Wo sind all die Jungen hin?

Politik

Alle reden über Joe Biden. Genauer: über sein Alter. Im Falle einer Wiederwahl dieses Jahr wäre Biden am Ende seiner zweiten Amtszeit 86 Jahre alt. Auch sein wahrscheinlicher Herausforderer Donald Trump zählt bereits 77 Jahre. Kommentatoren und Wähler diskutieren lebhaft: Können die das noch? Sind sie fit genug, klar genug im Kopf – kurz: Kann man ihnen den Oberbefehl über eine Atommacht anvertrauen?

Details beherrschen die Debatte. Joe Bidens Gang sei steifer, er bewege sich langsamer. Während seiner Reden verhaspele er sich regelmäßig, verwechsele sogar Namen von Staatsführern. Bei Trump sieht es ähnlich aus. Den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán hat Trump kürzlich zum Präsidenten der Türkei ernannt. Die Terror­organisation Hamas hat er wiederholt kulinarisch hochwertig (aber falsch) als „Hummus“ ausgesprochen.

Ganz anders die Debatte in Frankreich: Hier schrieb Gabriel Attal bei seinem Amtsantritt als Frankreichs jüngster Premierminister Geschichte. Mit nur 34 Jahren bringt Attal eine jugendliche Dynamik in ein Amt, das traditionell deutlich ältere Personen bekleideten. Die Reaktionen auf seine Ernennung durch Präsident Emmanuel Macron reichten von Bewunderung für seine Energie und frischen Perspektiven bis hin zu kritischen Stimmen, die seine vermeintlich mangelnde Erfahrung hervorhoben. Auch Spott gab es. Wer denn der „Praktikant“ im Amtssitz Hôtel Matignon sei, lästerten einige Beobachter, und ob Brigitte Macron, die deutlich ältere Ehefrau seines Chefs, ihn nominiert habe.

Junge Antworten auf moderne Probleme

Zuletzt sah es so aus, als wollten viele Bevölkerungen ihr Schicksal in die Hände der Jugend legen. Junge Staatsspitzen wie Finnlands Ministerpräsidentin Sanna Marin (34 bei Amtsantritt), Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern (37 bei Amtsantritt), Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (31 bei Amtsantritt) und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (39 bei Amtsantritt) eroberten politische Machtzentren mit dem Versprechen, vieles anders zu machen. Bis auf Macron sind sie alle passé – aus sehr unterschiedlichen Gründen.

Gemein war und ist ihnen der Ehrgeiz, etwas anders zu machen. Insbesondere Marin und Ardern versuchten, ihre Versprechen der Erneuerung einzulösen. Marin setzte sich in Finnland für die Klimaneutralität bis 2035 ein. Ardern führte in Neuseeland die Zero Carbon Bill ein und erhöhte den Mindestlohn. Kurz hingegen fokussierte sich während seiner Amtszeit darauf, Migration zu begrenzen, und senkte Steuern, um die Wirtschaft zu fördern. Macron engagiert sich stark für den Klimaschutz und führte umfassende Arbeitsmarktreformen durch, um die französische Wirtschaft zu beleben – und wagt es dabei immer wieder, der französischen Gesellschaft einiges zuzumuten.

Ein wichtiges Erfolgskrite­rium für junge Wahlgewinner ist ihr Kommunikationsstil. Weil sie mit neuen Medien aufgewachsen sind, haben sie hier einen Heimvorteil. Marin und Ardern setzten stark auf soziale Medien, um Botschaften direkt in die Bevölkerung zu senden. Ardern setzte Maßstäbe mit ihrer empathischen Kommunikation nach dem rechtsextremen Terroranschlag von Christchurch. Macron fuhr da mehrgleisiger und nutzte sowohl traditionelle als auch soziale Medien, um seine Visionen zu verbreiten.

Wenn die alten Parteien junge Wilde nicht auf den Schild heben, gehen die auch gern andere Wege an den Platzhirschen vorbei. Macron gründete für seinen Wahlkampf die Bewegung „En Marche“ und wirbelte so Frankreichs Parteienlandschaft durcheinander. Kurz richtete seine Partei ganz auf sich aus – aus schwarz wurde türkis und die Partei stand 2017 als „Liste Sebastian Kurz – die neue Volkspartei (ÖVP)“ auf den Wahlzetteln. Gesellschaftsveränderungen spielten ihnen in die Hände: Die Menschen schauen auf Personen, die Parteibindung sinkt.

Im Ernstfall lieferten sie ab

Aber wie schlugen sich die Jungen im Ernstfall? In der Coronapandemie riegelte Ardern entschlossen Neuseeland ab. Erst nach einer Impfkampagne öffnete sie das Land wieder. Die Insel kam mit einer der niedrigsten Sterberaten weltweit durch die Pandemie. Marin führte Finnland nicht nur durch die Pandemie, sondern trieb nach dem russischen Überfall auf die Ukraine umgehend Finnlands Beitritt zur NATO voran. Auch Kurz implementierte frühzeitige Lockdowns und Teststrategien, während Macron Frankreich durch die Pandemie und die Herausforderungen der Gelbwestenbewegung manövrierte.

Emmanuel Macron befindet sich aktuell in seiner zweiten Amtszeit. Von ihm abgesehen ist keiner unserer kleinen Auswahl mehr politisch aktiv. Marin verlor die Wahl 2023, in der ihre Sozialdemokraten die Position als stärkste Kraft im Parlament verloren. Sie zog sich vollständig aus der Politik zurück. Ardern kündigte Anfang 2023 überraschend ihren Rücktritt an. Ihr fehle die Kraft, das Amt weiter auszufüllen, sagte sie.

Kurz dagegen legte einen unfreiwilligen und unrühmlichen Abgang hin. Nach Ermittlungen der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft wegen Korruptionsverdachts trat er 2021 als Bundeskanzler zurück und wurde kürzlich wegen Falschaussage vor einem Untersuchungsausschuss zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.

Von Kurz abgesehen – Gründe für das Aus der jungen Regierungschefinnen stechen ins Auge. Ardern fühlte sich ihrer großen Aufgabe offenbar nicht mehr gewachsen. Marin war schon vor ihrer Abwahl (die vornehmlich den steigenden Lebenshaltungskosten und der Ausgabenpolitik ihrer Regierung zugerechnet wird) in der Mitte eines Shitstorms. 2022 tauchte sie in einem Tanzvideo auf, das sogar die deutsche „Zeit“ beschäftigte. Die Journalistin Jana Hensel urteilte dort, das sei einer Regierungschefin nicht würdig.

Die Rückkehr der Älteren

Der Rückzug von Ardern und Marin – was bedeutet das nun? Die positive Lesart wäre: Die jüngere Generation haushaltet besser mit ihren Kräften. Ardern ging den verantwortungsvollen Schritt und gab die Verantwortung ab. Die negative: Politische Spitzenpositionen müssen langfristig auf die Energie und Ideen junger Führungspersönlichkeiten verzichten – und sind wohl auch darauf angelegt. Vielleicht hat bei Marins Rückzug auch eine Rolle gespielt, dass sie schon vor ihrer Regierungsübernahme eine kleine Tochter bekommen hatte. Jacinda Ardern ist eine von zwei Regierungschefinnen der Welt, die in ihrer Amtszeit ein Kind zur Welt gebracht hat. Die erste war knapp dreißig Jahre zuvor die pakistanische Premierministerin Benazir Bhutto.

Bei den meisten anderen Regierungschefs ist die Nachwuchsplanung entweder abgeschlossen – oder hat nie stattgefunden. Sie können sich also ganz auf ihren Vollzeitjob konzentrieren oder „Mit dem Staat verheiratet sein“, wie das die englische Königin Elisabeth I. ausdrückte. Sie sagte das allerdings vor 465 Jahren. Soll das unser Verständnis von moderner Staatsführung leiten?

Die Reihen der jungen Regierungschefs haben sich gelichtet. Auf Marin folgte Petteri Orpo (54), Arderns Nachfolger Chris Hipkins (45) verlor das Amt nach wenigen Monaten an Wahlsieger Christopher Luxon (53). Österreichs Kanzler Karl Nehammer ist 51 Jahre alt. Das kann natürlich Zufall sein. Es gäbe allerdings auch Gründe, die nicht von der Hand zu weisen sind.

Russlands Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 hat die Welt verändert. Der Kampf gegen den Klima­wandel geriet in den Hintergrund, die Inflation kam in den Galopp, die Preise für Energie, Lebensmittel und Wohnen stiegen. Die verunsicherten Bevölkerungen in den demokratischen Staaten haben sich seitdem in Wahlen oft für ältere Männer entschieden. Trauen die Wähler vor allem Männern in fortgeschrittenem Alter zu, sich gegen Machthaber wie Wladimir Putin (72) und Xi Jinping (70) zu behaupten? Der Gedanke hieße: Die Zukunft legen wir in die Hände der Jungen, die Sicherheit in die Hände alter Männer.

Kommen die Jungen wieder?

Das Versprechen der alten Männer lautet: Mit ihrer Erfahrung und ihren weitreichenden Netzwerken bewältigen sie komplexe Herausforderungen und bieten Schutz. Alphatierdarsteller wie Donald Trump behaupten, internationale Beziehungen wären für sie gar nicht kompliziert. Es gebe nichts, was sich nicht in Telefongesprächen oder beim testosterongeschwängerten Kamingespräch lösen lasse. „Hör mal, Wladimir …“

Das Erstaunliche: Nicht wenige scheint dieses Verständnis von einsamer Problemlösung einzuleuchten. Andere Politsenioren versprechen Stabilität, weil sie schon viel erlebt und gesehen haben. Joe Biden wurde 2020 im Alter von 78 Jahren zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. Er brachte jahrzehntelange politische Erfahrung aus seiner Karriere im Senat und als Vizepräsident unter Barack Obama mit ins Weiße Haus.

Ein Ende der Ära der alten Männer ist vorerst nicht abzusehen. Währte der Sturm und Drang jugendlicher Regierungschefs also nur für einen kurzen, optimistischen Sommer? Wer weiß …? Wenn die Demokratien der Welt es schaffen, den Kriegs- und Expansionsdrang der alten Männer in Moskau und Peking zurückzuweisen, und sich wieder darauf besinnen, die Zukunft zu gestalten, könnte wieder die Stunde der jungen Visionäre schlagen. Denn dass sie es können, haben sie bewiesen – und wurden dafür auch anerkannt. Sanna Marin erhielt 2023 den Helmut-Schmidt-Zukunftspreis. Die Jury ehrte sie mit den Worten: „Sanna Marin ist angetreten, um die Welt zu verbessern, und nicht, um einfach nur Politikerin zu sein.“ Vielleicht ist das der Schlag Politiker, der in einer friedlicheren Welt wieder Platz an Regierungsspitzen in demokratischen Staaten findet.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 146 – Thema: Plötzlich Opposition. Das Heft können Sie hier bestellen.