Ambitionierter Newcomer

Medien

Sebastian Turner nimmt sich für seinen Besuch reichlich Zeit. Kleine Führung durch das Gebäude gefällig? Bei Berlin-Kennern werden beim Anblick des Ambientes Erinnerungen wach. Die Einrichtung hat Turner vom Stammhaus des Café Einstein übernommen. Als das bekannte Café und Restaurant in der Kurfürstenstraße dichtmachte, griff der Gründer und Herausgeber von Table Media zu. Alles wurde in vier Schiffscontainern zwischen Weihnachten und Neujahr abtransportiert und in den Räumlichkeiten des Medien-Start-ups unweit des Nordbahnhofs wieder aufgebaut.

Ein Stockwerk tiefer liegt das Podcast-Studio. Der Raum ist wie gemacht für Audioaufnahmen. Dabei handelt es sich in Wahrheit um die ehemalige Küche von Sarah Wiener. Die alte Durchreiche. An einer Stelle wurde eine neue Tür eingesetzt. Ein Regal soll unbedingt noch weg. Nebenbei werden vom Gastgeber noch Tische abgeräumt und Stühle zurechtgerückt. Hier packt der Chef noch selbst mit an.

Für die Bilder an der Wand nimmt sich Turner besonders viel Zeit: Rudolf Augstein im Spiegelsaal von Versailles, Thomas Middelhoff auf dem Bertelsmann-Haus in New York, Helmut Kohl auf einem Frachter und Vicco von Bülow alias Loriot schlafend auf einem Sofa – alle mit einer breitformatigen „FAZ“ vorm Gesicht. „Dahinter steckt ein kluger Kopf“ war eine Kampagne aus Turners Zeit bei der Agentur Scholz & Friends. Dort war er Vorstandsvorsitzender. Dann wollte er mal Oberbürgermeister in Stuttgart werden. Er scheiterte. Als Herausgeber des „Tagesspiegel“ krempelte der heute 57-Jährige das Geschäftsmodell der Traditionszeitung um und setzte früh auf Newsletter und Veranstaltungen als weitere Einnahmequellen.

Eine Demonstration der neuen Relevanz von Turners aktuellem Unternehmen Table Media gibt es an einem Mittwochabend Ende Januar. Der Herausgeber und seine Chefredaktion, bestehend aus Michael Bröcker und Helene Bubrowski, laden zum Neujahresempfang in die Räumlichkeiten der Redaktion ein. Unter den Besuchern, die sich an diesem Abend die Klinke in die Hand geben, sind sieben Bundesminister, diverse Partei- und Fraktionsvorsitzende, Bundestagsabgeordnete des gesamten demokratischen Spektrums von Linke bis CDU sowie Verbands- und Agenturchefs. Auch die mediale Konkurrenz ist neugierig und schaut zahlreich vorbei – vermutlich auch, um den einen oder anderen ehemaligen Kollegen im neuen Habitat zu erleben. An Fotos von dem Event kam man in den Social Media kaum vorbei.

Fokus auf Communitys

Die Besucher eint – neben der üblichen Freude am informellen Austausch – das Interesse am Newcomer. Ist Table Media wirklich das neue große Ding? Die Stimmung an dem Abend ist positiv. Dem Gastgeber ist man offenbar wohlgesinnt. Skeptische bis kritische Stimmen hört man von den Gästen kaum. In lockerer Atmosphäre lassen sich einige auf einen kurzen Abstecher ins hauseigene Podcast-Studio ein, um ein paar O-Töne aufzunehmen.

„Mit elf Briefings haben wir auch elf Communitys, die zu ‚ihrem‘ Table gekommen sind“, erklärt Turner den Erfolg der Veranstaltung. „Die Mischung der Gruppen und die damit zwangsläufig interdisziplinären Gespräche haben vermutlich dafür gesorgt, dass wir unsere Gäste bis weit nach Mitternacht bei uns hatten.“

Für das Anfang 2020 gegründete Medien-Start-up ist ein so großes Event zwar neu. Doch hat Turner insbesondere in den vergangenen beiden Jahren intensiv darauf hingearbeitet, dass es so kommt. Er investiert strategisch, sucht gezielt Köpfe mit journalistischer Erfahrung, einer speziellen fachlichen Expertise und einem hervorragenden Netzwerk.

Die beiden Königstransfers in diesem Winter waren Michael Bröcker und Helene Bubrowski. Insbesondere der neue Chefredakteur Bröcker passt mit seinem beruflichen Hintergrund perfekt ins Profil. Von seiner Zeit bei „The Pioneer“ bringt er Erfahrung im Aufbau einer Redaktion, mit Podcasts, Newslettern und Journalismus für die anspruchsvolle Zielgruppe der Entscheider mit. Und er ist es gewohnt, sich mit einem Alphatier auf der Position des Herausgebers zu arrangieren. Nach Gabor Steingart ist es jetzt Turner. Bubrowski ist Bröckers Stellvertreterin. Sie kam von der „FAZ“, für die sie zuletzt in der Parlamentsredaktion in Berlin arbeitete. Dem Talkshow-Ranking von „Meedia“ zufolge waren beide im vergangenen Jahr zwölfmal in solchen TV-Sendungen präsent. Bröcker, Fan des 1. FC Köln, sitzt auch schon mal im Fußballformat „Doppelpass“.

Die Verpflichtung von Bröcker und Bubrowski zeigt, dass Table Media auch über das anvisierte Zielpublikum hinaus in die Republik ausstrahlen möchte. Die prominente Chefredaktion spielt eine wichtige Rolle dabei, journalistische Relevanz jenseits von Berliner Politikblase und Fachpublikum herzustellen.

„Deep Journalism“

Table Media will für eine neue Art von Journalismus stehen. Turner lässt gerne Wörter wie „Deep Journalism“ und „Domänenkompetenz“ fallen. Damit hebt er sich schon rhetorisch vom klassischen Berliner Politik-Journalismus ab, der sich vor allem mit Personen, Parteien und den üblichen polittaktischen Spielchen befasst und auf Breitenwirkung setzt. Hier verortet der Herausgeber etwa die großen überregionalen Tageszeitungen „FAZ“ und „Süddeutsche Zeitung“ oder den „Spiegel“, von denen er in den vergangenen zwei Jahren mit diversen bekannten Journalisten reichlich Politikwissen eingekauft hat. „Table-Briefing heißt Tiefe statt These“, erklärt Turner im Gespräch mit p&k.

Bis jetzt gibt es elf Professional Briefings, von denen drei werktäglich erscheinen: die beiden kostenfreien und eher allgemein gehaltenen Politik-Briefings „Berlin.Table“ und „100 Headlines“ sowie den China.Table. Dieser gilt mit seinen zwölf China-Fachleuten bisher als journalistisches Aushängeschild. Darüber hinaus deckt Table Media Politikbereiche wie Sicherheit, Agrar, Bildung und Klima mit eigenen entweder ein- oder zweimal wöchentlich erscheinenden Briefings ab.

Bröcker, der als Chefredakteur alle Briefings verantwortet, sieht sich selbst vorrangig in einer koordinierenden Rolle: „Die Redaktionsleiter der zehn Fach-Tables sind die wahren Chefredakteure dieser Tables.“ Bubrowski und er würden zwar jeweils fünf Tables koordinieren. Sie seien dort allerdings nicht die inhaltlichen Antreiber. Produkte wie der China.Table, in dem die China-Berichterstattung zusammenläuft, sollen in die Tiefe gehen. „Das kann der jeweilige Redaktionsleiter viel besser einschätzen“, sagt Bröcker.

Für Herausgeber Turner ist Informationsasymmetrie bei der Erschließung neuer Themenbereiche das entscheidende Kriterium. Unter deutschsprachigen Entscheidern gebe es einen hohen Bedarf an Informationen zu China. „Aber fast niemand versteht eine chinesische Originalquelle. Deswegen war der China.Table unser erstes Briefing. Die besten deutschen Zeitungen haben maximal zwei Korrespondenten in China, wir haben 12 China-Fachleute, inklusive Muttersprachler.“

Ist der Markt groß ­genug?

Gibt es für diese Art von Journalismus wirklich einen skalierbaren Markt? Neu ist das Konzept nicht. Turner hat den Vertical-Ansatz als Herausgeber an anderer Stelle selbst vorangetrieben.

Der „Tagesspiegel“ bietet mit insgesamt acht „Back­ground“-Briefings ein vergleichbares Angebot: In-­Depth-Analyse von Fachpolitik gepaart mit einem Blick hinter die Kulissen der Gesetzgebungsprozesse. Erdacht wurde der Briefing-Ansatz ursprünglich als Antwort auf die Krise des Modells Tageszeitung. Ergänzend zum und verzahnt mit dem Printangebot trug der „Background“ zur Stärkung der gesamten Marke „Tagesspiegel“ bei. Als Turner klar geworden sei, dass der Turnaround geschafft war, sei die Aufgabe für ihn abgeschlossen und er selbst frei gewesen, die Tragfähigkeit des Briefing-Ansatzes weiterzudenken.

Nun macht er seiner alten Medienmarke Konkurrenz auf eigene Rechnung. Bisher setzt Table.Media zwar vorrangig auf neu erschlossene Themenfelder. Vergleiche werden dennoch gezogen. Jemand, der beruflich intensiv mit China befasst ist, erzählt p&k, dass die direkte China-Berichterstattung das mit Abstand Beste sei, was man im deutschsprachigen Raum zu chinesischer Politik, Wirtschaft und auch Kultur lesen könne. Im Vergleich dazu falle die Analyse deutscher Gesetzgeungsverfahren mit China-Relevanz etwas ab. Hier habe der „Tagesspiegel Background“ die Nase vorn, insbesondere im Themenfeld Digitalisierung.

Die übrige Konkurrenz schläft ebenfalls nicht. Das „Handelsblatt“ diversifiziert seine Berichterstattung. Axel Springer will mit dem „Berlin Playbook“ im Hauptstadtjournalismus mitmischen. Gabor Steingarts „The Pioneer“ ist auch noch da. Politikpodcasts gibt es bereits einige. Entscheider lesen zudem gerne internationale Medien wie die „New York Times“ oder die „Financial Times“.

Es stellt sich also die Frage, ob die Kalkulation am Ende aufgeht. Ein hochspezialisiertes Fachbriefing mit hoher Informationsdichte und detaillierter Analyse der Implikationen politischer Entscheidungen richtet sich logischerweise nicht an ein politisch interessiertes Massenpublikum, sondern an einen stark eingegrenzten Kreis von Professionals. Der Politikchef einer großen Tageszeitung äußert p&k gegenüber Zweifel an der Tragfähigkeit des Geschäftsmodells. Der Blick auf die eigenen Digitalabos mache ihn skeptisch, ob genug Abnehmer in der letztlich überschaubaren Zielgruppe bereit sind, dauerhaft bis zu 2.400 Euro jährlich pro Professional Briefing auszugeben.

Turner sieht Table Media auf einem guten Weg – natürlich. Seine Rechnung klingt kompliziert. „Bei den Paid-Briefings haben wir im letzten Jahr die Schwelle von 1.000 zahlenden Institutionen überschritten“, hält er fest, nur um gleich nachzuschieben, dass ein Kunde nicht einem Leser entspräche. Die relevante Bezugsgröße seien vielmer die Anzahl verkaufter Lizenzen, über die Turner uns aber im Unklaren lässt. Wir erfahren nur soviel: „Ein Lizenzabschluss mit einem Kunden kann zwischen einer und mehreren hundert Lizenzen beinhalten.“

An den Schaltstellen der Macht werden die Table-Briefings zunehmend gelesen. p&k gegenüber bestätigt etwa das Bundesministerium für Bildung und Forschung, Lizenzen der beiden betreffenden Tables abgeschlossen zu haben.

Dass es reichlich verkaufte Lizenzen braucht, um die bisher 80-köpfige Redaktion mit einigen sehr gut bezahlten Top-Journalisten zu finanzieren, versteht sich von selbst. Mit den Fachbriefings und den drei kostenfreien Produkten Berlin.Table, 100 Headlines und Podcast erreiche Table.Media bereits jetzt täglich 200.000 Empfänger.

Lesen hier auch das Interview zum Artikel.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 146 – Thema: Plötzlich Opposition. Das Heft können Sie hier bestellen.