p&k: Frau Matthes, Sie haben Ende vergangenen Jahres erhoben, dass inzwischen knapp 900.000 kostenlose Unterrichtsmaterialien im Internet abrufbar sind. Hat Sie diese große Zahl überrascht?
Eva Matthes: Ja, zumal wir erst ein Jahr zuvor die gleiche Analyse gemacht hatten und damals „nur“ auf eine halbe Million Angebote gestoßen waren. Daraus ziehen wir den Schluss, dass der Markt rasant wächst.
Zum Teil heftig in der Kritik stehen Unterrichtsmaterialien, die von Unternehmen, Wirtschaftsverbänden oder wirtschaftsnahen Instituten kommen. Warum?
Reinhold Hedtke: Problematisch wird es immer dann, wenn Akteure, wie etwa die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), in der Öffentlichkeit ohnehin schon dominieren. Außerdem hat die INSM privilegierte Zugänge zu Schulen und zur Politik. Das ist in meinen Augen eine Einflusshäufung, die überhaupt nicht vertretbar ist.
Matthes: Wir haben herausgefunden, dass von den 20 umsatzstärksten Unternehmen in Deutschland 15 kostenlose Unterrichtsmaterialien anbieten. Für mich stellt sich die Frage, ob es dadurch nicht zu einer Schieflage kommt, die manche Gruppierungen immens begünstigt – gerade weil die Angebote der Wirtschaftsunternehmen nicht nur sehr professionell gestaltet, sondern oftmals auch sehr werblich sind. Was wir in diesem Bereich beobachten, ist ein Kampf um die Köpfe der Schüler.
Was genau stört Sie an den Schulmaterialien der INSM?
Hedtke: Die grundlegende ideologische Stoßrichtung: Materialien wie die der INSM wollen ein bestimmtes Bild der Marktwirtschaft vermitteln. Die Schüler sollen glauben, dass es keine Alternativen zum vorherrschenden Wirtschaftsmodell gibt. Sie sollen lernen, dem Staat skeptisch gegenüberzutreten und dem Markt zu vertrauen.
Die Gewerkschaften verbreiten ihrerseits ebenfalls Materialien, in denen sie ihre politischen Positionen darstellen. Messen Sie da nicht mit zweierlei Maß?
Hedtke: Aus meiner Sicht sind die Gewerkschaften durch die Fülle der Materialien aus der Wirtschaft erst in Zugzwang geraten, Alternativen anzubieten. Und das tun sie auch seit ungefähr einem Jahr verstärkt. Um dem strukturellen und finanziellen Ungleichgewicht zur Wirtschaft entgegenzuwirken, bräuchte es allerdings einen breiten Zusammenschluss mit sozialen Bewegungen und Globalisierungskritikern.
Gibt es noch andere Akteure, die Sie für genauso problematisch halten?
Hedtke: Ja, zum Beispiel große Teile der Finanz- und Versicherungsindustrie, die mit ihren Angeboten vorrangig neue Kunden gewinnen wollen. Denen geht es darum, den Schülern einzutrichtern, dass man sein Geld anlegen und in Altersvorsorge investieren muss. Hier steht ganz klar das Profitinteresse im Vordergrund. Als ebenfalls fragwürdig empfinde ich einige Materialien des Bundesverbands Investment und Asset Management (BVI), in denen die Ursachen der Finanzkrise verharmlost werden.
Warum beschäftigen sich so wenige Wissenschaftler mit dem Thema?
Hedtke: Weil es für eine kritische Analyse keine Geldgeber gibt. Wer soll denn ein Interesse daran haben, diese Forschung zu finanzieren? Die Unternehmen, Stiftungen oder Wirtschaftsverbände jedenfalls nicht. Auch die Politik meidet diesen Bereich bislang, weil sie durch die Ergebnisse womöglich unter Handlungsdruck geraten könnte.
Frau Matthes, Ihre Forschung wird vom Verband Bildungsmedien finanziert, hinter dem die Schulbuchverlage stehen. Wie schwierig ist es in diesem Fall, die Unabhängigkeit der Wissenschaft zu wahren?
Matthes: Natürlich haben wir uns zu Beginn mit dem Verband Bildungsmedien an einen Tisch gesetzt und klar gesagt, dass wir ein wissenschaftliches Projekt in Angriff nehmen, das ergebnisoffen ist. Zum Glück wurde das auch gleich akzeptiert.
Die Organisation Lobby-Control fordert eine staatliche Monitoringstelle für externe Unterrichtsinhalte. Was halten Sie von diesem Vorschlag?
Hedtke: Nicht viel. In einer freien Gesellschaft kann man niemandem verbieten, solche Materialien zu erstellen. Der Staat darf kein Zensor sein. Was wir dagegen brauchen, sind deutliche und strenge Regeln in puncto Transparenz. Es muss klar sein, welche Gruppen und finanziellen Mittel hinter den Angeboten stecken. Denkbar wäre auch ein jährlicher Bericht, in dem Materialien, die besonders manipulativ sind, öffentlich kritisiert werden.
Wie erfolgreich ist diese Art des Lobbyings?
Hedtke: Darüber kann man nur spekulieren, weil es dazu bisher keine Forschungsergebnisse gibt. Doch aus ökonomischer Sicht frage ich mich, warum die verschiedenen Akteure etwas anbieten sollten, wenn es ihnen am Ende gar nichts bringt.
Matthes: Wir sind gerade dabei, Lehrer zu befragen, warum und in welchem Umfang sie diese Materialien verwenden. Die ersten Interviews zeigen, dass sie sehr rege genutzt werden. Genaueres können wir erst später sagen. Wir wollen aber auch mit Vertretern der Kultusbehörden aller Bundesländer sprechen, weil wir den Eindruck haben, dass diese Gruppe bisher sehr wenig über den kostenlosen Lehrmittelmarkt weiß.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Die Kanzlermacher – Zu Besuch in Deutschlands Wahlkampfagenturen. Das Heft können Sie hier bestellen.