Über den hohen Wert von Vertraulichkeit in der Politik

Essay

Durch die Straßen des Regierungsviertels ziehen die Freitagsschüler, die althergebrachte Denkweisen in der Politik aufbrechen wollen, und auf den Bildschirmen rufen Influencer ein neues Kapitel politischer Meinungsäußerung aus. Die Akteure sind jung, sie kommunizieren anders als die etablierten Protagonisten des politischen Systems. Doch neben Veränderungen in der politischen Kommunikation wie neuen Methoden der Kampagnenführung und neuen digitalen Kanälen gibt es in der Politik immer noch traditionelle Regeln und Verhaltensweisen, die es schon am mittelalterlichen Fürstenhof gab und die in den Entscheidungszirkeln künftiger Zeitalter ebenso gelten werden. Allen gläsernen Hauptstadtrepräsentanzen und Lobby­registerplänen zum Trotz leben die Akteure der Politik und ihres Umfelds in hohem Maße von Vertraulichkeit. Dabei sind zwei Arten von Vertraulichkeit zu unterscheiden.

Die zwei Dimensionen von Vertraulichkeit

Die eine bezieht sich auf diskrete Informationen über laufende oder geplante Prozesse: über den noch internen Referentenentwurf eines zu verändernden Bundesgesetzes, das Unter-drei-Gespräch zwischen einem Politiker und einem Journalisten, die streng geheime Liste potenzieller Mitglieder eines neuen Bundeskabinetts. Für dieses Wissen würden Betroffene viel geben, was nicht zuletzt zahlreiche Dienstleister in der Hauptstadt gut leben lässt. Manche Dokumente eines Behördenoffiziellen werden sprichwörtlich „in der Straßenbahn liegengelassen“ – der Finder wird nicht vom Zufall bestimmt.

Die andere Dimension ist komplexer, kaum sichtbar und in ihren Wurzeln archaisch: Vertraulichkeit zwischen politischen Akteuren, die geradezu den Kitt des Polit­betriebs darstellt. Ob Bündnisse von Parteifreunden oder diskrete Netzwerke von Interessenvertretern: Gemeinschaften oder auch nur Zweckbündnisse wachsen am besten auf der Grundlage von Vertrauen. Wer ausreichend sicher sein kann, dass sein Gegenüber die übermittelte Nachricht für sich behalten wird, sieht die Bande gestärkt – nichts verbindet mehr als ein gemeinsam gehütetes Geheimnis. Vor allem inmitten des Haifischbeckens Politik, in dem manch einer selbst Fraktionskollegen nicht seinen Rücken zuwenden mag: Schon bald könnte ein Messer darin stecken.

Diskretion ist oft nur schwer zu erlangen

Im Regierungsviertel wird unendlich viel geredet, getextet, gesendet – aber wirklich Wichtiges wird (zumeist) diskret behandelt. „Ein Putsch, der in der Zeitung steht, findet in der Regel nicht statt“, bemerkte der frühere SPD-Chef Sigmar Gabriel am Abend der Europawahl lakonisch, als er Medienberichte über einen angeblich bevorstehenden Putsch gegen seine Nachnachfolgerin kommentieren sollte. Auch wenn Andrea Nahles ihre Ämter dennoch bald aufgab: Oft liegt das Erreichen von vollendeter Diskretion bereits in der Anzahl der beteiligten Mitwisser begründet: Spricht etwa ein politischer Akteur auch nur mit mehreren engen Wegbegleitern über den Zwischenstand einer Verhandlung, ist die Gefahr groß, dass einer oder mehrere von ihnen wiederum weitere Personen zu Mitwissern machen. Daher ist das beste Prinzip der Vertraulichkeit wie eh und je das Vier-Augen-Prinzip. Nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Sommer 2017 etwa bissen sich nicht nur Journalisten, sondern auch Parteifreunde der Koalitionsverhandler Armin Laschet und Christian Lindner an den beiden die Zähne aus, da einfach nichts über den Stand der Gespräche nach außen dringen wollte.

Oft genug ist in solchen Situationen aber auch das Gegenteil zu erleben: Bevor Ideen und Namen offiziell sind, werden sie schon öffentlich zerredet. Im Haifischbecken Politik kann Vertraulichkeit nur in sehr begrenztem Maße existieren. Bestes Beispiel dafür waren die Jamaika-Verhandlungen auf Bundesebene Ende 2017, bei denen von Twitter-Nachrichten zur aktuellen Stimmungslage der Unterhändler bis zu Videobotschaften zu den Zwischen­ergebnissen so ziemlich alles an Indiskretionen zu finden war. Die sonst üblichen SMS von Gremienmitgliedern an Journalisten mit durchgestochenen Informationen wirkten dagegen fast schon rückständig. Angesichts solcher Erfahrungen gewinnt „Kommunikationshygiene“ in dem Maße an Wert, wie Diskretion immer schwieriger zu gewährleisten ist. 

Vertraulichkeit und ebenso ihr Gegenteil lassen sich naturgemäß nicht wissenschaftlich nachweisen, doch im politischen Alltag finden sich mancherlei Mosaikstücke dazu.

Worte, die Nähe schaffen sollen: Je häufiger Formulierungen wie „unter uns“ und „ganz offen“ in Gesprächen verwendet werden, umso mehr soll der Gesprächspartner in der Regel durch dieses informelle Geschenk beeindruckt werden. Gelingt nicht immer – zumal die Betonung häufig sogar das Gegenteil kaschieren soll.

Messenger-Variationen: Vom Klassenchat bis zur Abgeordnetengruppe: Neben einer Whatsapp-Gruppe existieren weitere, in die jeweils eines oder mehrere Mitglieder nicht eingeladen wurden. Hier wird das kommuniziert, was man den Ausgeschlossenen nicht anvertrauen möchte. Oder was man ihnen aus bestimmten Gründen vorenthalten will – wie schon einst auf dem Schulhof in der Raucherecke.

Loyalität stärken: Wer eine andere Person still und heimlich bei einer interessanten Telefonkonferenz oder anderen Telefonaten mithören lässt, beweist ihr gegenüber Vertrauen und stärkt die Verbundenheit. Nicht die feine englische Art gegenüber den Unwissenden, aber dennoch eine häufig praktizierte Methode.

Misstrauen säen: Je größer das Misstrauen zwischen anderen, umso enger kann deren Nähe zu einem selbst werden. Fiktiver Klassiker: „Müller hat übrigens schlecht über dich geredet. Lass dir gleich aber nichts anmerken.“ Der Empfänger wird dem Absender in der Regel dankbar für diese Information sein und Müller von diesem Zeitpunkt an weniger nah an sich heranlassen. Sehr effektive Methode.

Abstand wahren: Gute Kunden einschlägiger Restaurants der politischen Szene erhalten den diskreten Einzeltisch in der Ecke oder gleich einen weiteren leeren Tisch nebenan, damit der notwendige Schutz vor Mithörern gegeben ist.

Eitelkeiten nutzen: Mancher Mächtige nutzt Personen als Seismographen und Informationsquellen, indem er mit ihrer Eitelkeit spielt. Eine freundliche SMS vom Spitzenpolitiker persönlich kann Wunder bewirken. Schon entsteht ein häufig einseitiges Vertrauensverhältnis, in dem der „Lieferant“ nicht weiß, dass er nur eine von sehr vielen Quellen ist.

Spuren verwischen: Vom Pressesprecher bis zum Mitarbeiter einer diskreten Sicherheitsbehörde: Manche Einladenden erhalten von ihrem Arbeitgeber die Erlaubnis, nach sehr vertraulichen Essensterminen mit Dritten den Restaurantnamen auf der Rechnung abzuschneiden, bevor sie diese zur Erstattung einreichen. Schlecht fürs Finanzamt, gut für den Informantenschutz.

Pseudovertrauliches: An wichtigen Wahltagen schwirren mehrere Stunden vor Schließung der Wahl­lokale die ersten Ergebnisse der Exit Polls durch die Whatsapp-Welt. Wirklich vertraulich sind die Werte schon lange nicht mehr – und manchmal sogar schlichtweg konstruiert, um gute Verdrahtung vorzugeben.

Halbprivate Zirkel: Ob Kungelkreis, der sich regelmäßig an einem zurückgezogenen Ort trifft und gemeinsame Pläne ausheckt, oder Berliner Wohnzimmer-Runde mit interessanten Netzwerkern von Medienschaffenden bis Spitzendiplomaten: Das Wissen um das gemeinsame vertrauliche Handeln verbindet und verbündet – denn alle Beteiligten wissen, dass sie profitieren.

Obacht, Indiskretion: Fahrbereitschafts-Chauffeure, Personenschützer und andere Berufsgruppen bekommen viel mehr vertrauliche Gesprächsinhalte mit als Politiker vermuten – und so spricht sich nach und nach herum, wer auf der Rücksitzbank verhandelt, taktiert oder zetert.

Nützliche Netzwerke: Nachwuchsprogramme von Atlantik-Brücke, American Council on Germany und Co. bieten einen Nährboden für lebenslange Vertrautheit, die bei regelmäßigem Wiedersehen das zarte Pflänzlein Vertraulichkeit gedeihen lässt. Und alle Insider haben einen Vorteil – Außenstehende hingegen nicht.

Ergänzung der Visitenkarte: „Ich schreibe Ihnen noch meine Mobilnummer dazu“ – eine häufig praktizierte Art, um auch als Spitzenakteur an Vorzimmern und Referenten vorbei ungefiltertes Wissen nützlicher Informationslieferanten zu erhalten. Diese freuen sich zugleich über den Vertrauensbeweis.

Wochenendeinladungen: Abendessen im kleinen Kreis auf Sylt, Jagdeinladung in das Privatrevier des Konzernchefs: Fernab des Hauptstadttrubels lassen sich im kleinen Kreis engere Bande knüpfen. Neben entspannter Atmosphäre hat dies zudem den Vorteil (zumindest für die Teilnehmenden), nicht gesehen zu werden.

Technik überwinden: Manch ein Gesprächspartner bittet sein Gegenüber bei vertraulichen Themen, vorher den Akku aus dem Handy zu nehmen, da so die Abhörgefahr verringert werde – oder weil der andere unter dieser Voraussetzung das Gespräch nicht aufzeichnen kann. Problem: Bei vielen der neuesten Smartphones ist das nicht mehr möglich.

Unter sich bleiben: Seit einiger Zeit sind die Zugangsregeln bei „Ossi“ verschärft: In der Abgeordnetenkneipe im Keller des Gebäudes der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft, benannt nach dem langjährigen Barkeeper Osvaldo Cempellin, bleiben die Volksvertreter neuerdings unter sich. Das erleichtert vertrauliche und vor allem überfraktionelle Gespräche.

Exklusivität: Wer nicht gesehen werden möchte und über ein ausreichend großes Spesenkonto verfügt, bucht für sich und seine Gesprächspartner einen eigenen Raum im China Club am Pariser Platz und ähnlichen einschlägigen Orten. Neben Diskretion versprechen solche Locations zugleich häufig genug ein beeindrucktes Gegenüber – keine schlechte Ausgangsposition.

Zirkel von Gleichgesinnten: Adlerkreis oder Collegium sind für Interessenvertreter das, was Hintergrundkreise für Journalisten darstellen: Treffen, bei denen man sich mit Kollegen und einem jeweiligen hochrangigen Gast vertraulich über aktuelle politische Themen austauscht. Diskretion ist Pflicht.

Gesten als Vertrauensbeweis: Wenn ein Regierungsmitglied bei einem offiziellen Gespräch seine anwesenden Mitarbeiter aus dem Raum schickt, fühlt sich der eingeladene Verbandspräsident oder Hauptstadtjournalist aufgewertet: Ab jetzt wird es unter vier Augen noch heimeliger – und heimlicher.

Offizielle Prävention: In der Botschaft eines großen Landes in Berlin-Mitte weisen kleine Warnschilder neben den Fenstern eindringlich darauf hin, dass man nicht einsehbar in Richtung der großen Fensterflächen sprechen solle – wer auch immer mit dem Fernglas in Bond-­Manier seine erlernte Lippenlesefähigkeit anwenden mag.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 127 – Thema: Vertraulichkeit. Das Heft können Sie hier bestellen.