Der gesunde Menschenverstand

Politik

Die Welt ist komplex und widersprüchlich. Politiker greifen deshalb häufig auf rhetorische Mittel zurück, um ihre Botschaften zu vermitteln. Eine Metapher, die sich in der deutschen Politik ihren festen Platz erobert hat, ist die Phrase vom „gesunden Menschenverstand“.

Politiker verschiedener Parteien wie Angela Merkel (CDU) und Christian Lindner (FDP) haben den Ausdruck aktiv genutzt. Damit wollten sie unterstreichen, wie vernünftig und pragmatisch sie denken. Manche feiern den „gesunden Menschenverstand“ als Leitprinzip. Aber Kritiker hinterfragen ihn und weisen auf mögliche Fallstricke hin.

Der „gesunde Menschenverstand“ ist in der politischen Kommunikation also weit verbreitet. Was aber verbirgt sich eigentlich dahinter? Im Wesentlichen bezieht er sich auf die Fähigkeit einer Person, vernünftige, rationale und pragmatische Schlussfolgerungen zu ziehen. Mit gesundem Menschenverstand trifft eine Person Entscheidungen, die auf alltäglicher Erfahrung und logischem Denken beruhen. Sie betrachtet die Dinge auf einfache und verständliche Weise und entscheidet nach allgemein akzeptierten und intuitiven Prinzipien. Was sie dabei nicht braucht: Komplexe Theorien, wissenschaftliche Methoden und ausgefeilte Analysen. Bestimmte Dinge in der Welt sind so offensichtlich, dass sie nicht tiefgründig gedreht und gewendet werden müssen.

Common Sense

Das Einzige, was man dazu braucht, ist eben: der gesunde Menschenverstand. Die Wurzeln des Begriffs gehen auf den lateinischen Begriff „sensus communis“ zurück. Aristoteles beschrieb ihn als inneren Sinn, der die Informationen der Einzelsinne zusammenführt und bewertet. In der Stoa und bei Cicero entwickelte sich die Vorstellung von gemeinsamen Begriffen als Grundlage für Wahrheit und allgemeingültige Aussagen. In der Aufklärung erweiterten Denker wie Francis Hutcheson und David Hume den Common Sense auf praktische und moralische Lebensprinzipien. Thomas Reid schuf eine Common-Sense-Theorie, die intuitiven Einsichten beruhte, die als unumstößliche Wahrheiten galten.

Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nutzte den gesunden Menschenverstand besonders gerne. Die Webseite der Bundesregierung listet 24 Reden von ihr, in denen sie den Begriff verwendete. 2016 sagte sie auf dem Deutschen Landfrauentag: „Ich war im Zuge der deutschen Wiedervereinigung der Auffassung, dass ich nunmehr in den Teil Deutschlands komme, in dem alles nach gesundem Menschenverstand geregelt ist.“ Zur NSA-­Affäre im Jahr 2014 sagte sie: „Mit gesundem Menschenverstand betrachtet“ sei das Ausspionieren von Verbündeten „Vergeudung von Kraft“. In einer Rede zum zehnjährigen Bestehen der Stiftung Auschwitz-Birkenau betonte sie: „Was hier geschah, lässt sich mit Menschenverstand nicht erfassen.“

Beliebt ist der Begriff auch beim heutigen Bundes­finanzminister Christian Lindner (FDP). In einem Interview mit der „Augsburger Allgemeinen“ erklärte er 2016, seine Partei wolle ein Angebot an die Menschen richten, die „eigentlich nur mehr gesunden Menschenverstand in der Politik sehen“ wollten. Seine Parteifreundin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger fragte erst kürzlich in der „Bild“: „Was ist bloß aus gesundem Menschenverstand geworden?“ Und auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) lobte 2020 anlässlich eines Mittagessens zu Ehren des früheren Bundesministers Lothar de Maizière (CDU) dessen gesunden Menschenverstand.

Beliebt im Bundestag

Auch im Deutschen Bundestag ist diese Metapher immer wieder zu hören. Seit dem 1. Oktober 2013 wurde der gesunde Menschenverstand dort 145 Mal bemüht. Spitzenreiter sind die Abgeordneten der AfD. Sie verwendeten den Begriff 58 Mal. Außerdem wurde er sechs Mal von fraktionslosen Abgeordneten genutzt, die alle früher der AfD angehörten. Es folgen Abgeordnete der CDU (36), der SPD (35), der Linken (9) und der Grünen (8). Am unbeliebtesten ist der gesunde Menschenverstand bemerkenswerterweise bei den Liberalen. FDP-Abgeordnete nutzten den Begriff nur dreimal, saßen zwischen 2013 und 2017 allerdings auch nicht im Parlament.

Die Verwendung des Ausdrucks hat im Deutschen Bundestag seit 2015 stark zugenommen. 2018, ein Jahr, nachdem die AfD erstmals ins Parlament eingezogen war, versiebenfachte sich der Gebrauch des gesunden Menschenverstands im Vergleich zu 2014. Die AfD präsentiert sich hartnäckig und betont als Partei des gesunden Menschenverstands. Das postulierte ihr Gründer Bernd Lucke bereits 2014.

Besonders gerne bringen Parteigrößen der AfD den „gesunden Menschenverstand“ gegen andere Parteien und politische Vorstellungen in Stellung. So postulierte Ex-Parteichef Jörg Meuthen: „Linksgrüne Hypermoral und gesunder Menschenverstand scheinen unvereinbare Gegensätze zu sein.“ Alexander Gauland attestierte den Grünen, dass in ihrem Wahlprogramm „so gut wie kein gesunder Menschenverstand zu finden“ sei.

Vermeintliche „Volksmeinung“

Aber nicht nur die AfD nutzt den gesunden Menschenverstand des Öfteren, um ein „wir“ gegen „die Anderen“ zu beschwören. Die Freien Wähler schicken sich an, ihr dieses Image streitig zu machen. Ihr Vorsitzender und stellvertretender bayerischer Ministerpräsident Hubert Aiwanger wirbt in letzter Zeit gerne mit dem gesunden Menschenverstand, von dem es in der politischen Berliner Blase zu wenig gebe.

Wir sehen: Populisten haben mittlerweile eine besondere Vorliebe für diesen Ausdruck. Eine ihrer bevorzugten Strategien besteht darin, den gesunden Menschenverstand zu einer Art „Volksmeinung“ oder kollektivem Willen zu verklären, um ihre politischen Positionen zu rechtfertigen. Selbstverständlich sehen sie sich dazu berufen, ihn in die Politik zu tragen.

Darüber hinaus werden mit dem Begriff Expertenmeinungen oder etablierte Eliten diskreditiert. Populistische Politiker geben sich als Stimme des „einfachen Bürgers“ aus. Sie behaupten, Experten lägen oft daneben. Dieses Muster haben wir in der Corona-Krise gesehen, auch der Klima­wandel ist als Diskussionsschlachtfeld beliebt. Letztlich führt das nur zu einer weiteren Polarisierung politischer Debatten.

Es gibt auch positive Seiten

Mittlerweile müssen sich auch Politiker der Mitte fragen, wie sinnvoll es ist, diesen Ausdruck zu nutzen. Was ist damit überhaupt gemeint? Jede Person dürfte sich eine eigene Vorstellung davon machen. Diese Unschärfe erschwert es, eine politische Meinung darauf aufzubauen. Der gesunde Menschenverstand verfügt über keine Kriterien, über die wir uns einigen könnten. Dazu sind wir als Gesellschaft auch zu vielfältig. Ob kulturell, sozial, oder regional: Es herrschen kaum einheitliche Vorstellungen darüber, was der gesunde Menschenverstand fordert. Weitverbreitete Überzeugungen laufen dazu Gefahr, Minderheiten und Randgruppen zu übersehen.

Am schwersten wiegt aber: Wer sich auf den gesunden Menschenverstand beruft, ist denkfaul. „Da müssen wir gar nicht darüber reden“, „weil ich das sage“ oder „diese Entscheidung ist alternativlos“ schwingen immer mit. Es ist ein Totschlagargument. Er deutet auf fehlende Argumente und mangelnde wissenschaftliche Erkenntnisse hin. Grundsätzlich kann man sagen, dass der gesunde Menschenverstand nicht viel mehr als eine Illusion ist. Menschen treffen ständig falsche Entscheidungen aus dem Bauch heraus. Was im Laufe der Menschheitsgeschichte alles zum gesunden Menschenverstand gezählt wurde, wäre einen eigenen Artikel wert.

Aber nicht alles ist schlecht. Die Verwendung des Ausdrucks „gesunder Menschenverstand“ in der politischen Kommunikation hat auch positive Aspekte. Er bricht ratio­nale Entscheidungen auf eine Ebene herunter, die komplexe politische Themen für viele Bürger leichter zugänglich macht. Er schließt an Alltagserfahrungen an. Dadurch können Politiker einen Bezug zur Lebenswelt der Wähler herstellen. In Zeiten der Politikverdrossenheit schafft das Vertrauen. Er signalisiert den Wählern, dass Politiker ihre Sorgen ernst nehmen. Sagen wir es frei nach Kant: Habe den Mut, dich deines gesunden Menschenverstandes zu bedienen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 144 – Thema: Interview mit Can Dündar. Das Heft können Sie hier bestellen.