Während des hessischen Landtagswahlkampfs im vergangenen August erschien in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ein Leitartikel über die SPD-Spitzenkandidatin Nancy Faeser. Der stellte mit Blick auf die Bundesinnenministerin in Berlin fest: „Mit Journalisten spricht sie fast nur, wenn dabei eine Kamera läuft. Hintergrundgespräche, für die ihr Vorgänger Seehofer regelmäßig ganze Nachmittage freiräumte, hält sie offenbar für Zeitverschwendung.“ Wollte Faeser aufgrund ihrer Doppelbelastung als Landes- und Bundespolitikerin Zeit sparen? Fernsehauftritte und Tweets in sozialen Medien haben eine größere Reichweite als komplizierte Erklärungen zu innenpolitischen Fachfragen. Faeser war zu dieser Zeit noch nicht sonderlich bekannt. Es ist nachvollziehbar, in einer solchen Situation auf die Macht der Bilder zu setzen. Aber war es auch klug und zu Ende gedacht? Das hessische Wahlergebnis und auch das Ansehen der Sozialdemokratin sprechen nicht dafür.
Allerdings gibt es Anzeichen, dass Hintergrundgespräche etwas von ihrem einstigen Glanz eingebüßt haben. Manche Pressereferenten berichten, das Journalisten zunehmend desinteressiert sind an solchen Treffen. Die Arbeitsumstände im Journalismus haben sich verändert. Die Berichterstattung wird immer schneller, Journalisten müssen deshalb öfter an den Computer, während familiäre Verpflichtungen mehr Zeit beanspruchen als ehedem. Politiker sind in sozialen Medien ständig präsent und vermitteln den Eindruck, alles sei bereits alles gesagt. Weshalb an Hintergrundgesprächen teilnehmen, wenn dort nicht mehr mitgeteilt wird, als allüberall schon bekannt gemacht wurde – wenigstens dem Schein nach. Aus Sicht der Politik wiederum gibt es Erfahrungen, Journalisten würden sich nicht mehr verlässlich an Absprachen der Vertraulichkeit halten, was freilich nach einem „Früher war alles besser“ klingt. Das wirkt sich aus auf die Qualität von Hintergrundgesprächen. Die Folgen gleichen einem Teufelskreis.
Politische Diskretion in der Praxis
Sogenannte Hintergrundgespräche in Berlin – sei es vom Bundeskanzler, von Minister oder Partei- und Fraktionsvorsitzenden – haben eine doppelte Funktion. Sie werden meist, wie der Terminus lautet, „unter 3“ geführt. Journalisten dürften in ihren Medien aus diesen Gesprächsrunden nicht zitieren. Doch sprechen Politiker und Politikerinnen nicht mit Journalisten, damit diese vom Gesagten – oft auch vom Gemeinten – keinerlei Gebrauch machen. Hintergrundgespräche wären so tatsächlich vertane Zeit – für beide Seiten. Deshalb versuchen Kanzler, Minister und andere, „ihre“ Politik zu erklären. Fast nie werden dabei politische „Geheimnisse“ präsentiert oder Entscheidungen vorweggenommen. Gerade Spitzenpolitiker lassen sich nicht in die Karten schauen. Sie neigen zur Vorsicht – sogar gegenüber Parteifreunden und engsten Mitarbeitern.
Als der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder und der SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzende Franz Müntefering 2005 sich darauf verständigten, die Bundestagswahl vorzuziehen, weihte Müntefering niemanden vorab ein – nicht einmal seine engsten Berater. Schröder besprach sich lediglich mit dem damaligen Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier, Vizekanzler Joschka Fischer von den Grünen und Peer Steinbrück (SPD), dem NRW-Ministerpräsidenten. Irgendeiner redet immer, war die Befürchtung. Sämtliche Kabinettsmitglieder, die Regierungssprecher und sonstige „Vertraute“ wurden am Abend der NRW-Landtagswahl von dem Vorhaben überrascht – wie übrigens auch Bundespräsident Horst Köhler.
Journalisten erfahren erst recht nichts Vertrauliches. Es wäre auch eine Zumutung für diesen Berufsstand, der ja der Öffentlichkeit verpflichtet ist und nicht der Loyalität der Politik gegenüber. Wurde es ernst, hielt auch Angela Merkel (CDU) dicht. Olaf Scholz tut es auch, wie sich erwiesen hat. Derlei Schweigegebote gelten auch für ihre Mitarbeiter – auch jene, die für „Öffentlichkeitsarbeit“ zuständig sind. Nach draußen soll nur das dringen, was dort aus Sicht von Kanzlern, Ministern und sonstigen Einflussreichen hilfreich ist.
Öffentlich versus vertraulich
So hintergründig, also geheim zu halten, sind Hintergrundgespräche also nicht. Handelt es sich in Wahrheit eher um „Vordergrundgespräche“? Tatsächlich nehmen Spitzenpolitiker gerne auch Rücksichten ganz anderer Art, wenn sie „unter 3“ sprechen. Dann findet der Inhalt eines scheinbar exklusiven Interviews schon vorab seinen Weg in die Öffentlichkeit – ein Tritt vors Schienbein der Medienleute. Andererseits: Teilnehmer von Hintergrundgesprächen können verärgert sein, wenn sie erst denken, vermeintlich exklusiv Hintergründiges erfahren zu haben – wenig später aber zur Kenntnis nehmen müssen, dass ihnen nur deshalb ein Verwertungsverbot auferlegt wurde, weil Kanzler, Minister, Partei- oder Fraktionsvorsitzende bei „Spiegel“, „Bild“, „FAZ“, ARD und anderswo im Wort waren. Da hilft nur: mit den Schultern zucken und seine Schlüsse daraus ziehen.
Und doch: Journalistische Beobachtungen, der Kanzler sei beim Hintergrundgespräch „guter Stimmung“ oder auch „locker drauf“ gewesen, sind sie selbst dann von Belang, wenn vermeintlich nichts Neues zu erfahren war. Manches Gesagte, manche Beobachtung gewinnt erst in der Rückschau eine Bedeutung. Auch ein Abgleich mit früheren oder späteren Gesprächen kann helfen. Nicht zuletzt geben Gesprächsrunden im kleineren Kreis Auskunft darüber, wie umgänglich Politiker sind und wie sattelfest in den Inhalten. Gerade Spitzenpolitikern sollte man nachsehen, dass sie im vermeintlich hintergründigen Gespräch nichts anderes sagen als in gewöhnlichen Fernsehauftritten. Im öffentlichen oder veröffentlichten Gespräch („unter 1“) anderes zu sagen als im angeblich vertraulichen Kreis, untergräbt ihre Glaubwürdigkeit. Die Journalistin fragt sich dann: Was stimmt denn nun? Öffentlich den Kanzler loben, hinter vorgehaltener Hand aber kritisieren: Das tun allenfalls Politiker der zweiten Garnitur oder zu Beginn ihrer Karriere – auch aus dem Kalkül heraus, weiteren Zugang zu Medienschaffenden zu bekommen oder zu behalten. Mit der Verantwortung kommt die Verschwiegenheit.
Gerhard Schröder und Angela Merkel luden je zu Beginn ihrer Amtszeit häufiger zu gesonderten Hintergrundgesprächen ein als später im Laufe der Jahre. Einerseits hatten sie es nicht mehr nötig. Andererseits hatten sie genügend öffentliche Auftritte, das auszugleichen: bei Pressekonferenzen als Parteivorsitzende oder bei Statements im Anschluss ausländischer Staatsbesuche mit folgenden Frage-Antwort-Spielen. Die haben überdies den Vorzug, dass die Zahl der Journalisten vergleichsweise klein gehalten werden kann: Die Anzahl der Stühle, die in die dafür vorgesehene Nische des Kanzleramts passen, ist überschaubar.
Doch Vorsicht: Der Kreis der Medienleute, die dabei sein wollen, ist meistens – bei Kanzlern immer – größer als bei Hintergrundgesprächen oder bei Auslandsreisen im Flugzeug dabei sein können. Und keine Gruppe von Journalisten ist für Spitzenpolitiker gefährlicher als die diejenigen, die sich zu kurz gekommen oder benachteiligt fühlen.
Bei der Mitnahme von Journalisten auf Auslandsreisen ziehen Kanzler und Minister daraus die Konsequenz: Vertreter von Fernsehanstalten, Nachrichtenagenturen und der überregionalen Presse können meistens dabei sein. Dazu werden aber noch abwechselnd Vertreter von Regionalzeitungen eingeladen – darunter oft solche, die bald über Landtagswahlen zu berichten haben. Einen Brauch von Helmut Kohl aber setzten seine Nachfolger nicht fort: Die dafür Zuständigen des Altkanzlers ließen bei dessen Auslandsreisen oder Hintergrundgesprächen nur solche Journalisten zu, bei denen Kohl eine politische Nähe vermutete. Das hieß: nicht der „Spiegel“, nicht der „Stern“, nicht die „Zeit“, von denen Kohl behauptete, sie nicht zu lesen – dafür immer seine Heimatzeitung.
Vertraute als Mittler
Für Ausgleich war freilich auch hier gesorgt: Kohls Medienbeauftragter Eduard Ackermann unterhielt spezielle Kontakte zu den „Hamburger“ Medien, die Kohl angeblich verabscheute. Auch bei Ackermanns Nachfolgern unter Schröder, Merkel und Scholz konnte sich erweisen: Was ihre Chefs „unter 3“ erzählten, gaben sie „unter 2“ frei, also offen für die Verwendung, bisweilen bis in die Wortwahl hinein, weswegen sie ja auch „Vertraute“ heißen. Was wiederum zeigt: Hintergrundgespräche werden – mindestens bei Spitzenpolitikern – bestens vorbereitet.
Es gibt also viele Gründe, Hintergrundgespräche anzubieten. Wer es nicht tut, begibt sich der Möglichkeit, für sich zu werben und sich zu erklären. Leicht entsteht der Ruf von Überheblichkeit und Arroganz. Ein Ruf, der, wenn er erst einmal verbreitet ist, nur schwer wieder gutzumachen ist. Und immer gibt es im Berliner Betrieb genügend Leute, die dem journalistischen Bedürfnis nach Indiskretionen, Informationen und Hintergründen nachkommen – sozusagen in die Bresche springen: Beamte in Ministerien, Abgeordnete oder Mitarbeiter in Fraktionen und natürlich die vielen „Parteifreunde“, die ihre Chance nutzen, eine unterhaltsame Geschichte zu erzählen. Besser, wenn die eigene Sicht auf die Dinge auch bekannt ist, zumindest in den Redaktionen, die darüber berichten.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 145 – Thema: Halbzeit. Das Heft können Sie hier bestellen.