„Bonn war 50 Jahre gute Politik“

Interview

p&k: Herr Neukirchen, Herr Wonka, Herr Wiefelspütz, wann waren Sie zuletzt in Bonn?

Johannes Neukirchen: Vor zwei Wochen.

Dieter Wonka: Vor zwei Jahren. Es kam mir vor, als sei ich schon hundert Jahre nicht mehr da gewesen.

Warum?

Wonka: Weil Bonn so schrecklich klein ist, wenn man aus Berlin kommt.

Und Sie, Herr Wiefelspütz? Wann waren Sie zuletzt dort?

Dieter Wiefelspütz: Was ist Bonn? Wo liegt das?

In drei Worten, jeder von Ihnen bitte: „Bonn war/ist für mich …“

Neukirchen: Bonn war für mich 50 Jahre gute Politik und die Perspektive, für Deutschland, für Europa mehr zu erreichen, was dann Gott sei Dank auch gelungen ist. Ich glaube, dass das, was später mit der Einheit erreicht worden ist, nur auf dieser Grundlage möglich war. Hätte man in Bonn eine desolate Situation gehabt, wäre vieles anders gelaufen. Ich halte im Übrigen nichts davon, die kleine ehemalige Bundeshauptstadt Bonn zu vergleichen mit der großen Bundeshauptstadt und europäischen Metropole Berlin. Das sind zwei unterschiedliche Stadtdimensionen, aber auch zwei unterschiedliche Dimensionen für Politik.

Herr Wonka, in drei Worten bitte.

Wonka: Ja, in drei Worten, das ist die Aufgabe, nicht in drei Sätzen … Bonn war für mich der Nabel deutscher Politik, bevor ich publizistisch erwachsen wurde. Und Bonn war für mich Kohl. Berlin ist für mich eine offene Tür, durch die Luft reinkommt nach Deutschland. Bonn ist immer noch eine tolle Erinnerung. Ich habe gern dort gelebt und bin jetzt heilfroh, dass es mich nach Berlin verschlagen hat.

Wiefelspütz: Im Selbstverständnis war Bonn ja ein Provisorium, bis kurz vor der Wiedervereinigung. Interessant übrigens, dass keiner geahnt hat, wie schnell das dann gehen würde. In dem Moment, als Kohl gesagt hat, jetzt ist Bonn richtig Hauptstadt, hat der Prozess der Wiedervereinigung begonnen. Was übrigens deutlich macht, wie völlig falsch Politiker manchmal in ihren Einschätzungen liegen. Bonn war der ideale Standort – klein, bescheiden, zurückhaltend und provisorisch – für eine Demokratie, die laufen gelernt hat, die laufen lernen musste. Als sie erwachsen war, konnte sie den Sprung nach Berlin wagen.

Sie alle drei haben viele Jahre in Bonn gelebt und gearbeitet. Kennen Sie sich aus der Zeit?

Wonka: Herr Neukirchen und ich haben uns über Helmut Kohl kennen gelernt. Sie, Herr Neukirchen, waren ein glühender Fan von Kohl …

Neukirchen: Mitarbeiter …

Wonka: Das eine schließt das andere ja nicht aus. Ich war damals tief beeindruckt von Kohl. Ich habe dann aber schnell gemerkt, dass das Nein sagen bei ihm gelernt werden musste. Kohl war eine eindrucksvolle Figur mit einer beeindruckenden Aura – sich ihm zu widersetzen und seine eigene Meinung zu vertreten, das war ein interessanter Kampfprozess. Und ich bin ihm bis heute dankbar, dass er mich das hat lernen lassen. Als ich jung war, hat er mich einmal in seine berühmte Tee-Hintergrundrunde ins Kanzleramt eingeladen. Doch nachdem ich fünf, sechs Fragen gestellt hatte, die ihm nicht gefallen haben, wurde ich nie wieder eingeladen.

Inwieweit steht diese Anekdote sinnbildlich für die politische Kultur in Bonn? Wäre so etwas heute auch möglich?

Wonka: Ach, ich könnte Ihnen Geschichten erzählen von Journalisten, die voller Respekt bei Hofe im Kanzleramt sitzen – mit dem Unterschied, dass Helmut Kohl heute Angela Merkel heißt. Die geben ihre eigene Meinung beim Pförtner ab und sind beeindruckt. Das geht hinauf bis zu hochbestallten Redakteuren aus den öffentlich-rechtlichen Anstalten. Das Rückgrat der Journalisten ist nicht stärker geworden in Berlin.

Herr Wiefelspütz, was sind Ihre Erinnerungen an Herrn Wonka aus Bonner Zeiten? Hat er damals auch schon so viele unbequeme Fragen gestellt?

Wiefelspütz: Nein, wir haben keinen Kontakt gehabt.

Wonka: Ich wusste, dass es ihn gibt, aber er wusste nicht, dass es mich gibt. Ich war ein kleiner Provinzjournalist und das ist so geblieben. (lacht)

Wiefelspütz: Ich bin übrigens der Auffassung, dass man die Dinge nicht zu sehr mythisieren oder überhöhen sollte. Die Bedingungen, unter denen Politik stattfindet, waren in Bonn nicht anders als in Berlin. Dass wir jetzt in Berlin sind, ist völlig richtig. Es redet ja heute kein Mensch mehr von Bonn, denn Bonn ist so weit weg. Das ist wirklich Archäologie. Heute ist völlig klar: Berlin ist die Hauptstadt.

Dabei haben Sie selbst 1991 für Bonn gestimmt.

Wiefelspütz: Ja, das war ein großer Fehler von mir, den ich heute nicht mehr nachvollziehen kann. Aber die Vorstellung, die damals mit der Entscheidung für Berlin verbunden war, war: Wir müssen für das vereinte Deutschland einen bestimmten Ort finden. Das war völliger Blödsinn. Wenn die Hauptstadt heute Dortmund wäre oder Uelzen oder München, würde der politische Prozess genauso ablaufen wie in Berlin. Es gibt ein paar Unterschiede: die elektronischen Medien, die privaten Fernsehsender. Die Bühne ist etwas größer in Berlin. Aber ansonsten ist die Vorstellung, dass wir hier in Berlin eine andere Politik machen und eine andere politische Kultur zelebrieren als in Bonn, meines Erachtens völlig falsch.

Warum?

Weil der Ort nicht das Entscheidende ist. Wir leben hier genauso in unserer Enklave auf einem Quadratkilometer. Man begegnet sich dauernd. Die Familie ist zuhause. Man sitzt allein in Berlin. Der eine oder andere leistet sich vielleicht einen Freund oder eine Freundin. Das war’s dann aber auch. Das war in Bonn genauso. Vielleicht geht es hier ein bisschen hektischer zu als in Bonn, aber ansonsten sind die Strukturen der Politik genau gleich. Ich war 12, 13 Jahre Abgeordneter in Bonn und 12, 13 Jahre Abgeordneter in Berlin und ich sage Ihnen: Ich kann keinen großen Unterschied feststellen. Die Städte sind völlig anders, klar. Berlin hat Weltklassekultur, aber für Kultur habe ich weder in Bonn noch in Berlin Zeit gehabt, weil ich mich immer über die Arbeit definiert habe. Das sind alles Überhöhungen, die mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun haben.

Herr Wonka, Sie schütteln den Kopf.

Wonka: Ja, weil ich diese Meinung nicht teilen kann. Für mich persönlich ist die Erfahrung ganz wichtig, dass Deutschland trotz Berlin als Hauptstadt und trotz Wiedervereinigung nicht übergeschnappt ist. Und diese Erfahrung hat auch die Politik verändert. Es gab ja viele Abgeordnete, die damals für Bonn gestimmt haben, weil sie diesem Deutschland nicht so ganz über den Weg getraut haben. Und das Wissen, dass man Deutschland über den Weg trauen kann und dass es auf keine dummen Gedanken kommt, nur weil der Kanzler oder die Kanzlerin jetzt in Berlin sitzt, dieses Wissen beeinflusst Politik. Und das Zweite ist: Natürlich kann man als Abgeordneter heute auch in Berlin so leben wie früher in Bonn, also rund um den Reichstag wohnen und morgens in den Bundestag oder in irgendein Spesenlokal oder Lobbyistenbüro fallen. Man kann aber auch in den Wedding ziehen. In Berlin ist es eine bewusste Entscheidung zu sagen, ich nehme das Leben um mich herum nicht zur Kenntnis und bleibe unter meiner kleinen Käseglocke. In Bonn hingegen war alles eine Käseglocke.

Wiefelspütz: Aber dass sich die politische Kultur verändert hat, kann ich unter dem Gesichtspunkt der Hauptstadtfrage wirklich nicht erkennen. Wir haben hier in Deutschland unsere eigene spezifische Form von politischer Kultur entwickelt. Wir sind eine sehr zivile Demokratie; Politiker, Journalisten und Bürger bewegen sich fast immer auf Augenhöhe. Wir inszenieren den Staat ganz anders, als es in Spanien, Frankreich, Großbritannien oder den USA gemacht wird. Bei uns gibt es keine Militärparaden. Das wäre unvorstellbar.

Wonka: Na, warten Sie mal ab, was passiert, wenn Frau von der Leyen erst lang genug im Amt ist.

Wiefelspütz: Ja, aber bleiben Sie an dieser Stelle bitte seriös. Wir haben hier – mit Vor- und mit Nachteilen, das will ich gar nicht bestreiten – eine ganz bestimmte Form von Demokratie etabliert. Die ist in Bonn gegründet worden: bescheiden, zivil, ohne Arroganz nach außen. Und das hat sich nach dem Umzug nach Berlin nicht verändert – mit der Folge, dass das Volk gar nicht will, dass wir mehr internationale Verantwortung etwa in Form von Auslandseinsätzen der Bundeswehr übernehmen. Diesen zivilen Stil der Politik finde ich persönlich sehr angenehm.

Neukirchen: Herr Wiefelspütz, ich möchte Ihnen ausdrücklich zustimmen, dass die Grundströmungen und Grundtendenzen gleich geblieben sind …

Wiefelspütz (unterbricht): … Und die sind in Bonn erarbeitet worden, das darf man nicht vergessen. Das ist ein großes Verdienst der Bonner, der Rheinischen Republik.

Neukirchen: Aber die Bühne ist eine andere, da hat Herr Wonka Recht. Wir hatten in Bonn drei, wenn Sie so wollen, Communitys: die Political Community, die Media Community und, ganz zurückgenommen, die Diplomatic Community. Hier hat es deutliche Akzentverschiebungen gegeben. In Berlin gibt es eine mediale Präsenz und ein mediales Übergewicht, das auch auf die Politik wirkt. Auch die Botschaften sind in Berlin viel präsenter. Schauen Sie doch mal, wie aktiv die Amerikaner TTIP hier betreiben. Ausdrücklich noch mal Zustimmung zu Herrn Wiefelspütz: Diese politische Kultur, die uns trägt, die aber immer wieder hergestellt werden muss, die ist in Bonn erarbeitet worden. Und sie ist Gott sei Dank auch der innere Kodex der Politiker, die innerhalb der Bundesregierung und im Parlament Verantwortung tragen. Ich behaupte, dass die politische Kultur maßgeblich von den Parlamentariern bestimmt wird und nicht allein von der Exekutive.

Hier geht es zum zweiten und dritten Teil unseres Streitgesprächs über Lobbyismus, die politische Kultur, Bürgeranfragen und die gestiegene Belastung der Abgeordneten in Berlin.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Bonn – wo liegt das?. Das Heft können Sie hier bestellen.