Oppositionsführerlos

Politik

Aller Anfang ist schwer. Nach 16 Jahren, in denen sie mit Angela Merkel die Bundeskanzlerin stellten, haben CDU und CSU in der Bundespolitik das Opponieren neu zu lernen. Maßgebliche Politiker und Politikerinnen, die die Ära Merkel prägten, scheiden aus Führungsämtern oder auch ganz aus dem Bundestag aus. Volker Kauder gehört dazu, der langjährige CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende. Auch Thomas de Maizière, ehemaliger Verteidigungs- und Innenminister, Merkels vertraute Allzweckwaffe Peter Altmaier und auch der noch geschäftsführende Innenminister und frühere CSU-Vorsitzende Horst Seehofer verlassen die Bühne. Wolfgang Schäuble, in Merkels Kanzlerjahren Innen-, später Finanzminister und zuletzt Bundestagspräsident, wird keine prägende Rolle mehr spielen – so wie auch die von Merkel als mögliche Nachfolger favorisierten Annegret Kramp-Karrenbauer und Armin Laschet. Der CDU steht ein Generationswechsel bevor – selbst wenn der altvordere Uralt-Merkel-Gegner Friedrich Merz Parteivorsitzender werden sollte.

Uneins über die Bewertung der Ampelpläne: Noch-Parteichef Armin Laschet und Fraktions­chef Ralph Brinkhaus. (c) picture alliance/Flashpic/Jens Krick
<sup>Uneins über die Bewertung der Ampelpläne Noch Parteichef Armin Laschet und Fraktions­chef Ralph Brinkhaus c picture allianceFlashpicJens Krick<sup>

Es wird Diadochenkämpfe geben. Personelle Auseinandersetzungen um Merkels Erbe stehen bevor. Sie werden verknüpft sein mit politischen Debatten über die Ausrichtung der Unionsparteien und über ihre Strategien als Opposition. Der Streit, wer schuld am historisch schlechtesten Wahlergebnis der Unionsparteien sei, wird die neue Aufstellung der CDU und das Verhältnis von CDU und CSU belasten. Ist Merkel verantwortlich, weil sie die Partei politisch entkernt, beliebig gemacht und ihre Nachfolge nicht geregelt hat? Oder Markus Söder, weil der CSU-Chef dem Kanzlerkandidaten Armin Laschet während des Wahlkampfs Knüppel zwischen die Beine geworfen hat? Oder Laschet, weil er sich nicht zum Kanzlerkandidaten eignete? Oder die CDU-Spitze, weil sie ihn gleichwohl zum Kanzlerkandidaten erkoren und gegen Söder durchgesetzt hat?

Personelle Auseinander­setzungen um Merkels Erbe ­stehen bevor

Noch bevor SPD, Grüne und FDP ihre Koalitionsverhandlungen beendet und Olaf Scholz zum Bundeskanzler gewählt hatten, offenbaren sich Brüche der Oppositionsstrategie der Union. Ralph Brinkhaus, der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende, nannte das Sondierungspapier der Ampelparteien „die strammste Linksagenda, die wir seit Jahrzehnten in Deutschland gehabt haben“. Laschet, der trotz seines Scheiterns in der CDU fest verankert ist, sah das anders. Vieles von dem, was die künftigen Koalitionspartner aufgeschrieben hatten, hätte auch von den Unionsparteien formuliert werden können, sagte er. Der nun ehemalige Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens verwies auf die Interessenlage anderer CDU-Landesverbände. Viele von ihnen koalierten in ihren Bundesländern mit Parteien der Ampelkoalition: in Baden-Württemberg, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Die Fortsetzung der Zusammenarbeit mit Grünen und FDP dort dürfe nicht durch eine Fundamentalopposition in Berlin gefährdet werden, ist die Schlussfolgerung. Das wiederum zielte auch gegen den Ministerpräsidenten Söder, der Bayern als ampelfreie Zone angepriesen hatte.

Ob sich Geschichte wiederholt? Blicke in die Vergangenheit, Vergleiche, Lehren, Parallelen – verheißen nichts Gutes für die Unionsparteien. Nach der Bundestagswahl 1969 gerieten CDU und CSU erstmals in die Opposition. Zuvor hatten sie zwanzig Jahre lang ununterbrochen den Bundeskanzler in Bonn gestellt. Dass sie mit 46,1 Prozent als stärkste Kraft bestätigt wurden, nützte ihnen nichts gegen die Koalition aus SPD und FDP. Es folgten Jahre einer parteipolitischen Polarisierung. Die Ostpolitik der Rot-gelben-Regierungen – zunächst unter dem Duo Brandt/Scheel, ab 1974 unter Schmidt/Genscher – stieß auf grundsätzlichen Widerstand der CDU/CSU-Opposition. „Verrat an Deutschland“, lautete der Vorwurf, vorgetragen in einer Rhetorik des kalten Krieges. „Freiheit oder Sozialismus“ hieß ein Wahlkampfmotto der Union. Auch die Teile der CDU, die ihren Frieden mit der Entspannungspolitik der sozialliberalen Koalition machen wollten, hatten sich den Scharfmachern vor allem der CSU unter Franz Josef Strauß zu fügen, wollten sie die Einheit von CDU und CSU nicht gefährden.

Was „konservativ“ sei, ist umstritten

Personalpolitische Auseinandersetzungen kamen hinzu. Rainer Barzel, CDU-Vorsitzender und zugleich CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender, wurde gestürzt. Helmut Kohl, 1973 sein Nachfolger im Parteiamt, stand für einen Generationswechsel. 1976 wurde er auch Fraktionsvorsitzender. Doch Kohl hatte zu warten. 1980 musste er auf die Kanzlerkandidatur verzichten – nach langen Auseinandersetzungen mit Strauß, der zwischenzeitlich sogar gedroht hatte, die CSU als bundesweite Partei zu installieren. Erst 1982, nachdem die FDP die Zusammenarbeit mit der SPD aufgekündigt hatte, war die Oppositionszeit der Union vorbei. Nach 13 sozialliberalen Jahren war es Kohl gelungen, die FDP unter Hans-Dietrich Genscher auf seine Seite zu ziehen. Die Union war befriedet.
16 Jahre blieb Kohl Bundeskanzler. Nach seiner Niederlage bei der Bundestagswahl 1998 wiederholten sich die Verwerfungen. Wolfgang Schäuble geriet in den Strudel der Parteispendenaffäre. Anfang 2000 musste er vom Vorsitz der CDU und der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zurücktreten. Angela Merkel wurde CDU-Vorsitzende – argwöhnisch beobachtet von CDU-Ministerpräsidenten. Friedrich Merz wurde Fraktionsvorsitzender. Merkel und Merz trugen einen Kleinkrieg um die Führungsfrage aus, der bis heute nachwirkt. Merkel war zu schwach, um schon 2002 die Unionsparteien in den Bundestagswahlkampf zu führen. Edmund Stoiber, CSU-Chef und bayerischer Ministerpräsident, wurde Kanzlerkandidat. Erst seine Niederlage machte den Weg frei für Merkel. Sie löste Merz als Fraktionsvorsitzende ab. Erst danach war ihr 2005 die Kanzlerkandidatur nicht mehr zu nehmen. Wie Kohl blieb sie 16 Jahre im Amt des Bundeskanzlers. Ob sich alles wiederholt? Als Farce? Als Tragödie?

Parteichef ­Helmut Kohl und General­sekretär Kurt ­Bieden­kopf standen 1973 für einen Generationen­wechsel innerhalb der CDU. (c) picture-alliance/dpa
<sup>In strahlender Laune zeigt sich der neugewählte CDU Vorsitzende Helmut Kohl rechts mit dem ebenfalls neugewählten Generalsekretär Prof Kurt Biedenkopf auf dem Sonderparteitag der CDU in der Beethovenhalle in Bonn Aufgenommen am 12 Juni 1973<sup>

Der Status der CDU als – wie ihre Protagonisten mit Blick auf die SPD noch vor Jahresfrist verbreiteten – „einzig verbliebene Volkspartei“ ist ins Rutschen geraten. Signale hatte es schon vor der Bundestagswahl gegeben. Bei der Landtagswahl 2018 in Hessen etwa verlor die CDU elf Punkte und sackte auf 27 Prozent ab. In Baden-Württemberg, einem einstigen Stammland, kam sie im vergangenen Frühjahr auf nur noch 24 Prozent. Auch bei der Europawahl 2019 blieben die Unionsparteien deutlich unter 30 Prozent. Einbrüche gab es in Großstädten und bei Jungwählern. Fast endlos lässt sich eine solche Liste verlängern. Dass die CDU in Ostdeutschland Wähler an die rechtsextreme AfD, in den westdeutschen Bundesländern aber an die Grünen und bei der Bundestagswahl auch noch an die SPD verlor, zeigt ein politisch-inhaltliches wie auch machtstrategisches Dilemma.

Begrifflichkeiten von „bürgerlicher Politik“ geraten ins Schwimmen. Was „konservativ“ sei, ist umstritten. Sich nun von einstiger Regierungspolitik abzusetzen, hat schon der SPD nach der Kanzlerschaft Gerhard Schröders geschadet. Angela Merkel war es ja nicht allein, die die Wehrpflicht ausgesetzt und nach der Katastrophe von Fukushima den Ausstieg aus der Kernenergie vollzogen hatte. Stets hatte es breite Mehrheiten für ihren Kurs gegeben – auf Parteitagen und in der Bundestagsfraktion. Was damals richtig war, soll heute falsch sein? Die Folge: Mehr denn je will die Parteibasis mitreden.

Ungeklärten ­Führungsfragen ­werden die Arbeit der künftigen CDU-Spitze erschweren

Machtpolitische Auseinandersetzungen sind die Folge. Brinkhaus, der sich das Amt des CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden 2018 gegen Merkels Vertrauten Kauder erkämpft und drei Jahre später gegen Laschets Pläne verteidigt hatte, dürfte sich auch dem künftigen CDU-Vorsitzenden nicht beugen wollen. Im Bundestag tritt er schon jetzt als Oppositionsführer auf. So wie einst Merkel und Merz über die Führungsrolle gestritten hatten – sie als Parteichefin, er als Fraktionsvorsitzender und beide ihren weiteren Aufstieg fest im Blick –, könnte es Konflikte zwischen Brinkhaus und dem Nachfolger Laschets im Parteiamt geben. Dass Markus Söder, nach all dem, was sich in den vergangenen Monaten ereignete, seine bundespolitischen Ambitionen zurücksteckt, ist nicht zu erwarten – vorausgesetzt natürlich, dass er 2023 die Landtagswahl in Bayern mit Bravour besteht. Er wird weiterhin seine Truppen sammeln – auch und gerade in der CDU. Dass auf Söders Versicherung, sein Platz sei in Bayern, wenig zu geben ist, hat der bekennende Fan von Franz Josef Strauß in den zurückliegenden Monaten zur Genüge bewiesen. Wie einst sein Vorbild könnte der CSU-Chef die Führungsleute der CDU so lange drangsalieren, bis sie ihm die Kanzlerkandidatur zu Füßen legen.

Markus ­Söder hat während des Wahlkampfs häufiger quergeschossen, um sich selbst in Stellung zu ­bringen? (c) picture alliance/dpa/Peter Kneffel
<sup>Markus ­Söder hat während des Wahlkampfs häufiger quergeschossen um sich selbst in Stellung zu ­bringen c picture alliancedpaPeter Kneffel<sup>

Die ungeklärten Führungsfragen werden die Arbeit der künftigen CDU-Spitze in Berlin erschweren. Nach dem Interregnum von Annegret Kramp-Karrenbauer und von Armin Laschet haben Ansehen und Autorität der Berliner CDU-Zentrale gelitten. Das Konrad-Adenauer-Haus, dessen mangelhafte Wahlkampfführung in der Partei als eine der Ursachen der Niederlage gesehen wird, ist neu aufzustellen. Mindestens vorläufig werden sich die verbliebenen CDU-Ministerpräsidenten wenig sagen und keine Vorschriften machen lassen. Und immer aufs Neue kann es im Bundesrat dazu kommen, dass die Regierungschefs der Union – getreu dem Motto: Erst das Land, dann die Partei – bei Gesetzesvorlagen der Ampelkoalition anders abstimmen, als es ihre machtlosen Parteifreunde im Bundestag wünschen.

Von Teamlösungen an der Parteispitze ist nun die Rede und von mehr Mitwirkung der Parteibasis. Doch der Kitt, der die CDU im Innersten zusammenhielt, ist zerbröselt: Anspruch und Gewissheit, Regierungspartei in Berlin zu sein – und sei es um den Vorwurf, die Union sei bloß ein Kanzlerwahlverein. So bleibt der künftigen Führung vorerst nur die Hoffnung, irgendwann einmal habe die gerade zustande kommende neue Regierung abgewirtschaftet. Wie lange das dauert, liegt in den Händen von SPD, Grünen und FDP. Dass sogar eine Partei mit gerade 26 Prozent den Kanzler stellen kann, wurde in diesem Herbst bewiesen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 137 – Thema: Die neue Mitte?. Das Heft können Sie hier bestellen.