Ist es Anmaßung der Außenministerin gegenüber dem Bundeskanzler? Oder bloß Ausdruck hergebrachter Spannungen und Ressortegoismen zwischen zwei Mitgliedern der Bundesregierung – zwischen Kanzleramt und Auswärtigem Amt –, die sich beide für die deutsche Außenpolitik verantwortlich fühlen? Von Beginn der Ampelkoalition an fochten Olaf Scholz (SPD) und Annalena Baerbock (Grüne) ihre Konkurrenzkämpfe aus – über China, über die Ukraine, über Zuständigkeiten im Allgemeinen.
Zankapfel eins: der „Nationale Sicherheitsrat“. Überlegungen, im Rahmen einer umfassenden außenpolitischen Sicherheitsstrategie Deutschlands solle ein Sicherheitsrat mit – nach amerikanischen Vorbild – einem nationalen Sicherheitsberater an der Spitze installiert werden, scheiterten im Februar an Auseinandersetzungen über Zuständigkeiten und Kompetenzen. Wem sollten Gremium und Posten zugeordnet werden? Wer solle die Federführung haben, das Kanzleramt oder das Außenministerium? Christoph Heusgen, einst Angela Merkels Sicherheitsberater und nun Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, ließ die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ wissen, in den Regierungsjahren Merkels habe das Thema nicht auf der Agenda gestanden. Vorsichtshalber beließ man es bei dem seit Langem bestehenden Bundessicherheitsrat, einem Kabinettsausschuss, der im Wesentlichen für die Genehmigung von Rüstungsexporten zuständig ist und dem unter Leitung des Kanzleramts eine Reihe von Ministerien angehören, die damit befasst sind: Auswärtiges Amt, Verteidigungsministerium sowie die Ressorts für Finanzen, Wirtschaft und Entwicklungspolitik. Doch seit dem Regierungswechsel 2021 stand das Thema „nationaler Sicherheitsrat“ auf der Tagesordnung. Die Verhandlungen zogen sich hin. Das Bundeskanzleramt, in Händen der SPD, hätte es gerne gesehen, die neue Institution an sich zu binden. Das von den Grünen geführte Auswärtige Amt sagte Nein. Eine Frage der Richtlinienkompetenz des Kanzlers? Das Vorhaben wurde vorerst ausgeklammert.
Zankapfel zwei: China. Im vergangenen November sagte Annalena Baerbock in der usbekischen Hauptstadt Taschkent über den wenige Tage später anstehenden Antrittsbesuch von Olaf Scholz in Peking: „Der Bundeskanzler hat den Zeitpunkt seiner Reise entschieden. Jetzt ist es entscheidend, die Botschaften, die wir gemeinsam festgelegt haben im Koalitionsvertrag, die Botschaften, die ich auch hier mit nach Zentralasien gebracht habe, auch in China deutlich zu machen.“ Vom Ausland aus, was schon ungewöhnlich genug war, erinnerte sie den Kanzler an die Abmachungen der Ampelparteien – und das in einer Form, die einer Ermahnung gleichkam. Der chinesischen Führung müsse deutlich gemacht werden, „dass die Frage von fairen Wettbewerbsbedingungen, die Frage von Menschenrechten und die Frage der Anerkennung des internationalen Rechts unsere Grundlage der internationalen Kooperation ist“. Dass zur gleichen Zeit im vergangenen Herbst Differenzen über eine chinesische Beteiligung an einem Teil des Hamburger Hafens zwischen dem Bundeskanzleramt und dem Auswärtigen Amt laut geworden waren, gab dem Auftritt der Außenministerin eine zusätzliche Brisanz. Wer hat denn hier das Sagen?
Führende Beamte achten auf ihre Einflusszonen
Ein immanentes Spannungsverhältnis kennzeichnet seit jeher die Beziehungen zwischen den beiden Zentralstellen auswärtiger Politik, zwischen den jeweiligen Amtsträgern und zwischen ihren Ämtern. Wer mag, kann es als vorsorgliche Vermeidungsstrategie deuten, dass Konrad Adenauer in den ersten Jahren seiner Kanzlerschaft bis 1955 zugleich als Außenminister amtierte und danach dafür sorgte, dass die Führung des Auswärtigen Amts weiterhin in den Händen der CDU blieb. Den mittlerweile traditionellen Brauch, nach dem der stärkste Partner einer Regierungskoalition zwar den Kanzler, der zweitstärkste aber den Außenminister stellt, gibt es erst seit 1966, als unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) in der ersten großen Koalition Willy Brandt (SPD) Außenminister wurde. Bruchlos wurde diese Arbeitsteilung fortgesetzt, gleich wer mit wem regierte. Regelmäßig prallten Interessen aufeinander: konzeptionell und machtpolitisch. Führende Beamte achteten auf ihre Einflusszonen. Auch Kanzler und Außenminister hatten darauf Rücksicht zu nehmen. Dass häufig die Außenminister zugleich den Titel „Stellvertreter des Bundeskanzlers“ (wichtigtuerisch „Vizekanzler“ genannt) trugen, verschärfte mancherlei Spannungen – zumal in Wahlkämpfen. Gleich zu Beginn dieser Arbeitsteilung war das so: Unter der Führung Willy Brandts wurden im Auswärtigen Amt ab 1966 die Grundzüge der späteren Entspannungs- und Ostpolitik formuliert – am Kanzler Kiesinger vorbei. Und als Brandt 1969 mit Walter Scheel (FDP) als Außenminister die sozialliberale Koalition eingegangen war, ging die Zuständigkeit für die Ostpolitik ins Kanzleramt über. Nicht Scheel, sondern Brandt erhielt den Friedensnobelpreis. Auch das ein Resultat der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers? Noch heute können sich altgediente FDP-Politiker wie Gerhart Rudolf Baum erregen, dass die SPD die Erfolge der Entspannungspolitik allein für sich reklamiert habe.
Es war Hans-Dietrich Genscher, der als FDP-Vorsitzender und als Außenminister unter den Kanzlern Helmut Schmidt (SPD) und Helmut Kohl (CDU) die Lehren daraus zog. Genscher schuf einen Planungsstab im Auswärtigen Amt – damals unter Führung Klaus Kinkels, der später sein Nachfolger wurde. Genscher betrieb Außenpolitik unter innenpolitischen Gesichtspunkten. Wenn er in der Welt unterwegs war, dachte er stets auch an die Wahlkampfinteressen seiner Partei. Sorgsam formulierte er Unterschiede zur Außen- und Sicherheitspolitik „seiner“ Kanzler. Es entstand das Wort „Genscherismus“, das teils als Kampfbegriff gegen ihn verwendet wurde, teils aber auch der Eigenwerbung diente.
Kohl wiederum baute die Abteilung Außenpolitik im Kanzleramt aus. Deren Chef hieß fortan „Sicherheitsberater des Bundeskanzlers“. Horst Teltschik war der erste. Es entwickelte sich eine neue Tradition. Teltschik kämpfte in Konkurrenz zur Führung des Auswärtigen Amtes und auch zum Außenminister selbst um Einfluss – natürlich im Sinne Kohls. 1989/90, in den Wochen des Umbruchs in Europa, sollte der Kanzler das Heft des Handelns in den Händen behalten. Genscher hielt dagegen. Als in der (west-)deutschen Botschaft in Prag Tausende von Flüchtlingen aus der DDR auf ihre Ausreise in die Bundesrepublik warteten, überbrachte Genscher die frohe Botschaft. Kanzleramtsminister Rudolf Seiters (CDU) wirkte an jenem Abend wie ein Zaungast.
In rot-grünen Regierungszeiten setzte sich das fort. Gerhard Schröders Sicherheitsberater Michael Steiner trug überaus selbstbewusst seine Händel mit dem grünen Außenminister Joschka Fischer aus. Die beiden lieferten sich lautstarke Telefongespräche. Dann aber stolperte Steiner über sein eigenes Ego: Im November 2001 beschimpfte er auf dem Flughafen Wnukowo in Moskau einen deutschen Oberfeldwebel und zwei weitere Soldaten mehrfach als „Arschloch“. Steiner wurde durch den Diplomaten Dieter Kastrup ersetzt. Das beruhigte die Beziehungen zwischen dem SPD-Kanzleramt und dem Grünen-Außenministerium. Eines aber hatte Fischer nie getan. Öffentliche Kritik an Schröder übte er nicht, auch wenn er bisweilen andere außenpolitische Akzente – etwa zum deutsch-amerikanischen Verhältnis – setzen wollte. Fischers Begründung: „Ich habe einen Höllenrespekt vor seinem Amt. Da laufen alle Kraftlinien dieser Republik zusammen.“ Fischer akzeptierte die Richtlinienkompetenz des Kanzlers. Sich abkanzeln lassen aber wollte er nicht.
Bundeskanzler entstammen der deutschen Innenpolitik
Ganz wie seine Chefin Angela Merkel war Sicherheitsberater Christoph Heusgen nicht ein Mann des Säbels. Das Florett war seine Waffe. Differenzen und Positionskämpfe der Bundeskanzlerin mit „ihren“ Außenministern wurden nicht lautstark via Machtworte ausgetragen, sondern in scheinbar abgewogenen Zwischentönen. Etwa als Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) vor einem „Säbelrasseln“ der NATO im Baltikum warnte, die Kanzlerin das für ungut befand, zugleich aber Rücksichten auf den Koalitionspartner zu nehmen hatte. Oder als Merkels FDP-Außenminister Guido Westerwelle im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bei einer Abstimmung über einen Kampfeinsatz gegen das von Gaddafi geführte Libyen mit Enthaltung votierte, statt sich an die Seite der Vereinigten Staaten zu stellen. Westerwelle habe das mit Merkel abgestimmt, lautete regierungsamtlich die offizielle Version. Westerwelle habe im Alleingang gehandelt, wurde im Kanzleramt seitens Heusgens Abteilung kolportiert. Mit einem Hauch von Häme wurde damals „FDP“ mit „Fast Drei Prozent“ ausbuchstabiert. Wie es früher war, so auch in Merkels Zeiten: Bundeskanzler entstammen der deutschen Innenpolitik. Im neuen Amt aber gewinnen sie zunehmend Lust und Laune an der Außenpolitik. Internationale Begegnungen mit den Größen der Weltpolitik entheben die Regierungschefs den kleinkarierten Auseinandersetzungen über Kindergeld, Wohngeldförderung oder Datenschutz.
Auch Annalena Baerbock kam an die Reihe. Schon als Kanzlerkandidatin der Grünen hatte sie im Bundestagswahlkampf andere Akzente gesetzt als Olaf Scholz, der als Kandidat der SPD ins Rennen ging. Lange vor Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine lehnte Baerbock den Bau der Nordstream-2-Gaspipeline ab – aus Rücksicht auf die osteuropäischen Mitglieder der Europäischen Union und der NATO. Damit stand sie zudem an der Seite Washingtons. Entsprechend war schon der Start Baerbocks im Auswärtigen Amt von Differenzen mit dem SPD-Koalitionspartner geprägt. Außenpolitik, sagte Rolf Mützenich, der SPD-Fraktionschef, werde im Kanzleramt bestimmt. Die Grünen und Baerbock selbst wollten davon nichts wissen. In Sachen Gaspipeline sollten sie recht behalten. Seit dem 24. Februar 2022, dem Beginn des Angriffskriegs Russlands, entsprachen die Realitäten den Vorstellungen der neuen Außenministerin. Und anders als Scholz plädierte Baerbock frühzeitig für die Lieferung auch von Leopard-2-Panzern an die Ukraine. Abermals setzte sie andere Akzente als Olaf Scholz, selbst im Karneval: Bei der Auszeichnung mit dem Aachener Preis „Wider den tierischen Ernst“ höhnte sie, sie sei nicht in einem Leopardenkostüm erschienen – aus Sorge, das Kanzleramt verweigere ihr die Reisegenehmigung. Das sollte humorvoll klingen. Doppelbödig war es auch. Doch immer, wenn Sozialdemokraten „mehr Diplomatie“ einfordern, zielt das gegen die Außenministerin der gemeinsamen Koalition.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 143 – Thema: 15 Young Thinkers. Das Heft können Sie hier bestellen.