Die Klausel ist gut – aber reformbedürftig

Fünf-Prozent-Hürde

Das Thema Wahlrecht steht seit einigen Jahren wieder auf der Tagesordnung. So soll die vom Deutschen Bundestag eingesetzte Wahlrechtskommission vor allem die Gretchenfrage klären: Wie gelingt es, den Bundestag zu verkleinern, ohne dass die Interessen der Parteien vernachlässigt werden? Darüber hinaus beschäftigt sie sich mit der Frage, ob und wie eine gleichberechtigte parlamentarische Repräsentanz im Parlament zu erreichen ist. Ferner stehen folgende Punkte auf der Agenda: Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre; Verlängerung der Legislaturperiode; Bündelung von Terminen bei Bundestags- und Landtagswahlen; erleichterte Wahlrechtsausübung für Auslandsdeutsche.

Der Bundestag hat bei den Europawahlen im November 2022 beschlossen, das Wahlalter auf 16 Jahre zu senken. Was die Regierung nicht vorhat: die Fünfprozentklausel abzuschaffen oder zu modifizieren. Dabei gibt es Reformbedarf: Wer die Klausel als prinzipiell angemessen ansieht, muss deswegen nicht gegen jede Änderung sein. Denn Defizite sind erkennbar.

Die Fünfprozentklausel fand 1949 im Wahlgesetz des Bundes Aufnahme, wobei die Geschichte ihrer Einführung recht verschlungen ist. Sie ging auf die Ministerpräsidenten der Länder zurück, nicht auf den Parlamentarischen Rat, der sich mit knapper Mehrheit dagegen ausgesprochen hatte. Die alliierten Militärgouverneure akzeptierten das Votum der Ministerpräsidenten zwar grundsätzlich, modifizierten es aber insofern, als die Klausel nicht auf das gesamte Bundesgebiet bezogen werden sollte, sondern bloß auf das jeweilige Bundesland. An der Alternativklausel hielten die Militärgouverneure fest: Der Gewinn eines Direktmandates befreite die Parteien davon, in einem Bundesland fünf Prozent der Stimmen zu erreichen. 1953, im zweiten Bundeswahlgesetz, wurde diese auf das Bundesgebiet (wie auch die Fünfprozentklausel) ausgedehnt.

Die verbreitete Annahme, das sei eine Verschärfung gewesen, ist nicht ganz richtig. Eine ausgesprochene Hochburgenpartei ist zwar benachteiligt, aber eine politische Kraft wie die FDP mit bundesweit mehr als fünf Prozent profitiert davon, da auch die Stimmen in den Ländern berücksichtigt werden, in denen die Partei keine fünf Prozent der Stimmen erlangt. Diese Reform war sinnvoll, denn eine Klausel ergibt ausschließlich dann Sinn, wenn sie im gesamten Bundesgebiet gilt. Parteien nationaler Minderheiten sind seit 1953 von der Fünfprozenthürde ausgenommen. Die Alternativklausel wurde im dritten Bundeswahlgesetz 1956 auf drei Direktmandate verschärft. Das ist bis heute der Stand.

Ein sinnvoller Kompromiss

Die Klausel beugt der Gefahr der Parteienzersplitterung vor und schafft stabile Mehrheiten für die Regierungsbildung. Dadurch fallen jedoch die Stimmen der Wähler für Parteien, die keine fünf Prozent erreicht haben, unter den Tisch. Diese Vorkehrung hat sich prinzipiell bewährt. Sie verhinderte den Einzug von Splitterparteien in den Bundestag, ohne ein „Machtkartell“ der Etablierten abzuschotten. So gelang es den Grünen in den achtziger und der aus der SED hervorgegangenen PDS in den neunziger Jahren, die Hürde zu überwinden. Ebenso schaffte dies die Alternative für Deutschland 2017 und 2021.

Die Fünfprozentklausel ist ein sinnvoller Kompromiss zwischen den beiden Kriterien „Bildung regierungsfähiger Mehrheiten“ und „Repräsentation der politischen Richtungen“, die in einem unaufhebbaren Spannungsverhältnis zueinander stehen – sinnvoll vor allem deshalb, weil sie alle Parteien mit über fünf Prozent proportional zu ihren Ergebnissen begünstigt und nicht von unberechenbaren Zufälligkeiten abhängt.

Immer wieder ist Kritik an der Klausel geübt worden. Sie sei undemokratisch, weil sie kleine politische Strömungen benachteilige. Andere fordern eine Senkung der Höhe der Sperrhürde. Niemand jedoch plädiert für deren Anhebung. Im Grunde ist das nicht konsequent, da die relative Mehrheitswahl als legitime Alternative gilt. Nicht die Fünfprozentklausel verdient es, abgeschafft zu werden, wohl aber die „Grundmandatsklausel“ und die Klausel zur Privilegierung nationaler Minderheiten.

Erstens: Wer drei Direktmandate erreicht, zieht in den Deutschen Bundestag ein, auch ohne einen Mindestanteil von fünf Prozent. Das ist unlogisch. Schließlich ist eine Partei mit 4,4 Prozent und vier Direktmandaten (wie die PDS 1994) keineswegs repräsentationswürdiger als eine Partei mit 4,8 Prozent und ohne Direktmandate (wie die FDP 2013). Diese „Alternativklausel“ unterläuft den Sinn der Fünfprozenthürde. Man kann nicht erst eine bundesweite Fünfprozenthürde aus funktionalen Gründen vorsehen und dann eine Regelung in Betracht ziehen, die diese Klausel aushebelt. Hochburgenparteien können unter den Bedingungen einer Verhältniswahl nicht für sich beanspruchen, legitimer ins Parlament einzuziehen als Parteien mit verstreuter Wählerschaft. Zudem müssen die drei Direktmandate nicht einmal in einem zusammenhängenden Wahlgebiet gewonnen werden.

Nicht jede Stimme zählt

Zweitens nimmt das Wahlgesetz Parteien nationaler Minderheiten von der Fünfprozentklausel aus. Daher hat der Südschleswigsche Wählerverband (SSW), die Partei der Dänen und der Nordfriesen, bei der Bundestagswahl 2021 mit einem Stimmenanteil von 0,1 Prozent (!) ein Mandat errungen, erstmals seit 1949. Damals zog der SSW mit einem Mandat in den Bundestag ein, weil er die Sperrklausel dank eines Anteils von 5,4 Prozent knapp überwunden hatte. Diese bezog sich, wie erwähnt, seinerzeit auf ein Land, nicht auf den Bund. Eine solche – schwerlich zu rechtfertigende – Privilegierung ist anachronistisch und aus dem Wahlgesetz zu streichen. Für ein Bundesparlament, bei dem ohnehin nur Kandidaten deutscher Staatsangehörigkeit wählbar sind, passt eine derartige Ausnahmeregel nicht. Gewiss, Minderheitenschutz ist unerlässlich, aber dieses Sonderrecht führt zu einer Vorzugsbehandlung. Schließlich wählen die Bundesbürger ihre Vertretung, die die gesamte Bürgerschaft repräsentiert.

Die Fünfprozentklausel hat auch ungeachtet dieser beiden Punkte ihre Tücken. Nicht jede Stimme wird verwertet – die Stimmen der Wähler für Parteien, die keine fünf Prozent erreicht haben, zählen nicht. Das ist kritikwürdig. Schließlich ist der Wahlakt diejenige Form der politischen Partizipation, von der die Bürger am meisten Gebrauch machen.

Mit Hilfe einer Nebenstimme ließe sich dieser Missstand vermeiden. Sie käme dann zur Geltung, wenn jemand für eine Partei votierte, die keine fünf Prozent der Stimmen erreichte. Diese zöge zwar nicht in das Parlament ein, aber deren Wähler blieben von der politischen Willensbildung nicht ausgeschlossen. Zugegeben: Wer nicht nur die Haupt-, sondern auch die Nebenstimme einer Partei gäbe, die keine fünf Prozent erreicht, bliebe weiterhin einflusslos. Eine solche Einsicht dürfte man von der Wählerschaft erwarten. Dieses System, das den Bürger nicht überfordert, weist im Vergleich zum jetzigen Modus deutliche Vorteile auf:

Es ginge auch anders

Erster Vorteil: Der Einfluss jener Wähler, die für eine Partei votiert haben, die an der Sperrklausel gescheitert ist, würde sich auf die Zusammensetzung des Parlamentes auswirken. Das waren bei der Bundestagswahl 2013 immerhin 15,7 Prozent. Deren Nebenstimmen kämen nicht mehr – wie jetzt – den Parlamentsparteien entsprechend ihrer Größe zugute.

Zweiter Vorteil: Der Wähler könnte ohne taktisch-strategisches Überlegen bei der Partei sein Kreuz machen, die ihm am sympathischsten ist. Er müsste keine Angst vor einer Papierkorbstimme haben. Manch einer versagt jetzt einer kleinen Partei sein Votum, weil er fürchtet, es ginge verloren. Oder er bleibt aus Resignation gleich der Wahl fern. Es gibt ebenso den umgekehrten Fall: Der Wähler votiert für eine kleine Partei, weil er unbedingt möchte, dass sie in das Parlament einzieht und mit seiner eigentlich favorisierten Partei eine Koalition eingehen kann. Eine so reformierte Klausel würde also weder abschrecken noch begünstigen, für eine Kleinpartei zu stimmen.

Dritter Vorteil: Ein Verfälschen des Wählerwillens unterbleibt. Gegenwärtig kann das anders sein: Bei der Bundestagswahl 2013 scheiterten mit der FDP und der AfD zwei nicht linke Parteien knapp an der Fünfprozenthürde. So wurde aus einer linken Stimmenminderheit eine (freilich ungenutzt gebliebene) linke Mandatsmehrheit.
Am Ende steht der Befund, dass sich durch die Existenz einer Nebenstimme das Votum des Wählers ungefiltert niederschlüge. Der positive Effekt der Klausel, das Parlament vor Zersplitterung zu schützen, bliebe gewährleistet. Ihr negativer Effekt, zahlreiche Stimmen nicht zu berücksichtigen, verschwände.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 141 – Thema: Interview mit Norbert Lammert. Das Heft können Sie hier bestellen.