Auf den Mund gefallen

Politik

Im Mai 2020 verkündete ein Ministerpräsident auf Twitter: “Niemand wird gegen seinen Willen geimpft. Auch die Behauptung, dass diejenigen, die sich nicht impfen lassen, ihre Grundrechte verlieren, ist absurd und bösartig. Lassen Sie uns Falschnachrichten und Verschwörungstheorien gemeinsam entgegentreten.”

Jetzt sind die Ministerpräsidenten drauf und dran, im Einklang mit der neuen Ampelkoalition eine allgemeine Impfpflicht durchzusetzen. Ganz vorne dabei ist ein Ministerpräsident, der schon im März 2021 eine Impfpflicht nicht ausschließen wollte. Interessanterweise sind beide Ministerpräsidenten, von denen hier die Rede ist, dieselbe Person: Michael Kretschmer (CDU) aus Sachsen.

Versprechen, die sich nicht halten lassen, kosten Glaubwürdigkeit. Bezogen auf ein Virus sind sie darüber hinaus auch töricht. Eine Krankheit lässt nicht mit sich verhandeln. Die Garantien, es werde auf keinen Fall eine Impfpflicht geben, stammen aus einer anderen Zeit. Damals konnte sich kaum jemand ausmalen, wie schlecht die Impfquote ausfallen würde. Eventualitäten sind aber fester Bestandteil politischen Denkens. Obendrein war das Versprechen überflüssig: Wer lässt sich nur impfen, wenn die Pflicht dazu ausgeschlossen wird?

Trotzdem gab es diese Garantien etwa von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Für Aufregung sorgte die Bundesregierung, indem sie von ihrer Website die Aussage entfernte, “eine Impfpflicht wird es nicht geben.” Es wäre nicht das erste Mal, dass Änderungen auf einer Website mehr Probleme verursachen, als sie lösen. Sich einen Änderungsalarm dafür einzurichten, ist in der Trickkiste von Journalisten und politischen Widersachern mittlerweile ein alter Hut. Wird eine solche Änderung vorab nicht kommuniziert, steht sofort ein Verdacht im Raum: Hier wird versucht, etwas still und heimlich einzukassieren. Von den Ampelkoalitionären sagte Marco Buschmann, der parlamentarische Geschäftsführer der FDP, in einer dynamischen Lage verbiete es sich, “irgendwas kategorisch für alle Zeiten auszuschließen”. Stimmt. Dann sollte man das aber auch lassen.

Viele Krisenmanager

Die Pandemie beherrscht unser Leben seit fast zwei Jahren. Sie betrifft viele, wenn nicht alle unsere Lebensbereiche. Entsprechend hoch ist unser Informationsbedarf. Wie lange dauert eine Quarantäne? Wie funktioniert das mit den Kitas und Schulen? Wie viele Kollegen dürfen unter welchen Umständen in einem Büro sitzen? Wer bekommt wann seine Impfung und was muss er dafür tun? Die Politik muss diese Fragen nicht nur beantworten. Ihre Antworten müssen klar, verständlich, nachvollziehbar und konsistent sein. Kanzlerin Merkel sagte in ihrer Fernsehansprache im März 2020: “Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst.” Klar, verständlich, nachvollziehbar, konsistent.

Vor allem müssen politische Botschaften aber jeden erreichen. Umso wichtiger ist es, dass die verschiedenen Politiker, Wissenschaftler und Beamten, die notgedrungen Hand in Hand die Krise managen müssen, einheitlich kommunizieren. Um im Bild zu bleiben, muss eine Hand wissen, was die andere tut. Weil nahezu alle Bürger auf diese Antworten angewiesen sind, verunsichern falsche und widersprüchliche Aussagen von offiziellen Stellen enorm.

Widersprüchlich werden die Verlautbarungen zwangsläufig, je mehr Köche im kommunikativen Brei herumrühren. Genauso schlimm ist es aber, wenn keiner daran denkt, die Suppe auszulöffeln. Es gilt die alte Redewendung: Wenn alle verantwortlich sind, ist niemand verantwortlich. Auch zu Beginn der vierten Corona-Welle hatten viele einen Löffel in der Hand. Die noch amtierende Regierung ließ keine große Lust erkennen, noch irgendwie in die sich anbahnende Katastrophe einzugreifen. Die Ministerpräsidenten spielten lieber Schwarzer Peter mit einer neuen Bundesregierung, die sich noch gar nicht gebildet hatte, anstatt in ihren Bundesländern das zu tun, wozu sie die Gesetze berechtigen: die Pandemie mit Maßnahmen zu bekämpfen.

Gleichzeitig verhandelten SPD, Grüne und FDP hinter verschlossenen Türen eine neue Koalition. Um nach außen einträchtig zu wirken, wollten die Ampelparteien auf keinen Fall öffentlich streiten – auch nicht über den richtigen Weg aus der vierten Welle. Besonders stolz waren sie darauf, dass aus den Gesprächen nichts an die Öffentlichkeit gelangte. Die fühlte sich von der Politik alleingelassen – zu Recht. Immerhin setzten die Ampelleute dann bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags ernste Mienen auf und erinnerten an die schwere der Lage. In Interviews konstatierten Mediziner: das Kind ist in den Brunnen gefallen.

Die Pandemie ist vorbei – bis sie wiederkommt

Allzu oft fehlte der Politik schlicht die Weitsicht. Es ist unwahr und dreist, was der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) behauptete: Die Fachleute hätten nicht davor gewarnt, dass Deutschland mit einer zu niedrigen Impfquote ein heißer Corona-Herbst bevorstünde. Aber selbst wenn die Politik tatsächlich davon ausging, dass die Pandemie ausgestanden ist: Es macht einen Unterschied, das zu verkünden – oder dann auch zu beschließen. Die sogenannte “epidemische Lage nationaler Tragweite” ist nur eine zeitlich befristete Rechtsgrundlage, die Bund und Ländern rasch einschneidende Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung ermöglicht. Das weiß jeder – zumindest jeder Jurist, Journalist und die politisch interessierte Öffentlichkeit. Mit diesen Gruppen allein übersteht man aber keine Pandemie. Was zählt, ist, dass alle verstehen.

Das ganze Dilemma fasste CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt treffend zusammen: “Wenn Sie heute die epidemische Lage beenden wollen, wie soll das in der Öffentlichkeit eigentlich ankommen? Wie wollen Sie die Menschen davon überzeugen, sich impfen zu lassen, wenn Sie das Signal geben: Es wird schon irgendwie werden, die epidemische Lage muss nicht verlängert werden, es kommt schon alles irgendwie in Ordnung?” Natürlich fand Dobrindt diese Worte erst, als sich die Ampelkoalition vorgenommen hatte, die epidemische Notlage auslaufen zu lassen. Noch im Oktober hatte aber auch Bundesgesundheitsminister Spahn die Signale gesendet, die Dobrindt geißelte.

Natürlich ist Corona als medizinisches Thema eine verflixt komplizierte Sache. Bei den meisten Begriffen, auf die es ankam, kursierten mindestens zwei, häufiger noch mehr Interpretationen. Wie es bei Fachterminologie so ist, war nur eine davon korrekt. Wie sieht eine exponentielle Wachstumskurve aus? Was ist eine Inzidenz? Was ist der Unterschied zwischen Letalität und Mortalität? Viel zu oft wurde in der politischen Kommunikation das Wissen um die eine, korrekte Bedeutung stillschweigend vorausgesetzt.

Eine Lernkurve ist nicht zu beobachten. Um zu erklären, warum ein hoher Anteil von Geimpften auf Intensivstationen nicht gegen die Wirksamkeit von Impfstoffen spricht, musste zuletzt sogar die Tierwelt herhalten: Wenn von 1 Million Zebras und von 100 Gnus jeweils 50 Tiere auf der anderen Seite eines Flusses ankommen, sind beide nicht gleich gefährdet. Die (ungeimpften) Gnus schwimmen unter erhöhter Lebensgefahr. Dieses griffige Bild fiel allerdings keinem politisch Verantwortlichen ein, sondern einem User auf Twitter.

Dickes Fell

Aber auch die wissenschaftliche Seite der Behörden stellte sich oft unglücklich an. Thomas Mertens, der Chef der Ständigen Kommission (STIKO), lässt sich schwer aus der Ruhe bringen. Er sei “mit einem relativ dicken Fell ausgestattet”, sagte Mertens bereits im Juli dem Deutschen Ärzteblatt. Das dicke Fell kann er gut gebrauchen. Immer wieder stehen er und seine Hüter des Impfstoffs in der Kritik. Der Vorwurf: schlechte Kommunikation.

Die Ausweitung der Empfehlung für Corona-Auffrischungsimpfungen verkündete Mertens in einer Talkshow. Wörtlich sagte er, die STIKO werde “über die nächste, sozusagen die fortgeschriebene Empfehlung beraten, und das wird nicht lange dauern, und dann wird die jetzt von ihnen reklamierte Empfehlung auch kommen”. Erst auf eine Nachfrage stellte Mertens klar, die Empfehlung werde “bis 18” gesenkt. Ein Hauch von “Nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich” wehte durchs TV-Studio von Markus Lanz.

Mertens stellte sich damit an die Seite des Bundesgesundheitsministers, der die Auffrischungsimpfung für alle freigeben wollte. Die STIKO-Empfehlung zog die Grenze aber bei 70 Jahren und aufwärts. Das passt nicht zusammen? Doch, fand Mertens. Da die älteren Semester früher geimpft worden seien, wären die sechs Monate Abstand zwischen zweiter und dritter Impfung ohnehin abgelaufen. “Wir meinen also die gleiche Gruppe”, sagte Mertens. Alles klar. Oder?

Spahns Moderna-Debakel

Der letzte Akt in der Tragödie gebührt wieder Jens Spahn. Der hatte in einem Schreiben an die Länder angekündigt, Bestellungen für den Biontech-Impfstoff zu begrenzen. Stattdessen solle vermehrt das Präparat von Moderna verimpft werden. Andernfalls drohten Moderna­Dosen, zu verfallen. Unglücklich war hier nicht nur die Impfstoffbegrenzung. Die Impfkampagne werde dadurch “massiv behindert”, sagte Burkhard Ruppert, Vorstandschef der kassenärztlichen Vereinigung (KV). Lange aufgestellte Pläne und Termine würden durcheinandergebracht.

Auch die Begründung sorgte für Unmut. Der Hinweis auf das Verfallsdatum des Moderna-Impfstoffs legte nahe, hierbei handele es sich um einen Restposten, den niemand haben will. Dass Moderna tatsächlich über einen besseren Langzeitschutz als der Impfstoff von Biontech verfügt, geriet darüber in den Hintergrund. Spahn versuchte zwar eilig, diese Tatsache mit dem Vergleich nachzuschieben, Moderna sei ein “Rolls-Royce”, Biontech dagegen ein “Mercedes”. Das half aber nicht mehr viel. Der Schaden war bereits angerichtet.

Jetzt werden Sie sich fragen, warum ich Olaf Scholz ausgespart habe. Das ist leicht: Er hat sich in der Sache bislang nicht substanziell zu Wort gemeldet. Aber so funktioniert “Kanzler in Deutschland” offenbar.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 137 – Thema: Die neue Mitte?. Das Heft können Sie hier bestellen.