Das Bild der Blase des politischen Betriebs wird häufig verwendet, sei es von selbsternannten „Elite“-Kritikern oder von der schreibenden Zunft, deren Vertreter selbst das politische Parkett bevölkern. Unabhängig davon, wie viel an der Zeichnung eines Raumschiffs dran ist, das selbstreferenziell Gesetze produziert – Politiker behaupten stets das Gegenteil: Sie seien nah beim Volke, fest im Wahlkreis verankert, wüssten, wo der Schuh drückt.
So weit, so bekannt. Die Wahrheit liegt in der Mitte: Einerseits gibt es Hunderte engagierte Volksvertreter, die sich von Dialogveranstaltungen bis zu Bürgersprechstunden um die Belange der Bevölkerung kümmern. Auf der anderen Seite werden sie dabei stets in ihrer Rolle als Politiker wahrgenommen und treffen vor allem auf Menschen mit konkreten Anliegen. Viele klassische Vor-Ort-Termine sind vom Büro des Politikers vorgeplant und häufig begleitet von lokalen Honoratioren und der Regionalpresse.
Schnell noch ein Foto für die Zeitung und die Social-Media-Accounts, schon drängt der nächste Termin. Gibt es einen Weg, der Dauerschleife eng getakteter Termine gelegentlich zu entkommen, sich mehr Zeit zu nehmen und die Dinge noch ungeschminkter zu erfahren? Grünen-Chef Robert Habeck stellt seinem neuesten Buch die U2-Liedzeile „it‘s hard to listen while you preach“ voran. Seinen Anspruch bei Besuchen von Almbauern und Kneipen beschreibt er so: „Nicht ‚die da oben‘ sein, ‚die in der Blase‘ sein, sondern zuhören, offen für Gegenargumente sein, uns selbst überprüfen.“
Ungewohnte Perspektiven
Doch wie gelingt ein Blick über den eigenen weltanschaulichen Tellerrand? Die Geschichte erzählt von zahlreichen Mächtigen, die auszogen, um ihr Land und Volk hautnah kennenzulernen – manchmal sogar unerkannt: Der 1001-Nacht-Kalif Harun ar-Raschid zog das Gewand eines fremden Kaufmanns an und verließ seinen Palast durch eine geheime Tür. Der Habsburger Kaiser Joseph II. tarnte sich als Graf von Falkenstein und suchte Gasthäuser oder Poststationen auf, um Ideen für seine Reformprojekte zu sammeln. Ganz so geheim muss es nicht immer sein. Trotzdem kann es helfen, dem üblichen Terminkorsett zu entfliehen, um ungewohnte Perspektiven zu suchen.
Zwischenstopp an der Saale: Georg Milde und Paul Ziemiak in Halle. (c) Georg Milde
Gesagt, getan. CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak hat sich eine Woche lang aus seinem eingespielten Rahmen begeben. Vertreter aller Parteien können (und sollten) es ihm gleichtun. Ziemiak fuhr gemeinsam mit dem Verfasser dieses Artikels im VW Bulli drauflos – 3.167 Kilometer quer durch Stadt und Land vor Beginn der zweiten Pandemiewelle – und vor allem: ohne unterstützende Begleiter oder Fotografen an Bord. Von da an regierte der Zufall. So kamen völlig ungeplante Gespräche am Wegesrand zustande. Nicht bewusst anonym, doch oft so beiläufig, dass ein Politiker nicht mehr vor allem Politiker ist.
Mosaik von Begegnungen
In Bayern treffen wir auf einen Impfskeptiker vor seinem selbsternannten „Rebellenhof“. Der Mann von Anfang vierzig ist gegen „den ganzen Wahnsinn“, den er kommen sieht: Zwangsimpfung, Implantierung von Mikrochips beim Impfen, die wahren finanziellen Profiteure der Wirtschaftskrise. Hinter vielem sieht er Bill Gates, der immer mehr Macht wolle. Dementsprechend betrachtet er Politiker wie Merkel und Spahn als ferngesteuert. Folglich würde das auch für den Generalsekretär der CDU gelten, der aber wegen der Schutzmaske nicht erkennbar ist.
Bei unserem Besuch des von Umweltaktivisten besetzten Hambacher Forstes bei Köln treffen wir eine Frau und einen Mann, beide Mitte bis Ende zwanzig. Aktivisten, dunkle Kleidung, Dreadlocks. Sie schauen uns ungläubig an, denn wir passen aus ihrer Sicht nicht hier hin. Nach seinen Beweggründen befragt, bringt der Mann einige Thesen über das „System“, dessen Steuerung und wie der Staat durch die Corona-Maßnahmen Gewalt ausübt. Das Kapital an sich profitiert aus Sicht des Vermummten immer, die Akteure an der Spitze sind hingegen austauschbar.
Vor dem Tor der Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber in Unna kommen wir mit zwei jungen Männern ins Gespräch, beide sind Mitte zwanzig. Sie flohen aus ihrer Heimat, der eine stammt aus dem Irak und ist seit sieben Monaten in Deutschland, der andere ist aus Syrien und kam vor zwei Monaten auf deutschem Boden an. Der Iraker setzt alle Hoffnungen auf sein Wunschland – einen Weg zurück hält er für unmöglich. Seine Augen leuchten. Das ändert sich, während er über seine Angst vor der Behandlung durch manche Deutsche spricht: „Many racism.“
Besonders in Erinnerung bleiben wird uns die Bundesstraße 96 in Sachsen, wo seit den ersten Corona-Monaten jeden Sonntag ein sogenannter „Stiller Protest“ stattfindet, an dem sich Dorf für Dorf entlang der Straße Menschen auf den Bürgersteigen beteiligen. Zu sehen sind Reichsflaggen, Deutschland-, Sachsen- und Oberlausitzflaggen, Friedensfahnen sowie Parteifahnen der Alternative für Deutschland. Die Ausrichtung der Proteste hat sich verändert: Ging es zu Beginn um ein Auflehnen gegen die Corona-Maßnahmen, wird inzwischen an vielen Stellen das gesamte „System“ infrage gestellt und der Frust über dessen vermeintliche Eliten abgeladen.
Verständnis ist selten
Einige Gespräche haben wir vorab vereinbart. Nicht alles kann dem Zufall überlassen werden. „Die Demokratie wird überall müde. Sie ist zu selbstverständlich geworden“, konstatiert Herta Müller, als wir die Literaturnobelpreisträgerin in ihrer Berliner Wohnung besuchen. Sie beobachtet derzeit, wie sich viele Bürger zu wenig, zu einseitig informieren. Michael Friedmann bringt es auf den Punkt. „Demokratie ist der Sauerstoff für den Menschen“, sagt der Publizist unter der Kuppel der Frankfurter Paulskirche. Er fordert die Gesellschaft auf, die Freiheit gegen Menschenhasser und Zyniker zu verteidigen. „Wir sind die wenigen Menschen auch in der Gegenwart, die frei und in demokratischen Rechtsstaaten leben dürfen – was für ein Privileg!“ Das Verteidigen wird jedoch nicht leichter, wenn der öffentliche Diskurs an vielen Stellen immer schärfer und polarisierter wird.
Gespräch in der Münchener Sternwarte: Paul Ziemiak und der Astrophysiker Harald Lesch. (c) Georg Milde
Die Klimaaktivistin Carla Reemtsma, die wir an ihrem Studienort Münster treffen, betrachtet daher die sozialen Medien mit gemischten Gefühlen: „Nach einem Talkshow-Auftritt habe ich meinen Twitter-Account zwei Tage lang nicht mehr angeschaut – dort tauchte so ziemlich alles auf, von sexistisch bis verschwörungstheoretisch.“ Der Soziologe Armin Nassehi befasst sich mit diesen Fragen aus wissenschaftlicher Perspektive: „Heute können Sie Unternehmen mit drei Tweets in die Knie zwingen“, sagt der Professor in seinem Münchener Institutsbüro über die Wirkung von Shitstorms.
Wir besuchen zudem ein Bildungszentrum muslimischer Frauen, die Entwickler künftiger Lufttaxis, eine Gewerkschafterin und einen Mittelständler, der seinen Betrieb mit 300 Mitarbeitern zügig auf neue Produkte umstellen muss, um als Autoteilezulieferer weiterhin mithalten zu können. Am Ende sollten wir 40 solcher Begegnungen gehabt haben. Was uns unterwegs regelmäßig aufgefallen ist: Alle sprechen über ihren eigenen Mosaikstein, doch viel weniger über die Bedürfnisse anderer. Jeder betont, warum er recht hat, seltener hören wir Verständnis für abweichende Meinungen. Viele Menschen fordern Unterstützung vor allem für ihre individuellen Belange ein.
Reisen bildet
Es ist aber trotz der zahlreichen verschiedenen Mitten ein gesellschaftlicher Kompromiss der größeren Mitte notwendig, um gemeinsam eine breite Mehrheit zu bilden. Das haben Corona und die daraus resultierende Notwendigkeit, mehr Rücksicht aufeinander zu nehmen, mehr als deutlich gemacht. Damit das über die konkrete Solidarität und Nachbarschaftshilfe während der Pandemie hinaus funktioniert und zu mehr gesellschaftlichem Zusammenhalt führt, müssen wir die Lebenswelten anderer besser kennen. Wir sollten einander mehr zuhören und das Verbindende über das Trennende stellen. Das Verlassen üblicher Rahmen kann dazu beitragen.
Die Deutschlandtour hat zahlreiche Erkenntnisse gebracht. Für die politische Praxis sowie ihre Kommunikation seien diese genannt:
- Viele politische Diskussionen kranken daran, dass die jeweiligen Akteure sich schon zu Beginn überlegen, was am Ende dabei herauskommen soll. Anstatt offen inhaltlich abzuwägen, untermauern sie nur ihre eigene Position durch passende Argumente.
- Manche Experten präsentieren schon heute medienwirksame „Lösungen“ für die Zeit nach der Pandemie, obwohl die konkrete Situation nach Corona noch gar nicht absehbar ist. Weniger schnelle Festlegungen wären angebracht.
- Der Auftrag zum Überdenken und notwendigenfalls zum Umdenken kann nur von jenen erfüllt werden, die den Mut haben, bisherige Sichtweisen auf den Prüfstand zu stellen und gegebenenfalls zu korrigieren.
- Zur Wahrnehmung von Verantwortung zählt, Irrtümer einzugestehen: Noch vor wenigen Jahren sprachen sich zahlreiche Politiker für Studiengebühren oder gegen Ganztagsschulen aus. Heute hat sich die gegenteilige Meinung durchgesetzt.
- Das erzwungene Innehalten durch die Pandemie bietet den Anlass, nicht wieder vollends in das alte Lagerdenken zu verfallen, das noch aus der Zeit der Industriellen Revolution stammt.
- Im politischen Alltag bemerken wir immer wieder ein problematisches Phänomen: Die Mikrofone sind auf, aber die Köpfe sind zu. Auf unserer Reise begegnete uns mehrfach die Kritik, dass vor allem in Fernseh-Talkshows derart inflationär auf Streit zwischen den politischen Talkgästen gesetzt wird.
- Wir müssen das Debattieren neu ausrichten – und bei uns selbst anfangen. Dazu zählt der Versuch, den eigenen Abwehrreflex etwas herunterzuregeln und bei inhaltlicher Kritik an der eigenen Position nicht direkt das Gegenüber persönlich anzugreifen.
- Es ist notwendig, das Abgleiten einer Argumentation in Schwarz-Weiß-Schemata sowie in die Logik parteipolitischer Egoismen nicht leichtfertig mitzumachen. Das fällt umso schwerer, wenn die Gegenseite genau diese Praxis anwendet.
- Wer die Debattenkultur verbessern möchte, muss die Macht von Fake News begrenzen, indem insbesondere junge Menschen diese schneller als solche zu identifizieren lernen.
- Um die Dämme gegen Extremismus und Rassismus zu stärken, muss die politische Bildung hinsichtlich Demokratie, Toleranz oder Gleichberechtigung in der gesamten Bevölkerung verbessert werden.
- Politische Entscheidungen dürfen auch weniger von der Tagespolitik getrieben werden. Sie müssen stärker in das große Ganze eingebettet sein.
- Der Weckruf, als den man die Pandemie sehen kann, muss noch stärker als bisher für Veränderungen genutzt werden, die ohne den zusätzlichen Druck einer Krise nicht möglich sind.
Das Buch „Was anders bleibt. Reise durch ein herausgefordertes Land“ von Paul Ziemiak und Georg Milde, aus dem mehrere Passagen dieses Artikels stammen, ist im Verlag Herder erschienen (192 Seiten, 20 Euro, ISBN 978-3-451-38981-8).
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 135 – Thema: Was kann Spahn?. Das Heft können Sie hier bestellen.