Bei der EU-Wahl geht es darum, zu mobilisieren

Europawahl

Die Gesellschaft ist erschöpft von den Dauerkrisen der letzten Jahre und dem dauerhaften Streit. Noch nie wurden für eine Bundesregierung so niedrige Zustimmungswerte gemessen, noch nie waren die Deutschen so skeptisch, wie gut die Demokratie Probleme löst. Das Erstarken der AfD setzt die Parteien massiv unter Druck – und die Dynamik in den sozialen Medien wirkt wie ein Katalysator für die ohnehin schon dramatischen Veränderungen. Dieser Europawahlkampf dürfte sich deswegen deutlich vom vergangenen Europawahlkampf unterscheiden.

Als Second Order Elections ist die Wahlbeteiligung bei Europawahlen traditionell gering –  mit unterschiedlichen Folgen: Wählerinnen und Wähler sind bei dieser Wahl eher bereit zu wechseln, weil sie scheinbar weniger wichtig ist und die Konsequenzen weniger folgenreich erscheinen. Traditionell schneiden deswegen Oppositions- und Protestparteien bei Europawahlen besser ab. Die Ergebnisse der vergangenen Europawahl lassen sich zu Teilen also auch durch diese Ausgangslage begründen: Den Grünen gelang ihr historisch größter Erfolg, während SPD und Union ihr jeweils historisch schlechtestes Ergebnis erzielten.

Deshalb ist die Mobilisierung für alle Parteien bei der Europawahl besonders wichtig: Für Union, AfD und BSW bietet sie eine Chance, für SPD, Grüne und FDP birgt sie ein Risiko. Für die Linke könnte die Mobilisierung eine Herausforderung darstellen, da ihr die neu gegründete BSW voraussichtlich bisherige Stammwählerinnen und Stammwähler abzieht. Bei den Grünen dürfte positiv zu Buche schlagen, dass ihre Kern-Wählerschaft sich bei Europawahlen in der Regel häufiger beteiligt als die von anderen Parteien. Insgesamt ist das Risiko für ein schlechtes Ergebnis aufgrund mangelnder Mobilisierung bei der Öko-Partei also geringer als bei den anderen Regierungsparteien.

Berliner Spitzenpersonal ist nur bedingt hilfreich

Bei Bundestags- oder Landtagswahlen tragen spannende Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Spitzenkandidaten zur Mobilisierung bei. Bei Europawahlen ist diese Konstellation nicht möglich, doch könnte Ursula von der Leyen als EU-Kommissionspräsidentin und Spitzenpolitikerin mit hohen Bekanntheitswerten der CDU/CSU gerade deswegen einen Vorteil verschaffen. SPD, Grüne und FDP setzen neben den eher unbekannten Spitzenkandidaturen auch auf ihr Berliner Spitzenpersonal, das durch die schwache Performance der Ampel allerdings nur bedingt zur Mobilisierung beiträgt.

Die aktuelle allgemeine Verunsicherung und das weiter sinkende Vertrauen in demokratische Institutionen, aktuelle Probleme zu lösen, könnten die Wahlbeteiligung zusätzlich senken. Bei der vergangenen Europawahl waren 49 Prozent der Wählerinnen und Wähler drei Tage vor der Wahl noch unentschieden, wen sie wählen wollen. Dieser Trend dürfte sich bei dieser Wahl wahrscheinlich noch verstärken. In den USA gehören sogenannte „Get-out-the-Vote“-Kampagnen für die Tage unmittelbar vor der Wahl zum festen Repertoire. Dabei sollen möglichst viele Wahlberechtigte auf den letzten Metern dazu bewegt werden, ihre Stimme abzugeben. Da Europawahlen in der Öffentlichkeit weniger Aufmerksamkeit zuteilwird als Bundestagswahlen, bieten solche Kampagnen eine Chance, über Social Media und direkte Kontakte (wie E-Mails und Messenger) ein Gefühl der Dringlichkeit bei potenziellen Wählerinnen und Wählern zu erzeugen.

Klassenunterschied auf Social Media

Seit 2019, als viele durch das Rezo-Video überrascht wurden, hat sich trotz zahlreicher Ankündigungen, in Social Media zu investieren, strukturell wenig verändert. Die Parteien haben ihr Angebot auf Social Media seit der Bundestagswahl zwar professionalisiert, konnten aber nicht mit der schnellen Entwicklung auf den Plattformen Schritt halten. Sie finden kaum eine Antwort auf die diversifizierte Social-Media-Umgebung. Das liegt nicht nur daran, dass sie nur einen Teil der Plattformen bedienen, die ihre Zielgruppen nutzen, sondern auch daran, dass der veröffentlichte Inhalt selten zu den Anforderungen der Plattformen und den Vorlieben der Zielgruppen passt. Kurz vor der Wahl haben die meisten Parteien begonnen, Tiktok-Accounts und Whatsapp-Channels einzurichten – allerdings zu spät, um bei der Europawahl noch eine Wirkung zu erzielen. Youtube, eine der größten Plattformen, wird so gut wie nicht bedient; die Potenziale von Twitch, Reddit oder Snapchat werden völlig außen vorgelassen. Es gibt zaghafte Versuche, mit Influencern zu arbeiten – aber es ist bislang nicht erkennbar, dass die demokratischen Parteien Wege gefunden haben, Kooperationen strategisch zu planen und umzusetzen.

Diese Entwicklung ist deswegen so dramatisch, weil die AfD in den vergangenen Jahren massiv in den Ausbau ihrer Content-Netzwerke und Tiktok-Accounts investiert hat. Sie verzeichnet deswegen dort erhebliche Reichweiten. Die Sichtbarkeit rechtsnationaler Influencer ist kein Zufall, sondern das Ergebnis einer strategischen Aufbauarbeit.

Die Situation verschärft sich noch, da die Plattformen, in die demokratische Parteien in den letzten zehn Jahren investiert haben, politische Inhalte durch den Algorithmus seltener ausspielen und deren Verbreitung bewusst einschränken. Die Möglichkeiten, mit Media-Budgets Reichweite zu erzielen, wurden ebenfalls eingeschränkt. Das hat die Bedeutung von Influencern erhöht und macht die organische Verbreitung von Inhalten auf Tiktok noch wichtiger. Dadurch vergrößert sich der Vorsprung der AfD auf Social Media. Sie wird durch die Funktionsweise der Algorithmen ohnehin schon bevorteilt, da polarisierende Inhalte eine größere Verbreitung finden. Vor allem in Bezug auf Erst- und Jungwähler ist das heikel, da Tiktok unter ihnen immer beliebter wird.

Unterschiedliche Realitäten

Im Europawahlkampf verstärken Desinformationskampagnen, insbesondere aus Russland, die politische Dynamik mit dem Ziel, zu verunsichern und die Agenda zugunsten der AfD zu beeinflussen. Erstmals steht auch künstliche Intelligenz kostengünstig und in hoher Qualität zur Verfügung. Eine besondere Herausforderung könnten Deepfakes darstellen, die sich rasant verbreiten. Diese Technologie ist neu und bisher gibt es in den Wahlkampfzentralen keine Erfahrungen im Umgang damit. Kürzlich haben das Auswärtige Amt und die französische Regierung Bot-Netzwerke aufgedeckt, die wohl für den Einsatz bei künftigen Wahlen vorgesehen, aber noch nicht aktiv sind. Die Auswirkungen dieser Desinformationskampagnen sind ungleich verteilt. Eine Analyse des Fraunhofer Instituts mit einem Untersuchungszeitraum innerhalb der vergangenen Bundestagswahl kam zu dem Ergebnis, dass 22.288 gezählte Desinformations-Narrative mit den Grünen verbunden waren, während nur 728 Narrative die Union betrafen und 28 die SPD. Dieser Befund ist drastisch. Er macht deutlich, wie unterschiedlich stark sich die Parteien mit den Folgen der Angriffe auseinandersetzen müssen. Das verdeutlicht auch ein weiterer Befund: Vertreter der Grünen wurden im vergangenen Jahr häufiger Opfer politischer Gewalt (1.219 Mal) als Vertreter aller anderen demokratischen Parteien zusammen. Das wirkt sich auch auf die Mobilisierungsfähigkeit der eigenen Mitglieder im Wahlkampf aus. Sie haben Angst, sich Hass und sogar Gewalt aussetzen zu müssen, wenn sie am Wahlkampfstand stehen. Die Parteien haben im anstehenden Europawahlkampf also keineswegs die gleichen Ausgangsbedingungen, sondern müssen sich mit völlig unterschiedlichen Realitäten auseinandersetzen. 

Die Herausforderung, im digitalen Raum ein Gegengewicht zum rechtsextremen Einfluss der AfD zu schaffen, ist entsprechend groß. Es besteht das Risiko, dass die demokratischen Parteien Themen nicht auf dem Radar haben, die erst bei ihrem Sprung ins Analoge ihre volle Kraft entfalten. Oft ist es dann zu spät, noch wirksam Stellung zu beziehen. Insbesondere im Umfeld der sogenannten Bauernproteste hat die Union zuletzt immer wieder versucht, Themen aufzugreifen, die von rechtsextremen Netzwerken initiiert wurden, um kurzfristige Reichweitengewinne zu erzielen. Diese Gewinne an Aufmerksamkeit sind nicht nachhaltig, tragen aber zur Normalisierung der von der AfD gesetzten Spins und Themen bei.

Mehr vom Bewährten

Es spricht viel dafür, dass die AfD im Europawahlkampf über den digitalen Raum Themen prägt und die demoskopische Lage weitgehend unverändert bleibt. Eine erfolgsversprechende Strategie könnte das klassische Agenda Setting anderer Parteien sein, gepaart mit Kampagnen, die voll auf Mobilisierung abzielen. Dafür müssen sie eine Stimmung erzeugen, die hervorhebt, wie wichtig es ist, zu wählen.

Die demokratischen Parteien setzen in der Regel auf traditionelle Kampagnen und werben in erster Linie für ihre Positionen. Kampagnen, die ausschließlich die Mobilisierung zum Ziel haben, bleiben die Ausnahme. 

Und auch wenn es anachronistisch erscheint: Es könnte in diesem Wahlkampf strategisch richtig sein, den klassischen Medien und der klassischen Werbung wieder eine größere Bedeutung zukommen zu lassen. Das könnte die strategische Schwäche auf Social Media zumindest kurzfristig ausgleichen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 146 – Thema: Plötzlich Opposition. Das Heft können Sie hier bestellen.