Auf Augenhöhe

Wenn Jürgen Rüttgers an jenem Tag im Internet gewesen wäre, er hätte es vielleicht noch bemerkt – und trotzdem nichts mehr verhindern können: Ausgerechnet die Landtagspräsidentin in Düsseldorf, Regine von Dinther, hatte zwölf Jahre lang keine Mitgliedsbeiträge an die CDU bezahlt – ein Fiasko für den Ministerpräsidenten, der am 9. Mai wiedergewählt werden will. Noch weniger dürfte Rüttgers indes behagt haben, dass im Netz auch ein internes Mahnschreiben von CDU-Kreisgeschäftsführer Manfred Lorenz auftauchte, in dem dieser von Dinther höflich, aber bestimmt zur Begleichung der Rechnung auffordert. Zum Download bereit – für jedermann.

„Anarchistisches Element“

Als klar wurde, wer die peinliche Affäre aufgedeckt hatte, mag sich so mancher in Düsseldorf verwundert die Augen gerieben haben: Es war keine der großen Zeitungen, sondern ein kleiner Internet-Blog. „Wir in NRW“ nennt sich das Projekt, das Rüttgers seit Dezember mit beständigen Nadelstichen das Leben schwer macht und nahezu wöchentlich neue Enthüllungen nebst vertraulichen Dokumenten aus seinem direkten Umfeld veröffentlicht. Neben Projekten wie „Klare Kante“ des früheren dpa-Journalisten Gerd Reuter, der „Post von Horn“, dem „Pottblog“ oder den „Ruhrbaronen“ ist „Wir in NRW“ nur einer von zahlreichen Blogs, die den Landtagswahlkampf in Düsseldorf kritisch beäugen, aber zugleich derjenige, der am meisten von sich reden machte. Denn er stellt am ehesten das dar, was der Mainzer Politikwissenschaftler Jürgen Falter ein „neues anarchistisches Element“ genannt hat. Mit kritischen Kommentaren und exklusiven Geschichten spielt er auf Augenhöhe mit den traditionellen Medien – und damit eine gewichtige Rolle im Wahlkampf. So war es „Wir in NRW“, das mit der Veröffentlichung vertraulicher Dokumente den Verdacht erhärtete, dass der „Zukunftskongress“ der NRW-CDU im Frühjahr 2006 vor allem von der Düsseldorfer Staatskanzlei organisiert wurde – und Rüttgers entgegen anderslautender Äußerungen sehr wohl von den umstrittenen Sponsoring-Treffen mit Wirtschaftsvertretern gewusst haben dürfte. Überhaupt hatte der Blog in der „Sponsoringaffäre“ schon des öfteren Exklusives zu bieten: Kurz nach der Enthüllung der Affäre durch „Spiegel Online“ im Februar veröffentlichte „Wir in NRW“ ein internes Einladungsschreiben der NRW-CDU an Unternehmer für den Landesparteitag 2008 in Dortmund – inklusive einer Liste zum Ankreuzen für den „Fotowunsch“. Darunter: Ministerpräsident Rüttgers und fast sein gesamtes Kabinett.
Der Verantwortliche für all diese Enthüllungen ist in der Branche kein Unbekannter: Alfons Pieper war bis zu seinem Ruhestand viele Jahre Journalist, stellvertretender Chefredakteur der „WAZ“ in Essen und Korrespondent in Berlin. Im Dezember 2009 hatte Pieper gemeinsam mit ein paar Kollegen die Idee, einen politischen Blog zu machen – für all die Geschichten, die er so hörte und für die die traditionellen Medien keine Verwendung hatten. Sechs Journalisten, Pieper eingeschlossen, arbeiten seither für „Wir in NRW“, allesamt mit Erfahrung und guten Kontakten in die Landespolitik, die sie für beißende Kritik nutzen. Nicht umsonst schreiben die Autoren, Pieper ausgenommen, unter Pseudonymen wie „Theobald Tiger“ oder „Peter Panter“. Das hat Programm – und Tradition: In der Weimarer Republik schrieb Kurt Tucholsky unter diesen Namen gegen die Mächtigen an.
Wenige Monate nach der Gründung ist „Wir in NRW“ so etwas wie eine Institution – und das, obwohl Pieper anfangs nicht einmal wusste, ob man Blog „mit g oder mit ck“ schreibt, wie er sagt. Seit Dezember kommt der Blog nach eigenen Angaben auf über eine Million Besucher – ein Zuspruch, den Pieper vor allem in der Schwäche der herkömmlichen Medien begründet sieht. „Die Berichterstattung in der Region ist viel zu gefällig geworden. Die Leute wollen keine parteipolitisch gefärbte Berichterstattung, sondern kritischen Journalismus.“ Doch dass „Wir in NRW“ diesen Anspruch selbst erfüllt, wird von so manchem bezweifelt – vor allem in der CDU. So brachte Piepers scharfe Kritik an Rüttgers ihm schon oft den Vorwurf ein, SPD-Sympathisant und mitnichten objektiv zu sein. „Alles Quatsch“, sagt Pieper, „wir machen unabhängigen Journalismus.“ Auch wenn man „ganz klar“ einen Schwerpunkt bei der CDU habe – aber nur, weil die eben die regierende Partei sei. Trotzdem sehen einige schon darin, dass Pieper lange für die zumindest früher links orientierte WAZ arbeitete, einen Beweis für seine Motivation.

Profis am Werk

Wie dünnhäutig die Politik mittlerweile auf die neue Macht aus dem Netz reagiert, zeigt auch das Beispiel der „Ruhrbarone“. Anders als „Wir in NRW“ gingen sie schon 2007 online, und im Gegensatz zu Piepers Projekt beschränken sich die Internet-Adligen nicht allein auf Politik, sondern berichten ressortübergreifend über das Leben in Nordrhein-Westfalen. Auch hinter den Ruhrbaronen stecken professionelle Schreiber; verantwortlich zeichnet der 44-jährige Stefan Laurin, der für „Capital“ und andere Magazine schrieb und nun als freier Journalist arbeitet. 38 Mitarbeiter finden sich im Impressum des Blogs, „die meisten professionelle Journalisten“, wie Laurin nicht ohne Stolz sagt. Etwa David Schraven, der Gründungsredakteur im „taz“-Büro Ruhr war, für die „Zeit“ und die „Welt“ schrieb und von der „WAZ“ gerade nach Essen geholt wurde, um den investigativen Journalismus in der Gruppe zu stärken. 10.000 Leser erreicht das Projekt nach eigenen Angaben pro Tag.
Auch die „Ruhrbarone“ sind über die Landespolitik äußerst gut informiert. So gut, dass der neue CDU-Generalsekretär Andreas Krautscheid schon gallig von „illegal beschafften Daten“ sprach und im März schließlich Strafanzeige gegen Unbekannt erstattete, um den Maulwurf in der Staatskanzlei zu finden, der beständig Interna nach draußen gab. Doch die Blogger ficht diese Aufregung nicht an. „Es ist nicht nur unsere Aufgabe als Blog, sondern die Aufgabe der ganzen freien Presse, geheime E-Mails zu veröffentlichen, wenn damit solche Skandale wie der um den Miet-Mich-Rüttgers aufgedeckt werden“, schrieb „Ruhrbaron“ David Schraven nach der Straf­anzeige. Und weiter: „Rüttgers und seine Wahlkampfzentrale haben Angst vor uns Blogs. Weil wir nicht einzunorden sind. Weil wir unabhängig sind und bleiben.“ Gelassenheit auch bei „Wir in NRW“: „Wir klauen keine Dokumente“, sagt Andreas Pieper, „die werden uns zugespielt. Und die veröffentlichen wir.“
Dass die Nerven indes nicht nur bei der CDU, sondern auch bei der SPD äußerst gespannt sind, stellte bereits im vergangenen Jahr deren Spitzenkandidatin Hannelore Kraft unter Beweis: Als Ruhrbaron Schraven berichtete, dass Krafts Lebenslauf auf deren Homepage geändert und ein Verweis auf die Mülheimer Firma Zenit gelöscht worden sei, für die Kraft gearbeitet hatte und die in einen der großen Förderskandale im Land verwickelt war, entdeckte die CDU eine Steilvorlage und ließ Postkarten mit der Aufschrift drucken: „Haben Sie etwas zu verbergen, Frau Kraft?“. Kraft geriet unter Zugzwang und verlangte eine Unterlassungserklärung von den Ruhrbaronen. Doch diese weigerten sich, Kraft musste zurückrudern – und hatte am eigenen Leib erlebt, welche subversive Macht Blogs haben können.

Kleine Räder treiben große an

Nach einer anfänglichen Lernphase, in der die Politiker eher „konsterniert“ (Pieper) denn respektvoll gegenüber den Bloggern waren, nehmen die Parteien den von Profis gemachten „Bürgerjournalismus“ mittlerweile denn auch sehr ernst. Als „Theobald Tiger“ vor einigen Wochen berichtete, die CDU könne ihre Anhänger nicht mobilisieren, weil für den pompös geplanten CDU-Wahlkampfauftakt mit Jürgen Rüttgers in der Oberhausener Arena bis zum Karfreitag lediglich 2000 Anmeldungen eingegangen seien, sah sich CDU-Pressesprecher Matthias Heidmeier zum öffentlichen Dementi genötigt – und erklärte gereizt: „Wir haben kein Mobilisierungsproblem.“ Nicht 2000, sondern 6000 bis 8000 Teilnehmer hätten sich bislang zu der Veranstaltung angemeldet. Dass sich die Politik zu einem Blogbeitrag äußert – vor einiger Zeit noch undenkbar. In Nord­rhein-Westfalen aber ist der „Bürgerjournalismus“ im Netz längst auf Augenhöhe mit den Parteizentralen angekommen. „Ob man als Medium ernst genommen wird, entscheidet sich daran, ob man gute Geschichten hat“, sagt Stefan Laurin. „Wo sie dann stehen, in einem Blog oder in der Zeitung, ist egal.“ Auch sein Kollege David Schraven ist davon überzeugt, dass Blogs mittlerweile im Nachrichtengeschäft zumindest mitspielen: „Wir drehen nur kleine Räder. Aber die sind in der Lage, die großen zu bewegen.“

www.wir-in-nrw-blog.de
www.ruhrbarone.de
www.klare-kante-blog.de
www.pottblog.de

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Skandal! – was ist wirklich ein Skandal? und was wird bloss so genannt?. Das Heft können Sie hier bestellen.