Herr Wiefelspütz, warum haben Sie damals gegen Berlin gestimmt?
Wiefelspütz: Weil ich ein junger Abgeordneter war und keinen Überblick hatte. Und weil mein Ministerpräsident damals Johannes Rau war, der meinte, das müsse so bleiben, und Rau habe ich sehr geschätzt. Heute bekenne ich, dass das ein banaler Irrtum war.
In einem Porträt wurden Sie vor einigen Monaten mit dem Satz zitiert: „Dass ich als Politiker im Deutschen Bundestag in Berlin arbeiten darf, an einem Ort, der satt ist von Geschichte – dieser Verantwortung bin ich mir immer bewusst gewesen.“ Haben Sie dieses Geschichtsgesättigte manchmal als Last empfunden?
Wiefelspütz: Wenn ich im Parlament saß, dann war mir immer klar, dass sich zehn Minuten zu Fuß entfernt Hitler erschossen hat, um ein Beispiel zu nennen. Gerade das Parlamentsviertel ist ein Ort, wo in jeder Sekunde, auf jedem Millimeter, unsere Geschichte präsent ist – eine leider sehr blutgetränkte Geschichte. Ich habe es als Riesengeschenk empfunden, als Parlamentarier an dieser Stelle eine friedliche Demokratie mitgestalten zu dürfen. Deshalb müssen einem ja nicht dauernd die Tränen kommen, aber dieser besonderen Verantwortung war ich mir in Berlin immer bewusst. Das gab es in Bonn natürlich aus guten Gründen nicht.
Herr Wonka, Herr Neukirchen, wie hätten Sie damals abgestimmt?
Wonka: Ich gehöre wie gesagt zu einer Generation, der dieses gesamtdeutsche Deutschland nicht geheuer war. Ich bin dem Irrtum unterlegen, dass ich gedacht habe: In Berlin wird man die Erfahrungen, die man in den Jahrzehnten davor in der Rheinischen Republik gesammelt hat, ganz schnell ad acta legen und mit der größeren Macht etwas ganz Neues anstellen wollen …
Wiefelspütz (unterbricht): Hat man aber nicht.
Wonka: Heute bin ich froh drüber, dass Deutschland erwachsen geworden ist und dass es sich befreit hat von diesem Bonner Mief. Ich finde, dass es die Bonner Zeit großartig hinter sich gelassen hat. Es hat zwei, drei Jahre gedauert, doch dann haben die Politik und auch wir Medienvertreter gemerkt, dass wir immer noch in demselben Land leben, aber dass wir mit anderen Grundlagen und mit einer anderen Denke Politik machen sollten.
Neukirchen: Ich brauchte Gott sei Dank nicht abzustimmen, denn das wäre für mich eine schwierige Situation geworden. Natürlich war es im Interesse des Landes Rheinland-Pfalz, dass Bonn Hauptstadt bleibt. Schon allein unter Arbeitsplatzgesichtspunkten: Die halbe Beamtenschaft wohnte ja auf rheinland-pfälzischem Gebiet. Ich persönlich war für Berlin. Aber das war natürlich eine private Meinung, die ich nicht artikulieren durfte. Insofern kann ich nachempfinden, dass man aus Solidarität zu einem verehrten Ministerpräsidenten diese oder jene Entscheidung…
Wiefelspütz (unterbricht): Das war aber ein Fehler. Und Helmut Kohl war ja eindeutig für Berlin.
Neukirchen: Das stimmt, Kohl war auch für Berlin.
Wiefelspütz: Das zeigt doch, dass man sich durchaus aus regionalpolitischen Interessen lösen konnte.
Neukirchen: Ja. Allerdings war Kohl damals nicht mehr rheinland-pfälzischer Ministerpräsident.
Herr Neukirchen, wenig später hätten Sie auf die Interessen Ihres Landes in der Hauptstadtfrage keine Rücksicht mehr nehmen müssen, da Sie kurz nach dem Hauptstadtbeschluss zu BMW gewechselt sind. Warum dieser Seitenwechsel? Hatten Sie nach 20 Jahren genug von der Ministerialbürokratie?
Neukirchen: Nein. Nach der verlorenen Landtagswahl in Rheinland-Pfalz im April 1991 war ich als politischer Beamter in den einstweiligen Ruhestand versetzt worden. Kurz danach hatte ich eine ganze Reihe von Anfragen aus der Wirtschaft; die von BMW war die erste. Ich habe dann zwölf wirklich fantastische Jahre lang bei BMW als Konzernbevollmächtigter die Politik analysiert und die Interessen von BMW vertreten.
Wo sehen Sie die größten Unterschiede zwischen der Lobbyszene damals in Bonn und heute in Berlin?
Neukirchen: In Bonn war die Repräsentanten-Community sehr klein. Die Präsenz dort war nicht wirklich nötig, denn wenn es richtig ernst wurde, war man ja innerhalb einer Stunde aus dem Ruhrgebiet, aus Düsseldorf, aus dem Rhein-Main-Gebiet und auch aus Stuttgart in der Bundeshauptstadt. Das ist in Berlin anders, es gibt einen starken Zuwachs an Repräsentanzen. Auch die Art der wirtschaftlichen Vertretung hat sich verändert …
Wonka (unterbricht): Das kann man wohl sagen. Es ist klebrig geworden, das Netz in Berlin.
Das war in Bonn nicht so?
Wonka: Nein.
Neukirchen: Die Struktur der Wirtschaft hat sich verschoben, hin zu Dienstleistungen, in den IT-Bereich, in den Kreativitätsbereich. Die klassische Industrie-Lobby hingegen ist eigentlich auf demselben Stand geblieben. Interessant ist auch, wie sich bei den Spitzenverbänden die Gewichte verändert haben: BDI, DIHT, auch BDA sind hier viel präsenter. Ich glaube aber, dass sie längst nicht mehr so wirkungsmächtig sind wie in der Bonner Zeit.
Wiefelspütz: Das Selbstverständnis in Bonn war auch aus politischen Gründen jahrzehntelang: Wir sind ein Provisorium. Durch den Umzug von Bonn nach Berlin ist Politik in all ihren Facetten deutlich professioneller geworden. Ich habe als Abgeordneter erstmals hier in Berlin angemessene, professionelle Arbeitsbedingungen gehabt. Also ein anständiges Büro, eine Bibliothek, Servicedienste. Das alles war in Bonn zersplittert und ganz fragil. Zum Teil haben die Abgeordneten ja sogar in Containern gearbeitet. Sie haben deswegen beileibe nicht gelitten. Was ich damit aber sagen will: Erstmals hier in Berlin haben wir in allen Facetten von Politik professionelle Bedingungen – einschließlich der Lobbyarbeit. Natürlich geht das mit bestimmten Begleiterscheinungen einher – mitunter auch negativer Art.
Hatten Sie denn im Zuge Ihres langen Abgeordnetenlebens das Gefühl, zunehmend ins Visier von Interessenvertretern zu geraten?
Wiefelspütz: Ich muss Ihnen ganz freimütig sagen: Ich habe zu Lobbyarbeit ein außerordentlich entspanntes Verhältnis …
Neukirchen: Gott sei Dank.
Wiefelspütz: Aber das sage ich doch nicht Ihnen zuliebe. Alle Interessen sind ehrlich. Und Interessen müssen artikuliert werden. Und als Abgeordneter muss ich mich …
Neukirchen: … entscheiden.
Wiefelspütz: … jedem öffnen, der halbwegs seriös ist, und dann eigene Entscheidungen treffen, die hoffentlich eigenverantwortlich und souverän sind. Aber dass es Interessen gibt, dass es Lobbyismus gibt, finde ich das Normalste von der Welt. Ein Problem wäre es, wenn wir keinen Lobbyismus hätten. Das heißt, als Abgeordneter muss ich mich dauernd mit diesen Interessen auseinandersetzen. Dass man dabei nicht korrupt werden darf, ist völlig klar. Und dass Transparenz hilft und dass man bestimmte Regeln braucht, ist auch klar. Aber Lobbyismus muss sein. Punkt.
Herr Wonka, Sie dürften da eine etwas andere Meinung haben, oder? Immerhin haben Sie über Lobbyisten einmal gesagt: ‚Mich belästigen die zum Glück eher selten.‘
Wonka: Ja, weil das Anzeigengeschäft in den Zeitungen ja deutlich nachlässt, so dass die Konzerne damit nicht mehr viel Druck ausüben können. Aber im Ernst: Ich teile die Ansicht von Herrn Neukirchen, dass die großen Wirtschaftsverbände zwar personell stark aufgestellt sind, aber dass ihr Einfluss in Bonn ungleich höher war als heute. Wenn die heute etwas sagen, geht das schon mal unter. Das hat sicher damit zu tun, dass heute etwa neun Mal so viele Lobbyisten im Bundestag ein- und ausgehen wie zu Bonner Zeiten. Und dieses klebrige Netz, das der Lobbyist von seiner Berufung her hat, zeigt seine Wirkung. In manchen Ministerien geht das so weit, dass Interessenvertreter ganze Gesetzespassagen mitschreiben. Vielleicht war das in Bonn auch schon so. Mir persönlich ist dieses Phänomen aber erst aus der Berliner Republik bekannt.
Wiefelspütz: Dagegen hilft aber doch Transparenz.
Wonka: Stimmt. Ich beschreibe ja nur das Phänomen: Neun oder zehn Mal so viele Lobbyisten wie in Bonn. Das hat nicht nur etwas damit zu tun, dass Deutschland größer geworden ist. So viel gibt es in Ostdeutschland gar nicht Einfluss zu nehmen. Die haben ja nichts. Aber die Art, wie Lobbyisten ihren Arbeitsnachweis führen, ist offenbar sehr erfolgreich. Welche Unternehmen heute eine Hauptstadtrepräsentanz haben! Da fasst man sich ja an den Kopf und denkt: Wieso gebt ihr Hunderttausende von Euros aus …
Wiefelspütz (unterbricht): … Die NGOs sind auch hier.
Wonka: Ich will hier auch gar keine Attacke allein gegen den bösen Kapitalismus reiten. Ich sehe aber die Gefahr, die von diesem übergroßen Lobbyismus in Berlin ausgeht. Und ich glaube nicht, dass alle Abgeordneten souverän genug sind, sich ihrer Einflussnahme in jedem Fall kräftig zu erwehren. Denn hätten die Lobbyisten keinen Erfolg, würden sie ja entlassen.
Wiefelspütz: Was lernen wir daraus?
Wonka: Kampf dem Lobbyismus!
Neukirchen: Na ja.
Wonka: Oder Transparenz.
Neukirchen: Natürlich ist Transparenz einfach notwendig.
Wiefelspütz: Transparenz und Regeln.
Neukirchen: Richtig. Und wenn man 20 Jahre, 25 Jahre als Wirtschaftsvertreter gegenüber der Politik tätig war, dann hat man eine Glaubwürdigkeit erreicht, die einem Einfluss gibt. An die politischen Entscheidungsträger sind durch die Fülle, aber auch durch die Komplexität der Sachverhalte heute größere Anforderungen gestellt. Und das ist die Chance für seriöse Interessenvertretung. Beispiel Finanzwirtschaft im Weltwirtschaftssystem: Da gibt es ganz wenige Leute, die das wirklich durchschauen, und deshalb braucht der Entscheidungsträger hier Hilfestellung. Da ist Expertentum gefordert, auch von Seiten der Interessenvertreter. Der Entscheidungsträger muss dann sortieren: Habe ich hier eine vertrauenswürdige und überprüfbare Informationssituation oder unterliege ich einer Lobby, die rein interessengeleitet ist.
Herr Neukirchen, wie würden Sie die Struktur der Lobby in Berlin beschreiben?
Neukirchen: Es gibt hier etwa 50 bis 70 Vertretungen der klassischen Industrie; alles andere sind Interessengruppen, die sich zum Teil neu gebildet haben. Sehr wirkungsmächtig, auch durch das Zusammenwirken von Öffentlichkeitsarbeit und Medien, sind die NGOs, die Herr Wiefelspütz eben erwähnt hat. Das betreiben sie übrigens viel wirkungsvoller als die klassischen sozialen Interessenvertreter, die aus dem Bereich der Sozialverbände kommen. Die Gewerkschaften sind vor allem dadurch einflussreich, dass sie viele Repräsentanten im Parlament und in der Regierung haben – Gott sei Dank, möchte ich sagen.
Wiefelspütz: Auch eine wichtige Hinterlassenschaft der rheinischen Demokratie.
Neukirchen: Richtig. Ich finde es gut, wenn es eine Rückkopplung zu den Lebenswirklichkeiten im wirtschaftlichen Bereich gibt. Und es ist bedauerlich, dass so wenige Leute aus der Politik in die Wirtschaft und noch viel weniger Leute aus der Wirtschaft in die Politik gehen.
Hier finden Sie den ersten und dritten Teil unseres Streitgesprächs über den politischen Alltag in Bonn, Bürgeranfragen und die gestiegene Belastung der Abgeordneten in Berlin.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Bonn – wo liegt das?. Das Heft können Sie hier bestellen.