliche Verhör eines Staatsoberhaupts war unsäglich, und auch das, was vor allem im Internet über das Private zu lesen war. Viele Journalisten haben damals ungenau gearbeitet und einfach aus staatsanwaltlichen Akten zitiert. Wulff wurde auch durch einen Vertrauensbruch seitens der Medien gestürzt.

Wie sieht es in anderen Bereichen unserer Gesellschaft aus?

In der deutschen Automobilwirtschaft führte eine falsche Vertraulichkeit zu einem Vertrauensverlust von größtem Ausmaß: der Missbrauch des Vertrauens von Kunden durch systematische geheime Verabredungen zur Softwaremanipulation. Übrigens waren die Manager allesamt männlich, Frauen waren meines Wissens nicht daran beteiligt.

Michael Naumann war von 1998 bis 2000 erster Kulturstaatsminister der Bundesregierung. Der SPD-Spitzenkandidat zur Hamburger Bürgerschaftswahl 2008 war zudem Geschäftsführer des Rowohlt-Verlags, Herausgeber der Wochenzeitung “Die Zeit” und Chefredakteur des Magazins “Cicero”. Heute ist der 77-Jährige Geschäftsführer und Gründungsdirektor der Barenboim-Said-Akademie in Berlin. (c) Jana Legler

Und mit Blick auf die Interessenvertretung, bei der Vertraulichkeit eine besondere Rolle spielt?

Lobbyismus hat häufig einen schlechten Ruf, der meistens unberechtigt ist – denn Politiker und Beamte brauchen ja vor dem Treffen von Entscheidungen Detailwissen und Rat. Sich beraten zu lassen ist keine Schande! Aber: Lobbyismus muss transparent sein. Denn dass fast alle Beteiligten Eigeninteressen haben, ist bekannt. Und wenn diese nichts Böses darstellen, können sie doch öffentlich gemacht werden – und zwar vorher und nicht im Nachhinein. Es sollte etwa bekannt sein, wenn Gesetzes­entwürfe von Anwaltskanzleien verfasst werden. Deshalb sollte offengelegt werden, wer mit wem redet und von wem welcher Vorschlag kommt. Damit verhindert man, dass sich zu einseitige Interessen durchsetzen. Transparenz ist allerdings kein Allheilmittel per se, sondern eher ein Warnhinweis an jene, die ansonsten ihre Position missbrauchen könnten.

Wie würden Sie diese Forderung historisch herleiten?

Transparenz ist ein anderes Wort für Öffentlichkeit. Dahinter verbirgt sich der Gedanke der Aufklärung, als man den Geheimnissen der Fürstenhäuser auf die Spur kam und diese in Zeitungen veröffentlichte und in Kaffee­häusern diskutierte. Machtentscheidungen öffentlich zu machen entspricht der liberalen Grundidee, dass Entscheidungen dann am besten werden, wenn alle mitdiskutieren.

Manchmal verderben zu viele Köche den Brei …

Der Begriff der Öffentlichkeit wurde in den Sechziger- und Siebzigerjahren von Jürgen Habermas und anderen etwas übertrieben und geradezu zum Synonym für Wahrheit stilisiert.

Sie erwähnten auch die Beamten.

Sollte ein Staatsdiener an die Öffentlichkeit gehen, wenn er beispielsweise feststellt, dass Feinstaubgrenzwerte jahrelang bewusst falsch dargestellt werden? Ich sage: Ja! Aber ein guter deutscher Beamter tut das nicht – bei seinesgleichen herrscht sogar doppelte Vertraulichkeit.

Können Sie einige Methoden rund um das Thema Vertraulichkeit skizzieren?

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Vertraulichkeit zu instrumentalisieren, um die eigene Macht zu erhalten – etwa die verborgenen Schwachpunkte des anderen speichern. Auch das Verbreiten von Gerüchten dient der Steigerung von Loyalität und Gehorsam. Im Stalinismus sind perfide Methoden entwickelt worden, um Mitglieder politischer Gremien zu verunsichern und zu verhindern, dass sie dem noch Mächtigeren irgendwann ein Messer in den Rücken rammen. Und auch in anderen Systemen liegen viele Messer bereit. Weil das so ist und Vertraulichkeit immer wieder gefährdet wird, gibt es seit Jahrhunderten Geheimdienste.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 127 – Thema: Vertraulichkeit. Das Heft können Sie hier bestellen.