Gäbe es in der Politik einen Volatilitätsindex wie an der Börse, so wären seine Ausschläge in den vergangenen Jahren markant ausgefallen. Kaum etwas scheint noch berechenbar. Auf der weltpolitischen Bühne begann es mit dem Brexit. Es folgten die überraschende Wahl Donald Trumps, die Volten in Nordkorea und das Erstarken populistischer Parteien, die in einigen EU-Ländern bereits in der Regierung sitzen.
Auch innenpolitisch ist die Situation „bunter“ geworden: mehr Fraktionen im Bundestag, ein Flickenteppich von Parteikonstellationen im Bundesrat, weniger Stammwähler, verbunden mit einem signifikanten Rückgang der Wahlergebnisse bei den einstmals großen Volksparteien sowie einer für deutsche Verhältnisse äußerst zähen Regierungsbildung. Für die Wirtschaft ist der Umgang mit Volatilität, Unberechenbarkeiten und den sogenannten „schwarzen Schwänen“ – also unvorhergesehenen, höchst unwahrscheinlichen Ereignissen mit drastischen Konsequenzen – nicht neu. Können Interessenvertreter sich davon etwas abschauen? Vieles spricht dafür.
In der Vuca-Welt ist es entscheidend, proaktiv zu handeln
Wirtschaftskapitäne navigieren schon länger in der unruhigen Vuca-Welt. Das Akronym steht für „volatility, uncertainty, complexity, ambiguity“ (dt.: Volatilität, Unsicherheit, Komplexität, Mehrdeutigkeit). Weitsichtige Unternehmen stellen sich auf dieses Umfeld ein, um bei Bedarf schnell reagieren zu können. Andere hoffen, dass alles so bleibt, wie es ist. Der erste Weg führt zu einer Strategie (Stichwort: Agilität), der zweite zu Aktionismus. In der Vuca-Welt ist es erfolgsentscheidend, proaktiv und initiativ zu handeln – und eben nicht zu warten, bis der „schwarze Schwan“ um die Ecke kommt. Wenn nun auch die Welt der Politik zunehmend von den Vuca-Merkmalen bestimmt wird, dann stellt sich die Frage, wie eine entsprechende Strategie für Interessenvertreter aussehen könnte.
Wichtig ist eine intensivere Kontaktpflege mit mehr Stakeholdern – über die Regierungsfraktionen hinaus. Sieht man von der AfD ab, können die Oppositionsparteien von heute schnell zu Regierungsparteien werden. Politische Farbenspiele, die vor Jahren undenkbar schienen (Schwarz-Grün in Hessen, Grün-Schwarz in Baden-Württemberg, Jamaika in Schleswig-Holstein, Kenia in Sachsen-Anhalt), sind heute Realität. Schon bringen CDU-Politiker den Gedanken an eine mögliche Koalition mit der Linken ins Spiel. Um es mit dem Slogan einer japanischen Automarke auszudrücken: „Nichts ist unmöglich …“
Enge Kontakte zu noch mehr Stakeholdern zu pflegen, erfordert zudem zwingend eine breitere Aufstellung in den Hauptstadtrepräsentanzen sowie die Nutzung zeitlich begrenzter Kooperationen und Interessenplattformen. Social Media sind ohnehin ein Muss. Zu prüfen wäre jedoch, ob Interessenvertreter in der Lage sind, sehr schnell auf relevante Entwicklungen zu reagieren. Schließlich wissen nicht nur Börsianer: Von Volatilität kann man auch profitieren.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 124 – Thema: Die Macht der Länder. Das Heft können Sie hier bestellen.