Das will ich Ihnen heute mitteilen“, so war das Video überschrieben. Wenn sich ein Bundeskanzler direkt ans Volk wendet, ist die Lage ernst. Als Olaf Scholz (SPD) am 24. November mit einer Videobotschaft auf seinen Social-Media-Kanälen online ging, war die politische Öffentlichkeit entsprechend gespannt. Und ja, die Lage war ernst, ist ernst. Neun Tage zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht die Haushaltspolitik der Bundesregierung für verfassungswidrig erklärt. Die Videobotschaft gab Scholz die Gelegenheit zu erklären, wie es dazu gekommen war und wie es jetzt weitergeht.
Er sagte: fast nichts. Denn Olaf Scholz wollte vor allem eines mitteilen: Alles halb so wild. Er versprach, der Haushalt für 2024 werde „zügig, aber mit der gebotenen Sorgfalt“ überarbeitet. Das Video dauerte drei Minuten. In seiner Regierungserklärung tags darauf hätte Scholz etwas konkreter werden können. Doch auch im Bundestag lullte der Kanzler die Abgeordneten mit Catchphrases wie „You’ll never walk alone“ und dem unvermeidlichen „Unterhaken“ ein. Wen will er damit noch beeindrucken? Die Politprofis auf den Abgeordnetensitzen lachten mehrfach, etwa, wenn Scholz sagte: „Mit dem Wissen des Urteils hätten wir 2021 andere Entscheidungen getroffen.“ Ja, klar.
Was außerhalb des Bundestags hängen blieb, ist nicht das Bundestagsgeplänkel, sondern Scholz’ erste Reaktion auf das Gerichtsurteil bei einer Podiumsdiskussion: „Sie sehen mich jetzt hier nicht als Menschen ohne Zuversicht.“ Alles halb so wild.
Für Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) ist nicht alles halb so wild. Er ist selbst wild. Im Deutschlandfunk schimpfte er, der Staat könne durch dieses Urteil die Menschen nicht mehr vor hohen Gas- und Strompreisen schützen. Schuld sei die Union, die das Regierungshandeln von Gerichten prüfen lässt. „Sie klagt dafür, dass Menschen in Deutschland höhere Preise bezahlen“, sagte Habeck – und ätzte: „Schönen Dank, Friedrich Merz.“
Finanzminister Christian Lindner ist weder zuversichtlich noch wild, sondern gibt sich zufrieden. „Wir haben eine neue Rechtsklarheit, die die Staatspraxis ändert“, sagte er im Handelsblatt. Ganz so, als ob er nicht beim Tricksen erwischt worden wäre. Ganz so, als ob Experten nicht von Anfang an gewarnt hätten, dass seine Schattenhaushalte auf verfassungsrechtlich wackligen Beinen stehen. Dass die im Ministerium unter seinem Vorgänger und Jetzt-Chef Olaf Scholz entworfen wurden, geschenkt. Dass ausgerechnet Lindner jetzt „Haltet den Dieb“ ruft, ist schon mutig.
Lindner hilft wenig, dass die verfassungswidrige Haushälterei im Ministerium unter seinem Vorgänger und Jetzt-Chef Olaf Scholz entworfen wurde. Dafür hat er den Finanzstaatssekretär Werner Gatzer gefeuert. Der hatte sich das Konstrukt gemeinsam mit Wolfgang Schmidt unter dem Finanzminister Olaf Scholz ausgedacht. Dass Lindner dafür jetzt die Prügel vor dem Bundesverfassungsgericht kassiert hat, ist natürlich ungerecht. Trotzdem trägt er als Minister die Verantwortung. Gatzer ist ein Bauernopfer.
Immer wieder gab es Krach
Ein Problem – drei Botschaften. Das beschreibt anschaulich das Problem, das die Ampel hat, eigentlich seit ihrem Zusammenkommen im Herbst 2021. Ihr fehlt eine gemeinsame Erzählung, eine gemeinsame Problemdiagnose, oft genug auch die gemeinsame Lösung. Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen. Als „Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ hatte sich die Koalition vorgestellt.
SPD, Grüne und FDP waren angetreten, um Deutschland nach der Corona-Pandemie zu modernisieren, den Klimawandel zu bekämpfen und die soziale Gerechtigkeit zu stärken. In seiner ersten Regierungserklärung im Dezember 2021 sprach der damals frischgebackene Bundeskanzler Scholz viel von Aufbruch und Fortschritt.
LESEN SIE AUCH ZUM THEMA:
Doch dann kam etwas dazwischen: Am 82. Tag der Regierungszeit griff Russland die Ukraine an und die Ampel fand sich in einer Situation wieder, mit der bisher keine ihrer Vorgängerinnen in der Bundesrepublik zu kämpfen hatte. Das schweißte die Koalition zusammen. Die Energiekrise 2022 wurde überstanden, die Deutschen kamen gut durch den Winter und dank der Energiepreisbremse hielten sich die finanziellen Härten für die meisten Bürger in Grenzen. Alles in allem stand die Ampel in der Gunst der Bürger Anfang 2023 deshalb nicht schlecht da: Im Deutschland-Trend vom Februar 2023 waren noch 33 Prozent der befragten Bürger zufrieden oder sehr zufrieden – angesichts der Ukraine- und Energiekrise kein schlechtes Ergebnis.
Doch immer wieder gab es Krach. Und mit ihm das Misstrauen der Bürger. Wie viele Flüchtlinge aus der Ukraine sollte Deutschland aufnehmen? Wie sollte die CO2-Bepreisung aussehen? Wie viel Geld sollte für Bürgergeld und Kindergrundsicherung ausgegeben werden – und woher sollte es kommen? Die SPD und die Grünen wollten mehr Klimaschutz, mehr Förderung, mehr soziale Leistungen. Die FDP wollte mehr Eigenverantwortung, mehr Marktwirtschaft, mehr Haushaltskonsolidierung. Die Kompromisse, die gefunden wurden, waren oft faul.
Vor Gerichten warten schon die nächsten Schlappen
Jetzt ist die Ampelkoalition in der Mitte ihrer Amtszeit angekommen – und in der Krise. Schon wieder. Der Ampel fehlt jetzt das Geld für ihre wichtigsten Projekte: die Modernisierung der Wirtschaft, die Bekämpfung des Klimawandels, die Stärkung des Sozialnetzes. Doch die nächsten Probleme für die Ampel stehen schon in den Startlöchern. In Gerichten laufen noch weitere Verfahren, die die Regierung in Bedrängnis bringen könnten: zur Wahlprüfung in Berlin, zum Heizungsgesetz, zur Verkürzung der Informations- und Auskunftspflichten des Parlaments und zur Verweigerung eines Untersuchungsausschusses in der Warburg-Affäre um Scholz. Die Ampel muss also mit weiteren juristischen Niederlagen rechnen, die ihre Handlungsfähigkeit einschränken oder ihre Glaubwürdigkeit beschädigen könnten. Eine davon hat sie schon erlitten – diesmal vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg. Das Gericht verpflichtete die Regierung, kurzfristig wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um die Einhaltung der Klimaziele in den Jahren 2024 bis 2030 sicherzustellen. Zwei NGOs hatten geklagt.
Mittlerweile hat die Stimmung innerhalb der Ampelkoalition auf die Umfragen abgefärbt: Nur noch 23 Prozent der Bürger waren im November 2023 mit der Arbeit der Regierung zufrieden. Laut einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach meinen nur 12 Prozent der befragten Bürger, dass von den vereinbarten Koalitionsversprechen „alle, fast alle oder ein großer Teil“ umgesetzt werden. 43 Prozent aller Befragten gehen sogar davon aus, es werde nur „ein kleiner Teil oder kaum welche“ umgesetzt. Die Koalitionsversprechen schienen vergessen oder verraten.
Das stimmt aber gar nicht. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, der Universität Trier und des Progressiven Zentrums zeigte pünktlich zur Halbzeit, dass die Regierung bereits knapp zwei Drittel ihres Koalitionsvertrages entweder umgesetzt (38 Prozent) oder mit der Umsetzung angefangen hat (26 Prozent). Die Ampelkoalition hat also nicht versagt, ihr Programm umzusetzen, sondern ihre Erfolge zu verkaufen. Sie hat sich in den Streitigkeiten verloren und die Bürger damit enttäuscht. Sie hat vergessen, dass Politik nicht nur aus Inhalten, sondern auch aus Kommunikation besteht.
Die Ampelkoalition in Turbulenzen
Die Erfolge werden überschattet durch öffentlich ausgetragenen Streit, der die Stimmung innerhalb der Koalition und in der Öffentlichkeit trübt. Scholz kommentierte trocken, manche Parteien müssten erst lernen, sich auf weniger als 100 Prozent ihres Programms zu einigen. Doch der Konflikt innerhalb der Koalition ist nicht nur ein Kampf um politische Ideale und Programme, sondern auch ein Ringen um die öffentliche Wahrnehmung.
Vor allem das Verhältnis zwischen der FDP und den Grünen ist zunehmend zerrüttet. Noch vor der Regierungsbildung waren sie noch zur „Zitrus“-Koalition zusammengekommen. Das Foto von dem Grünen-Duo Annalena Baerbock und Robert Habeck sowie den FDP-Spitzen Christian Lindner und Volker Wissing sollte das Signal senden: Wer auch immer Dritter im Bunde wird, uns kann man nicht auseinanderdividieren. Mittlerweile weiß man, dass es dazu gar keinen Dritten braucht. Ob Heizungsgesetz oder Kindergrundsicherung – wenn FDP und Grüne streiten, geht es auch um Überzeugung, vor allem aber ums Geld. Das dürfte jetzt nicht einfacher werden.
Ein Schalldämpfer wäre bitter nötig
Die Kanzlerpartei SPD hält sich da oft raus – oder Kanzler Scholz lässt durchblicken, auf der Seite der FDP zu stehen. Dem Haussegen ist das nicht zuträglich. Vizekanzler Robert Habeck sagte dazu einmal: „Wir versauen es uns permanent selbst. Und das ist natürlich auf Dauer kein Erfolgsgeheimnis.“ Für die zweite Halbzeit haben sich die Koalitionäre bei ihrer Sommerklausur auf Schloss Meseberg bei Berlin deshalb vorgenommen, geräuschärmer zu regieren. Scholz nannte das „mit Schalldämpfer“.
Ein Schalldämpfer wäre bitter nötig. In einem politischen Ökosystem, das von Kompromissen lebt, führen anhaltende Konflikte zu Stillstand. Wenn eine Regierung mehr mit sich selbst als mit der Gestaltung der Zukunft des Landes beschäftigt ist, ist das nicht nur frustrierend, sondern birgt auch die Gefahr, dass wichtige politische Initiativen und Reformen auf der Strecke bleiben.
Allgemein drängt sich bei der Ampel der Eindruck auf, dass alle Koalitionspartner vor allem Angst haben, über den Tisch gezogen zu werden. Weder bei ihren Wählern noch an der Basis wollen sie als Verlierer dastehen. Als Folge schauen sie nicht gemeinsam in eine Richtung, sondern ziehen vor allem rote Linien. Die SPD schließt aus, dass es mit ihr Kürzungen im Sozialbereich gibt. Die FDP schließt aus, dass es mit ihr Steuererhöhungen gibt. Die Grünen schließen aus, Kompromisse beim Klimaschutz und der Energiewende einzugehen. Die Situation ist verfahren.
Streit macht hässlich
Dazu kommt der Einfluss dieser Konflikte auf die öffentliche Wahrnehmung. Wähler haben Zwist unter Koalitionären noch nie gutgeheißen. Für die politische Mitte ist die Konsequenz aber gefährlicher als früher.
Damals profitierte immer noch die größte Oppositionspartei. Der Aufstieg von Randparteien und populistischen Bewegungen weltweit zeigt, dass heute das Vertrauen in die etablierten politischen Kräfte schwindet. Die Regierung appelliert gern an die „staatstragende Verantwortung“ der Union. Es würde nicht schaden, sie nähme ihre eigene Verantwortung ernster.
Die dringendste Frage, die sich aus all dem ergibt, ist, wie die Koalitionspartner wieder zu einer konstruktiven Zusammenarbeit finden können. Die Zeit drängt, und die Geduld der Wähler ist begrenzt. Die Ampelkoalition steht vor der Herausforderung, ihre internen Konflikte zu überwinden und gemeinsame Lösungen zu präsentieren, die nicht nur politisch tragfähig, sondern auch in der Öffentlichkeit akzeptabel sind.
Inmitten der internen Konflikte der Ampelkoalition ist vor allem einer gefragt: Bundeskanzler Olaf Scholz. Er muss eine aktivere Rolle in der Vermittlung und Konfliktlösung übernehmen. Scholz‘ scheinbare Distanz zu den Streitigkeiten innerhalb seiner Regierung wird als Schwäche gesehen und verstärkt die Forderung nach stärkerer Führung.
Um das Vertrauen der Öffentlichkeit zurückzugewinnen und die Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, müssen die drei Parteien SPD, Grüne und FDP ihre Kommunikation besser koordinieren. Das gelingt nur, wenn die Botschaften aufeinander abgestimmt sind. Egal, ob die Koalitionäre kämpferisch oder nachdenklich sind – sie sollten es künftig gemeinsam sein.
Um das zu erreichen, genügen schon einfache Schritte. Gemeinsame Pressekonferenzen sind bislang vor allem Bühnen, auf denen man zeigt, wie man sich gerade so noch zusammengerauft hat. Vielleicht würde es helfen, die Pressekonferenz nicht als Ereignis zu nutzen, sich abgekämpft und unzufrieden zu zeigen.
Gerade hier gäbe es die Möglichkeit, gemeinsam in der Öffentlichkeit mit einer Stimme zu sprechen. Dazu muss sich der Charakter der Veranstaltung wandeln. Sie wäre besser ein Ort, an dem man den neuesten Kompromiss präsentiert. Aristide Briand wird oft zitiert, ein guter Kompromiss sei daran zu erkennen, dass alle damit unzufrieden seien. Für eine Koalition, die wirklich Gemeinsames vor hat, sollte das nicht gelten. Hier sollte ein Kompromiss eine gute Lösung sein, in der sich jeder Partner wiederfindet.
Überhaupt ist der Weg in die Öffentlichkeit in der Mediendemokratie ein dorniger. Ministerin A macht einen Aufschlag in der „Bild am Sonntag“, am Montagmorgen kontert Minister B im „Morgenmagazin“, und Montagabend stänkert noch jemand bei „Hart aber fair“. Nach dem althergebrachten Agendasetting und der traditionellen Medienlogik mag das funktionieren. Für die derzeitige Regierung funktioniert das aber nicht.
Vielleicht probiert die Ampelkoalition einmal etwas Verrücktes: und spricht sich ab. Es gibt einen Koalitionsvertrag, es gibt gemeinsame Krisen, die es zu überstehen gilt – allein diese Zutaten sollten ausreichen, sich medienpolitische Disziplin und strategisches Kalkül aufzuerlegen und dann auch zu befolgen.
Das widerspricht natürlich den erlernten Traditionen. Demnach geht es zupackend zu in der Zusammenarbeit zwischen Partnern, die nicht überall Schulter an Schulter stehen, so wie es ja auch normal ist. Wenn sich aber eins festhalten lässt, dann, dass das als „Fortschrittskoalition“ gestartete Bündnis mit traditionellen Rezepten nicht besonders gut gefahren ist. Vielleicht probieren die Ampelparteien ja auch in der Kommunikation einmal etwas Neues. Das wäre dann eine Zeitenwende.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 145 – Thema: Halbzeit. Das Heft können Sie hier bestellen.