Das Parteiensystem hat Platz für die Wagenknecht-Partei

Neue Partei

Sahra Wagenknecht rechnete in ihrem 2021 erschienenen Buch „Die Selbstgerechten“ mit einer aus ihrer Sicht zu linksliberalen Politik und Meinungsführerschaft in Deutschland ab – auch in ihrer eigenen Partei. Jetzt hat die Politikerin mit dem „Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit“ (BSW) ihre eigene Partei gegründet. Die Linke verliert mit der Parteigründung ihr bekanntestes Gesicht. Andererseits hofft sie, damit auch die jahrelangen internen Streitigkeiten mit Wagenknecht und ihrer Anhängerschaft los zu sein. Die Partei will sich nun als linke Bewegungspartei neu erfinden, während wöchentlich ausgewählte Mitglieder zu Wagenknecht überlaufen. Das Ziel der abtrünnigen linken Galionsfigur ist es, eine neue „links-konservative“ Kraft zu etablieren. Hat sie eine Chance?

Links-konservative Alternative

Wagenknecht bescheinigte bei ihrer Pressekonferenz im Oktober 2023, dass ihre Neugründung eine „unglaubliche Repräsentationslücke“ im deutschen Parteiensystem füllen wird. Ihre These lässt sich politikwissenschaftlich stützen. Die ideologischen Positionen im Parteiensystem lassen sich modellhaft in einem Vier-Quadranten-System auf zwei Dimensionen einteilen: Die soziokulturelle Konfliktlinie beschreibt die Gesellschaftspolitik. Politische Einstellungen unterscheiden sich dabei zwischen freiheitlichen Werten wie Progressivität und Offenheit auf der einen und konservativen Einstellungen wie Tradition und Patriotismus auf der anderen Seite. Dagegen beschreibt die sozioökonomische Dimension die wirtschaftspolitische Ausrichtung: Linke Positionen befürworten den Ausbau des Sozialstaats und Umverteilung, während rechte Positionen bestehende Besitzverhältnisse verteidigen und für den Abbau von Bürokratie und Sozialstaat eintreten.

Wissenschaftliche Analysen zeigen, dass sich mit SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke aktuell drei Parteien im links-liberalen Spektrum verorten. Im rechts-konservativen Spektrum konkurrieren mit CDU, CSU, Freie Wählern und AfD vier Parteien miteinander. Die FDP besetzt den rechts-liberalen Quadranten, während das links-konservative Spektrum unausgefüllt bleibt. Hier könnte die Wagenknecht-Partei eine Lücke füllen. (Siehe Abb. 1)

Abb 1 Quelle Wurthmann L C Angenendt M Thomeczek J P 2023 The Free Voters A Decent Alternative for Conservatives Politische Vierteljahresschrift 1 24

Zahlreiche Studien belegen, dass Wählerpositionen ein weitaus größeres Spektrum umfassen als die Grundausrichtung politischer Parteien. Viele finden daher keine alleinige politische Heimat bei einer Partei. Sahra Wagenknecht und ihre Mitstreiter wollen links und konservativ verbinden, um damit ein neues politisches Zuhause zu bieten. Erfolgreiche Beispiele dafür finden sich in anderen europäischen Ländern: Der französische Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon zeigte bei der Präsidentschaftswahl 2022, dass ein soziokulturell konservativer und sozioökonomisch linker Kurs über 20 Prozent der Stimmen einbringen kann. Sowohl die Sozialistische Partei in den Niederlanden als auch die Kommunistische Partei Griechenlands positionieren sich als links-konservative Kräfte. Die erstere verlor bei der vergangenen niederländischen Parlamentswahl die Hälfte ihrer Stimmen, überwiegend an die rechtsradikale PVV von Geert Wilders. Wagenknecht setzt auf die Wählerwanderung von der AfD zu ihrer Gruppierung. In Deutschland wäre der Erfolg einer solchen Partei ein Novum, aber er ist nicht ausgeschlossen.

Mögliche neue Heimat für die Unzufriedenen

Im April 2023 fragte die Deutsche Wahlstudie (GLES) in einer Umfrage danach, wie wahrscheinlich Befragte eine Partei unter Führung von Sahra Wagenknecht wählen würden. Bei einer Skala von minus fünf bis plus fünf galt eine Parteiwahl bei Werten zwischen plus drei bis plus fünf als wahrscheinlich. (Siehe Abb. 2)
Für fast ein Drittel der Wähler jeweils von AfD, Die Linke und des Nichtwählerlagers wäre das Bündnis eine attraktive Wahloption. Obwohl sich Linkspartei und AfD nach dem klassischen Links-Rechts-Schema diametral gegenüberstehen, löst die Partei mit Wagenknecht als Projektionsfläche bisher geglaubte Gegensätze auf. Sie könnte außerdem Menschen mobilisieren, die aktuell nicht wählen oder für Splitterparteien stimmen – sich damit heute also nicht ausreichend vertreten fühlen.

Abb 2 Quelle GLES Online Tracking T54 ZA7712 Eigene Darstellung und Berechnung

Laut bisherigen Untersuchungen neigt die potenzielle Anhängerschaft des BSW zu einwanderungskritischen, russlandfreundlichen und gesellschaftlich konservativen Positionen. Statt automatisch mehr Sozialstaat zu fordern, fokussiert sie darauf, wer davon profitiert. Dadurch ergeben sich Parallelen mit der AfD. Diese Positionen und Erkenntnisse aus der SINUS-Milieuforschung zeigen, dass das BSW vor allem bei veränderungsskeptischen Milieus der Mittel- und Unterschicht anschlussfähig ist. Diese Gruppen sind in Ostdeutschland stärker vertreten als im Rest der Republik. Bei ihnen konnte die AfD bei der vergangenen Bundestagswahl besonders und die SPD, CDU sowie Die Linke zum Teil überdurchschnittlich punkten. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schnitt dort dagegen unterdurchschnittlich ab. Wagenknechts einfaches Angebot an die unzufriedenen Milieus lautet: „Mit mir gibt es mehr Geld für Arbeitende in Deutschland und weniger für Fremde, Klimagesetze, Genderdebatten und die da oben“. Es ist das Versprechen einer purpurnen Alternative.

Wagenknecht liefert Social-Media-Power

Menschen wählen Menschen, die sie kennen. Der strategische Kniff der Liste Wagenknecht scheint aktuell aufzugehen: Im November 2023 gaben 28 Prozent der potenziellen BSW-Wähler an, die (damals noch nicht gegründete) Partei wegen ihrer Führungsfigur wählen zu wollen. Zuvor lag nur die Enttäuschung über andere Parteien mit 40 Prozent höher. Die Parteichefin verdankt ihre Bekanntheit zahlreichen Fernsehauftritten – 2013, 2016 und 2017 war sie die am häufigsten eingeladene Politikerin in deutschen Politik-Talkshows. Heute zählt sie zu den Bundestagsabgeordneten mit den meisten Fehlzeiten, erreicht aber über ihre Social-Media-Kanäle die Masse.

Laut der ARD/ZDF-Onlinestudie 2023 nutzten 69 Prozent der Menschen in Deutschland ab 14 Jahren regelmäßig Youtube, 35 Prozent Instagram, 33 Prozent Facebook und 15 Prozent Tiktok. Im Januar 2024 hatte Sahra Wagenknecht über 750.000 Follower auf Facebook, 670.000 auf Youtube, 300.000 auf Tiktok und 238.000 auf Instagram. Auf Youtube verbreitet sie in regelmäßigen, 20-minütigen Videos ihre Positionen zur Corona­politik, Putin-freundliche Relativierungen, Antiamerikanismus und rechnet mit den Grünen und der Ampel ab. Mit ihren millionenfach geklickten Videos erreicht sie Menschen weit über ihre eigene Anhängerschaft hinaus. Zum Vergleich: Olaf Scholz hat mit seinen Videobotschaften über den Youtube-Kanal der Bundesregierung mit 59.000 Followern ein deutlich kleineres Publikum. Auch hier tritt Wagenknecht in eine Lücke: Keine der Parteien bis auf die AfD konnte erfolgreiche politische Kommunikation auf Youtube und Tiktok etablieren. Das BSW könnte mit Wagenknechts Kampagneninfrastruktur entscheidende Stimmen für den Einzug in die Parlamente mobilisieren und zur direkten Content-Konkurrenz zur AfD werden.

Neue ostdeutsche Koalitionsmodelle?

Das Wahlkampfjahr 2024 wird entscheidend für das Bündnis Sahra Wagenknecht sein. Erzielt die Partei bei der Europawahl und den ostdeutschen Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg keine Erfolge, spricht das gegen die These, dass sie ein fehlendes Puzzleteil im Parteiensystem ist. Im schlimmsten Fall könnte ein Scheitern das Ende der parteipolitischen Karriere von Wagenknecht bedeuten.
Die Partei muss in den kommenden Monaten arbeits- und kampagnenfähige Strukturen aufbauen und Verantwortung auf mehr Schultern verteilen, um langfristig nicht allein von Wagenknechts Charisma abhängig zu sein. Sie benötigt neben Geld auch Ehrenamtliche. Diese sollten Plakate aufhängen, Flyer verteilen und in der Provinz für die neue Partei werben. Dass Wagenknecht für keine der kommenden Wahlen als Zugpferd kandidieren will und auf langsames Parteiwachstum setzt, könnte hinderlich sein. Andererseits vermeidet sie so, dass die Revolution ihre Kinder frisst – ein Prozess, der bei der Anfangsgeneration der AfD schrittweise stattfand.

Während die CDU jegliche Zusammenarbeit in einer Regierung mit der Partei „Die Linke“ ausschließt, trifft das – Stand heute – nicht auf das BSW zu. Sollte das „Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit“ in relevanter Stärke in die Parlamente einziehen, könnten sich neue Bündnisse aus CDU, SPD und BSW bilden. Schwarz-Rot-Purpur wäre womöglich das neue Modell einer Ostdeutschland-Koalition, die langfristig die AfD schwächen könnte. Dieses Wahljahr wird zeigen, ob das realistisch ist. Ausgeschlossen ist es nicht.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 146 – Thema: Plötzlich Opposition. Das Heft können Sie hier bestellen.