Drei Tipps für Ihre Sommerlektüre

Rezensionen

Für die Sozis

Olaf Scholz ist der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Was vor einigen Monaten noch als Fiktion durchgegangen wäre, ist heute Realität. Drei Monate vor der Bundestagswahl 2021 lag die SPD in den Umfragewerten noch bei 15 Prozent. Medien und Parteigegner belächelten die Entscheidung, überhaupt einen Kanzlerkandidaten zu stellen. Die SPD schien sich auf eine neue Zeitrechnung einlassen zu müssen. Es kam anders. Nach 16 Jahren CDU-geführter Bundesregierung darf nun die SPD wieder einen Kanzler stellen. Ist es das Ende des Niedergangs oder nur eine Unterbrechung?

Mit dieser Frage beschäftigt sich Richard Stöss. Er ist deutscher Politikwissenschaftler und außerplanmäßiger Professor an der FU Berlin. Die Schwerpunkte seiner Forschungsarbeit sind Rechtsextremismus und Parteienforschung. In seinem neuen Werk „SPD am Wendepunkt – Neustart oder Niedergang!“ sucht er externe und interne Ursachen für den drastischen Rückgang der Wahlergebnisse der SPD zwischen 1998 und 2017. Problematisch für die Partei habe sich etwa das Erbe der „Agenda 2010“ erwiesen. Dazu kam eine Führungslosigkeit in der Partei, die Bereitschaft, über drei Legislaturperioden als Juniorpartner in einer Großen Koalition zu agieren und nicht zuletzt interne Streitigkeiten. Stöss untersucht, ob die SPD das Opfer einer von ihr nicht zu verantwortenden gesellschaftlichen Entwicklung geworden ist oder ob die Misserfolge selbstverschuldet sind.

Weiterhin versucht Stöss zu erklären, wie der „Last-Minute-Swing“ auf überraschende 25,7 Prozent bei der Bundestagswahl 2021 vollbracht wurde. Auch hier gibt es eine Reihe von internen Faktoren, die der Partei zum Aufstieg verhalfen. Stöss wirft auch einen kurzen Blick auf das Verhalten der anderen Parteien im Vorfeld der Bundestagswahl.

Insgesamt liefert Stöss keine allgemeine Geschichte der SPD in den letzten beiden Dekaden oder stellt den Anspruch, bisher unbekannte Aktenbestände zu erschließen, neue Daten zu erheben und brisante Interna mitzuteilen. Vielmehr analysiert er nüchtern anhand zugänglicher Quellen, Berichte, Analysen und Kommentare die Durststrecke der SPD. Später wagt er einen Ausblick auf die nahe Zukunft. Für ihn ist klar: Die SPD befindet sich an einem Wendepunkt – entweder wird die Partei den jungen Aufschwung trotz der außerordentlichen Hürden fortsetzen oder der Niedergang wird sich früher oder später weiter fortsetzen.
Stöss arbeitet in seinem Werk äußerst akribisch und sachlich. Der Wissenschaftler weist selbst darauf hin, eine Studie vorzulegen. Das zeigt sich nicht zuletzt eingangs durch die ausführliche Darlegung der Problemstellung und des weiteren methodischen Vorgehens. Wer eine populärliterarische Lektüre erwartet, wird enttäuscht werden. Davon sollte man sich aber nicht abschrecken lassen. Wer es mit der SPD hält oder eine Partei auf dem Prüfstand sehen möchte, wird sich nicht langweilen. (mn)

Richard Stöss: „SPD am Wendepunkt – Neustart oder Niedergang”, Schüren-Verlag, 2022, 252 Seiten, 28 Euro

Für eine bessere Debattenkultur

Mit „Radikale Kompromisse“ hat die „Zeit Online“-Journalistin Yasmine M’Barek ein Plädoyer für eine bessere Debattenkultur und damit einhergehend politische Kommunikation vorgelegt. Kernfrage des Werks ist, warum Diskurse in der deutschen Politik oftmals scheitern. Exemplarisch nennt die Autorin dafür unter anderem Debatten um den Klimawandel, das Gendern, die Corona-Maßnahmen oder die schwarze Null.

Für M’Barek liegt der Ursprung dieses Scheiterns an einer zu intransparenten Kommunikation sowie einer mangelhaften Fehlerkultur: „Das ist die Angst vor dem eigenen Unwissen und dem Enttarntwerden, denn in unseren Debatten sind Schwächen und fehlende Allwissenheit nicht angebracht, außer man benutzt sie als stilistisches Mittel.“

Eine Lösung sieht die Autorin in mehr Realpolitik und „radikalen Kompromissen“. Debatten sollten schematisch wie folgt ablaufen, um den bestmöglichen Kompromiss zu finden: „Idealisten setzen Impulse und reiben sich an den Konservativen, die stagnieren und Stabilität bewahren wollen. Realisten versuchen, zwischen diesen Polen zu vermitteln. In der Mitte trifft man sich.“

M’Barek geht insbesondere mit den „Idealisten“ hart ins Gericht. Die würden ein langfristiges Ziel durch realitätsferne Debatten allzu oft aus den Augen verlieren. In der Konsequenz würde das oftmals Kompromisse verhindern. Außerdem seien Idealisten „von den Stagnierenden und Konservativen abhängig und ihnen gegenüber in der Bringschuld“, was sie nicht wahrhaben wollten. Unklar bleibt mir, wie ihre Kritik an den Idealisten mit dem von M’Barek präferierten Weg zur Kompromissfindung zusammenpassen soll. Wenn Idealisten das alles so umsetzen, wäre sie am Ende Realisten und wie M’Barek nicht müde wird zu wiederholen, braucht es beide Gruppen neben den Konservativen.

Einiger der Beispiele sind zudem schlecht gewählt. So schreibt M’Barek: „In der Atomdebatte wurde nie wirklich gestritten, sondern tabuisiert.“ Oder, dass die schwarzen Null zu einer „als ökonomisch gesetzten Norm“ wurde, die selten hinterfragt wurde. Zu beiden Themen kann ich mich lebhaft an verschiedene Positionen in der deutschen Politik und Medienkommentaren erinnern. Laut M’Barek sei Realpolitik in der deutschen Debatte stigmatisiert. Wie das mit 16 Jahre Merkel-Kanzlerschaft und nun einer Ampel unter Olaf Scholz zusammenpassen soll, bleibt sie schuldig zu erklären.

M’Barek schreibt, man solle nicht den Fehler machen, „Twitter als Spiegel der Gesellschaft zu sehen, gerade im deutschsprachigen Raum“. Leider hatte ich beim Lesen oftmals das Gefühl, dass sie selbst diesen Ratschlag nicht beherzigt. Viele Aussagen und Beispiele stimmen für mich mit der Realität des politischen Berlin nicht überein. Am Ende bin ich etwas ratlos, an wen sich das Buch eigentlich richtet. Für den politisch Interessierten Leser gibt es kaum etwas Neues. Für Leser, die gerade anfangen wollen, sich mit Politik zu beschäftigen, könnte das Buch ein Mehrwert sein, wenn es nicht so kompliziert geschrieben wäre. (jc)

Yasmin M’Barek: „Radikale Kompromisse”, Hoffmann und Campe, 2022, 192 Seiten, 18 Euro

Inside Fridays for Future

Wie Maurice Conrad gleich zu Beginn seiner Schrift klarmacht, handelt es sich bei „Wir streiken, bis ihr handelt“ nicht um ein „Klima-Buch“. Stattdessen ist es „ein Erklärungsversuch und ein Einblick in die größte Klima- und Jugendbewegung unserer Zeit: Fridays For Future“. Das Schöne daran: Der 21-jährige Autor verfügt über allerhand Insiderwissen. So ist er einer der Initiatoren der Fridays-for-Future-Bewegung in Mainz und war Spitzenkandidat der Klimaliste zur rheinland-pfälzischen Landtagswahl 2021.

Das ermöglicht ihm einen äußerst umfangreichen Einblick in die Jugendbewegung. Er klärt darüber auf, wie es Fridays for Future gelungen ist, in kürzester Zeit von einer Aktion zu einer globalen Bewegung zu werden, welche Strategien dahinterstehen und wie diese Strategien gefunden wurden, welche Rolle Medien und Popkultur dabei spielten, wie mit dem Generationenkonflikt umgegangen wird oder wie Konflikte gelöst wurden, als einige Aktivisten anfingen, in die aktive Politik zu drängen.

Durch die Nähe des Autors zu Fridays for Future könnte man erwarten, Lobeshymnen auf die Bewegung zu lesen. Conrad setzt sich aber immer wieder mit Kritik auseinander und versucht, diese einzuordnen. Über den Vorwurf, Fridays for Future sei nicht divers genug, räumt er beispielsweise ein: „Auch wenn die Bewegung wie keine andere versucht, divers zu sein: Sie ist am Ende des Tages in großen Teilen weiß, gut gebildet und wohlhabend.“ Er gibt aber zu bedenken: „Eine Jugendbewegung ist letztlich auch nur ein Mikrokosmos unseres Makrokosmos. Jahrzehnte- beziehungsweise jahrhundertelange strukturelle Diskriminierung lassen sich nicht mal eben mit einem Fingerschnippen beseitigen.“

Das Buch sei allen ans Herz gelegt, die sich dafür interessieren, was die jungen Aktivisten neben den Schulstreiks noch so tun. Aber auch Campaigner könnten hier neue Anregungen finden, beinhaltet „Wir streiken, bis ihr handelt“ in erster Linie einen frischen Blick auf erfolgreiche, politische Kampagnen, die von Menschen gemacht wurden und werden, die bis auf wenige Ausnahmen nicht im typischen Politikbetrieb agieren und bis dato kaum Erfahrungen in diesem Bereich sammeln konnten – und trotzdem Erfolg hatten. (jc)

Maurice Conrad: „Wir streiken, bis ihr handelt!”, Westend, 2022, 192 Seiten, 14 Euro

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 138 – Thema: Rising Stars. Das Heft können Sie hier bestellen.