Plötzlich Opposition

Politik

Irgendwann nervt es: „Ihr habt doch 16 Jahre regiert.“ Seit zwei Jahren werfen die Ampelkoalitionäre diesen Satz in Diskussionen, wenn sie einen Wirkungstreffer landen wollen. Und ganz falsch ist er nicht. In 16 Jahren unter Angela Merkel verschlief Deutschland die Erneuerung von Brücken, den Ausbau von Glasfasernetzen, die Energiewende, den Bau neuer Wohnungen – die Liste ließe sich fortführen. Trotzdem ärgert es die Konservativen besonders, wenn die Kritik von ihren Ex-Koalitionspartnern aus der SPD kommt. Seit 1998 haben die Sozialdemokraten insgesamt länger regiert hat als die Union.

Neuerdings kommt es aber vor, dass Unionspolitiker mit einem vorbereiteten Konter gegen das 16-Jahre-Argument in eine Diskussion gehen – und gar nicht brauchen. Die Koalitionäre können Patzer nicht mehr einfach auf die Merkel-Jahre schieben. Zu hoch türmen sich die Probleme der Ampelregierung. Heute treibt die Union die Regierung mit Wonne vor sich her. Mit Reden, Anträgen, Anfragen, Interviews und hohen Umfragewerten ist sie jetzt, zwei Jahre später, in der Opposition angekommen, scheint es.

Anfangs war ungewiss, ob die Partei das schafft, nach 16 Jahren Regierung. „Noch wirkt das Ganze eher unkoordiniert“, kommentierte die „Zeit“ 2021. „Ein richtiger Treffer war jedenfalls bislang nicht dabei.“ Die Union lag damals in Trümmern. Wahlverlierer Armin Laschet zog in den Bundestag ein, allerdings ins zweite Glied, und gratulierte artig den Wahlsiegern. Die übrigen Unionsleute versuchten sich in ersten Attacken und suchten nach Themen. Das erste war schnell gefunden. „Wir haben Sorgen, bei dem, was zu Migration in diesem Koalitionsvertrag steht“, sagte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Auch die geplante Legalisierung von Cannabis stieß der Union übel auf.

Die Neuaufstellung der Fraktion bestimmte der damalige Fraktionschef Ralph Brinkhaus. Er besetzte den Vorstand mit Gefolgsleuten, obwohl viele schon ahnten, dass seine Tage als Fraktionsvorsitzender bald gezählt sein würden. Im parlamentarischen Alltag musste die Union dann das Oppositionshandwerk lernen und konnte dabei die alten Informationskanäle nicht nutzen. Ein Mitarbeiter erzählt, früher habe man im zuständigen Ministerium angerufen und gefragt: „Habt ihr nicht ein Konzept oder Papier in einer Fachabteilung?“ Das gehe nun nicht mehr. Anderswo ist zu hören, es gebe noch Gesprächskanäle in die lange unionsgeführten Ministerien für Wirtschaft und Verkehr. Beim Innenministerium dagegen würden in der Wolle schwarz gefärbte Beamte angeblich nicht in alle Themen eingeweiht.

Heute attestieren Unionsmitarbeiter den Arbeitsgemeinschaften der Fraktion, gut in ihren Themen angekommen zu sein. Allein beim Thema Haushalt habe niemand die Schuhe des 2021 ausgeschiedenen Chefhaushälters Eckhardt Rehberg richtig ausfüllen können.

Merz ist angekommen

Seit seinem Antritt als Parteichef im Januar 2022 hat Friedrich Merz die Parteizentrale mehrfach umgebaut. In der Fraktion konnte Merz dagegen wenig gestalten. Die Aufstellung erbte er von Brinkhaus. Nach Meinung vieler in der Union hat Merz sich damit gut arrangiert. Es gebe keine klaren Blöcke, keine „Anti-Lager“ mehr, heißt es. Merz fördere die Debatte, habe eine klare Linie und lasse sich überzeugen. Nach der Erstarrung unter Kauder und dem Laisser-faire unter Brinkhaus markiere das ein neues Kapitel für die Fraktion.

Anfangs schienen sich die Befürchtungen zu bestätigen, Merz sei nach der langen politischen Abstinenz nicht mehr auf der Höhe. Mit Äußerungen über den „Sozialtourismus“ ukrainischer Flüchtlinge und der Bezeichnung „kleine Paschas“ für junge Migranten erntete Merz Shitstorms. In der TV-Sendung „Miosga“ entgegnete Merz darauf, der Oppositionsführer dürfe „auch mal zuspitzen.“

Seit Generalsekretär Carsten Linnemann an seiner Seite ist, läuft es besser für Merz. Er kann Linnemann die Abteilung Attacke überlassen und sich öfter in der Zurückhaltung üben, die die Deutschen von ihrem politischen Führungspersonal grundsätzlich erwarten. Inzwischen ist Merz fünftbeliebtester Politiker der Republik. Seine möglichen Konkurrenten um die Kanzlerkandidatur, die Ministerpräsidenten Hendrik Wüst und Markus Söder liegen allerdings auf Platz zwei und drei vor ihm.

Im Bundestag hat Merz seine Rolle als Oppositionsführer früh angenommen. Seine Schlagabtausche mit Kanzler Olaf Scholz bieten dem Politikjournalismus erstmals seit Langem wieder den Anlass, größer über Bundestagsdebatten zu berichten. Scholz („Sie sind eine Mimose“) und Merz („Sie können es nicht!“) bringen öfter auch denkwürdige Zitate mit ins Duell. Dass seine Sprüche künftig im Rahmen bleiben, ist die Voraussetzung dafür, dass Merz seine Partei tragen kann. In der Union hoffen sie, dass die Lernkurve bei den kontroversen Äußerungen nachhaltig ist.“

Geblieben um zu bleiben

Opposition statt Regierungsbank bedeutet auch: Es sind deutlich weniger Posten zu vergeben. Wenn dann noch Partei- und Fraktionsvorsitz – wie aktuell – in eine Hand fallen, stehen einige vormalige Funktionsträger ohne Amt da. Zugleich muss die Partei sich für eine künftige Regierungsbeteiligung in Stellung bringen. In Berlin kursieren bereits Listen mit Namen, die für Ministerämter in Frage kommen.

Keine Zweifel an seinen Ambitionen gibt es bei Jens Spahn. Nach der Bundestagswahl nahm er sich zurück, um Abstand von seinem Amt als Gesundheitsminister zu gewinnen. Mit Ausbruch des Ukrainekrieges kam er zurück und schaltete sich in Energiethemen ein. Nach anfänglichen persönlichen Schwierigkeiten ist Spahn mit Parteichef Merz in einen professionellen Arbeitsmodus eingetreten. Er hat seine neue Rolle gefunden und gilt unionsintern als unumstritten.

Das kann man von Julia Klöckner nicht behaupten. Neben Spahn ist sie die zweite Ex-Ministerin, die auch in Zukunft eine Rolle bei der Union spielen möchte. Als Schatzmeisterin könne sie zwar erfolgreich reiche Gönner dazu bewegen, Geld locker zu machen, wie es intern heißt. An Spahns selbstauferlegtes Redeverbot zu ehemaligen Fachthemen hält sie sich jedoch nicht. Dass sie sich immer noch zu landwirtschaftlichen Themen einlässt, nervt in der Fraktion nicht nur den agrarpolitischen Sprecher Albert Stegemann.

Andere haben sich in der Opposition eingerichtet. Dorothee Bär, noch immer Nachwuchshoffnung der CSU, hat in ihrem neuen Ressort Familienpolitik mit dem Kampf gegen Prostitution ihr Thema für die Legislatur gefunden. Anja Karliczek bleibt als tourismuspolitische Fraktionssprecherin so unsichtbar wie als Bildungsministerin.

Wendiges Schnellboot

Ist die Union einfach dagegen – oder auch mal dafür? Eine krawallige Oppositionspartei will sie nicht sein. Zu stark ist das Gefühl, eigentlich staatstragend zu sein. An diese Selbstwahrnehmung appellieren die Koalitionäre besonders gern. So hat die Union rund die Hälfte der Regierungsanträge im Bundestag unterstützt, stimmte mit der Regierung für Waffenlieferungen an die Ukraine.

„Opposition ist ein kleines, wendiges Schnellboot und hat dadurch auch Vorzüge gegenüber dem großen Tanker einer Regierungskoalition”, sagt der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Thorsten Frei, zu p&k. Im Parlament muss die Union nie gegen ihre Überzeugung stimmen. Auf ihre Stimmen kommt es im Normalfall nicht an. Wo sie gebraucht wird, hat die Union einiges durchgesetzt. Beim Sondervermögen der Bundeswehr, wofür das Grundgesetz geändert werden musste, pochte die Fraktion darauf, dass die Mittel allein in die Bundeswehr fließen.

Seit dem vergangenen Jahr nutzt die Union vermehrt ihre Stimmen im Bundesrat als Hebel für Gesetzesvorhaben der Ampel, die von der Zustimmung der Länderkammer abhängen. Ein aktuelles Beispiel ist das Gezerre um das im Bundestag bereits beschlossene Wachstumschancengesetz, das die unionsgeführten Länder im Bundesrat mit Zugeständnissen beim Agrardiesel verknüpfen. Hält die Front aus Bundestagsfraktion und Ministerpräsidenten, kann die Union mit dieser Taktik auch inhaltlich etwas herausholen. Das Bürgergeld konnte sie über den Vermittlungsausschuss etwas entschärfen.

„Die CDU unter Friedrich Merz zeichnet sich durch ein gutes Mannschaftsspiel und ein enges Zusammenwirken unserer Akteure auf Bundes- und Landesebene aus“, sagt Thüringens CDU-Chef Mario Voigt zu p&k.

Nicht alles geplant

Ganz reibungslos läuft die Zusammenarbeit nicht immer. Beim Thema Schuldenbremse haben Merz und Linnemann, Gegenwind aus Berlin und Hessen bekommen. Beim gescheiterten Deutschlandpakt düpierten die Landeschefs ihren Vorsitzenden, indem sie an der Bundestagsfraktion vorbei Beschlüsse mit Kanzler Scholz beim Thema Migration verabredeten.

Im Bundestag strapaziert die Union gern die Fraktionsdisziplin der Regierung mit Anträgen, denen Teile der Koalition nicht abgeneigt sind. Mit einem Taurus-Antrag brachte die Fraktion die Regierungsfraktionen dazu, der Ukraine in einem eigenen Antrag weitreichende Waffensysteme zu versprechen und ihre Grenzen von 1991 inklusive Krim wiederherstellen zu wollen.

Besonders zugesetzt hat die Union der Regierung aber auf dem Rechtsweg. Mit ihrer Haushaltsklage hat sie der Ampel vorerst die Möglichkeit genommen, interne Gräben mit Geld zuzuschütten. Auch zum Wahlgesetz ist eine Klage anhängig. Einer richtigen Strategie entspringt das aber nicht. Die Klage, mit der das Heizungsgesetz im vergangenen Juli gestoppt wurde, reichte der Abgeordnete Thomas Heilmann im Alleingang ein.

Oppositionsarbeit darf auch grobe Züge tragen. Kleinteilige Arbeit lohnt nicht, die Regierung lehnt Oppositionsanträge ohnehin nur ab. „In der Opposition kommt es entscheidend auf kommunikative Alternativen an“, sagt Thorsten Frei deshalb. Die Arbeit müsse deshalb „in die Erarbeitung einer durchdachten großen Linie, nicht in die Erarbeitung des kleinteiligen Details fließen“.

Trotzdem sind Anträge nützlich. Denn wichtig ist dabei die Frage: Was würden wir tun? Im Februar legten Parteichef Merz und CSU-Landesgruppenchef Dobrindt in einem offenen Brief an Bundeskanzler Scholz ein 12-Punkte-Programm für die deutsche Wirtschaft vor. Wesentliche Forderungen darin waren vorher in Anträgen ausgearbeitet worden.

Ein zentraler Bestandteil der Oppositionsarbeit sind Kleine Anfragen an die Regierung. Die Abstimmung dazu erfolgt über etablierte Prozesse und Arbeitsgruppen. Ein Unionsmitarbeiter nennt die Situation hier „mühsam“. Oft seien die Fragebögen der Union zu lang. Im Abspracheprozess kippe jeder seine fünf Fragen rein, sagt er. Das mache es der Regierung zu leicht, Antworten gesammelt und dann noch schwammig zu beantworten.

„Die muss man zum Jagen tragen“, klagt eine Journalistin. Auf Anregungen, die Zeitung recherchiere einer Geschichte hinterher und die Union flankiere das mit einer passenden Kleinen Anfrage im Parlament, gingen Abgeordnete oft nicht ein. Zur Lethargie komme das Problem des Know-how. „In den Büros sitzen wenige, die Kleine Anfragen schreiben können.“

Der Fokus der Unionsfraktion liegt aber ohnehin woanders. Viel lieber stellen Unionsabgeordnete Einzelfragen im Parlament. Die muss die Regierung innerhalb einer Woche beantworten. „Wir können hier rasch und gezielt auf Schwachstellen der Regierung zielen“, sagt ein Mitarbeiter.

Viel kommt jetzt auf den Parteitag im Mai an. Der Parteivorsitzende Merz und der restliche Parteivorstand müssen hier mit guten Ergebnissen bestätigt werden. Das Wichtigste ist: Einigkeit, Einigkeit, Einigkeit. Die hilft auch in normalen Zeiten, kann jetzt aber noch zum großen Unterscheidungsmerkmal zur zerstrittenen Regierung werden.

Das wird kein Selbstläufer. Die Fraktion ist selbstbewusst, auf vielen Plätzen sitzen direkt gewählte Abgeordnete. Es ist schwer vorstellbar, dass ein Norbert Röttgen sich in der Russlandpolitik zurückhalt. Die östlichen Landesverbände stellt das wegen ihres weichen Russlandkurses vor ein Problem. Sie haben Wahlkämpfe in Sachsen, Thüringen und Brandenburg vor der Brust. „Die Meinung im Osten ist: Wir wissen am besten, was wir hier machen. Die Bundespolitik hat da Sendepause“, sagt ein Unionsmann. In Berlin entgegnet man: Auf die Regierung müsse man weiter reagieren, die Zeit stehe ja nicht still.

Blick nach vorn

Mit dem Thema Wirtschaft will die Union die Regierung weiter vor sich hertreiben. Die Sorge, dass die Ampel in Zeiten der Krise die Wirtschaft mit ungewissem Ausgang in ihrer Substanz umbaut, statt sie zu stärken, ist mit „Deindustrialisierung“ auf den Begriff gebracht.

Ein Trumpf könnte da das Konrad-Adenauer-Haus werden. Merkel hatte die Partei zunehmend aus dem Kanzleramt heraus geführt. Auch deshalb war die CDU zur ersten Bundestagswahl ohne sie nicht kampagnenfähig. Linnemann räumt die Parteizentrale kräftig auf. Aus der Union hört man über ihn nur Gutes. Auf Parteievents begegne er den Leuten auf Augenhöhe und scheue selbst die Auseinandersetzung mit dem kleinsten Parteimitglied nicht.

Entscheidend wird, ob er die notorisch schwierige Verwaltung im Adenauer-Haus in den Griff bekommt. Besorgt beobachten führende Christdemokraten, dass es noch keine Kampagne zur Europawahl gibt. Die Landesverbände werden nervös – die CDU tritt als einzige Partei auch zur Europawahl mit Landeslisten an.

Programmatisch muss die Union klarmachen, wofür sie steht. Bislang steht noch im Vordergrund, welche Regierungsmaßnahmen sie rückabwickeln will. Im Grundsatzprogramm sieht dessen Ko-Verantwortlicher Mario Voigt „eine fortschrittliche, konservative Zukunftsidee für unser Land“. Parteistimmen sagen: „Es muss durch alle Bereiche eine Vorstellung vorhanden sein, was wir eigentlich machen wollen.“ Bis die vorhanden ist, sollten sich die Abgeordneten vielleicht doch noch damit beschäftigen, wie man eine Kleine Anfrage rund macht.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 146 – Thema: Plötzlich Opposition. Das Heft können Sie hier bestellen.