Herr Truger, wie weise fühlen Sie sich?
Ich fühle mich ganz kompetent, aber „weise“ ist ein fürchterliches Wort. Nach fast fünf Jahren im Sachverständigenrat wundert es mich nicht mehr, als Wirtschaftsweiser angesprochen zu werden. Aber eine glückliche Zuschreibung ist das nicht. Was soll das schon heißen? Weisheit ist irgendwie etwas Übermenschliches.
Haben Sie den Eindruck, dass der Titel Wirtschaftsweiser Ihren Aussagen mehr Legitimität verleiht als der Titel Professor?
Wir stehen ja nicht für uns, wir haben einen riesigen Stab aus 15 bis 18 Leuten. Das sind hochqualifizierte wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an unserem Standort im Statistischen Bundesamt in Wiesbaden. Der Anspruch ist, dass wir gründlich und evidenzbasiert arbeiten. Wenn wir Dinge analysiert haben, dann ist das kein Schnellschuss und insofern herausgehobener, als wenn sich irgendwer mal eben äußert. Trotzdem sollte jeder dieselbe Autorität genießen, wenn er eine Frage wissenschaftlich und gründlich untersucht hat. Unabhängig von Titel oder Ratsmitgliedschaft.
Wie oft sind Sie in der Hauptstadt und beraten den Kanzler?
Wir haben mehrere Ratssitzungen in Berlin und treffen mindestens zweimal auf den Kanzler: wenn wir das Jahresgutachten übergeben und bei der Übergabe unserer Konjunkturprognose im Frühjahr. Darüber hinaus treffen wir das Wirtschaftskabinett und in regelmäßigen Anhörungen auch die zuständigen Bundesminister und Bundesministerinnen. Außerdem haben wir diverse Verbändeanhörungen in Berlin. Wir sind also häufiger da. Es ist auch kein Geheimnis, dass wir umziehen möchten. Wir sind zuversichtlich, demnächst in Berlin zu sitzen.
Achim Truger (54) ist Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, den fünf sogenannten „Wirtschaftsweisen“. Dazu berief ihn die Bundesregierung 2019 auf Vorschlag der Gewerkschaften. Der gebürtige Kölner ist Professor am Institut für Sozioökonomie an der Universität Duisburg Essen. Zuvor war er Professor an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin. 2020 wurde er mit dem Kurt-Rothschild-Preis für Wirtschaftspublizistik ausgezeichnet.
Im Vorgespräch erwähnten Sie, dass die Vergütung für die Mitarbeit im Sachverständigenrat über 33.000 Euro jährlich lange nicht mehr erhöht wurde. Hat Sie die Inflation hart getroffen?
(Lacht.) Das wäre Jammern auf hohem Niveau. Natürlich würde ich mich freuen, wenn die Vergütung erhöht würde. Es ist auch seltsam, dass sie seit über zehn Jahren nicht einmal an die Inflation angepasst wurde. Aber was soll‘s, so ist es eben.
In Folge des Verfassungsgerichtsurteils zum Nachtragshaushalt 2022 kann die Bundesregierung Weisheit jetzt gut gebrauchen. Hat Sie das Urteil so kalt erwischt wie die Bundesregierung?
In dieser Klarheit und Schärfe war es überraschend. Ich habe damit gerechnet, dass es eine Einschränkung für zukünftige Haushaltsgesetze gibt. Dass der Nachtragshaushalt für verfassungswidrig und nichtig erklärt wird, mit all den Nebenfolgen für andere Operationen im Bundeshaushalt, das hätte ich so nicht erwartet.
Welche anderen Operationen sind da betroffen?
Es geht um 60 Milliarden aus dem Klima- und Transformationsfonds (KTF) und zusätzlich noch 26 Milliarden aus der großen Koalition. Der Wirtschafts- und Stabilisierungsfonds (WSF) ist auch betroffen, deshalb dreht die Regierung eine Extraschleife, um den Haushalt 2023 geradezuziehen. Dort geht es noch einmal um etwa 40 Milliarden. Für 2024 zusätzlich um 20 Millarden. Das ist schon sehr viel.
Bekommt Herr Lindner das über die rückwirkende Verlängerung der Notlage hin?
Er hat angekündigt, das zu tun. Alles andere wäre Wahnsinn. Wie würde man jetzt irgendwo 40 Milliarden kürzen? Das wäre nicht nur ein Haushaltsproblem, sondern ein makroökonomisches Risiko. Wenn Medien es nicht schaffen – ich nenne jetzt nicht das Nachrichtenmagazin mit Namen –, die Überschriften richtig zu setzen, und suggerieren, es kämen jetzt hohe Kosten auf die Gesellschaft zu, ist das natürlich Quatsch.
„Ich gehe nicht davon aus, dass der Kanzler den Jahresbericht liest.“
Wie ist es denn dann?
Es geht um Mittel, die 2023 schon verausgabt wurden – aber eben nicht auf Grundlage der Verfassung. Die werden jetzt durch die Verlängerung der Notlage legitimiert. Das nachträglich über die Ausnahmeregel klarzustellen, ist, glaube ich, völlig unproblematisch. Auch der Sachverständigenrat hat vor einem Jahr gesagt: Eigentlich hätte man im laufenden Jahr die Notlage erneut ausrufen müssen. Dasselbe müsste meines Erachtens auch im kommenden Jahr gemacht werden. Es gibt da allerdings noch juristische und politische Zweifel.
Zurück zum Rat. Wie kann man sich die Zusammenarbeit zwischen Ihnen vorstellen?
Alle grundsätzlichen Entscheidungen treffen wir im Konsens, auch beim Jahresgutachten. Wir sind gesetzlich bei der Themenwahl ein bisschen eingeschränkt: Wir müssen eine Konjunkturprognose machen, sollen uns zur Verteilung äußern, gelegentlich die Einkommens- und Vermögensverteilung analysieren. Seit gut vier Jahren erstellen wir auch einen Produktivitätsbericht, weil wir auch der Nationale Ausschuss für Produktivität sind.
Welche Kapitel gibt es jetzt im Bericht?
Im aktuellen Jahresgutachten haben wir die Schwerpunkte Rente, Kapitalmärkte und die angesprochenen Verteilungs- und Produktivitätskapitel. Was wir im Kapitel Produktivität anschauen, können wir selbst festlegen. Diese thematischen Entscheidungen treffen wir im Frühjahr, dann werden Verantwortlichkeiten festgelegt und Kapitelteams gebildet. Öffentlich sagen wir allerdings nicht, wer für welches Kapitel verantwortlich war.
Es heißt, die Kanzlerin habe bei Fragen den Politologen Herfried Münkler oder die Virologin Melanie Brinkmann auf dem Handy angerufen. Gibt es bei Ihnen auch mal Anrufe aus dem Kanzleramt?
Ach Gott, aus dem Kanzleramt, ja, aber der Kanzler jetzt nicht. Hier muss man unterscheiden. Es gibt den offiziellen Prozess, wo wir als Gremium eingebunden sind. Dann gibt es offizielle Treffen unseres Stabs mit der Arbeitsebene, den Ministerien, dem Kanzleramt und so weiter, aber auch mit der Bundesbank und Forschungsinstituten. Außerdem haben wir die offiziellen Ratstreffen mit dem Kanzler. Aber natürlich sind wir auch als Personen gefragt. Das sind individuellere Termine, das kann dann eine Ministerin, ein Staatssekretär oder auch die Arbeitsebene sein.
Wer liest denn Ihren Jahresbericht überhaupt?
Ich gehe nicht davon aus, dass der Kanzler ihn liest und dass die Kanzlerin ihn gelesen hat. Aber natürlich lesen die Fachabteilungen den Bericht sehr gründlich. Es steht im Gesetz, dass die Regierung im Jahreswirtschaftsbericht im Januar Stellung zum Gutachten nehmen muss. Wir zeigen Optionen auf. Auch wenn man uns für weise hält – wir sind ja keine Nebenregierung. Die demokratische Verantwortung trägt die Politik. Sie hält den Kopf hin und muss auch über das Wirtschaftliche hinaus Abwägungsentscheidungen treffen. Natürlich ärgert man sich manchmal, dass manche Vorschläge nicht aufgenommen werden. Aber letztlich sollten wir großen Respekt haben vor dem, was die Abgeordneten tun, denn sie sind demokratisch gewählt und legitimiert.
„Es muss gesellschaftliche Ziele geben.“
Wollen Sie den Politikern nicht manchmal die Leviten lesen?
Wer die Politik frontal angeht, darf nicht damit rechnen, dass dabei viel herauskommt – jenseits von Medienaufmerksamkeit und Beifall aus irgendeiner politischen Ecke, je nachdem, wem es gerade gefällt. Insofern mag ich unseren Ansatz, unsere Aufgabe sachlich, unaufgeregt und konstruktiv anzugehen. Das ist ein Wandel, der dem Rat sehr gutgetan hat.
Ihre Arbeit besteht nicht wenig aus Kommunikation. Worauf müssen Sie als Wirtschaftsweiser besonders achten, um auch thematisch eher unbedarften Zielgruppen die Inhalte zu erklären, die Sie als Sachverständiger transportieren wollen?
Wir sollen neben der Bundesregierung und den Parlamenten auch die breite Öffentlichkeit beraten. Jetzt könnte man sagen: Wir veröffentlichen das Gutachten, dann ist es damit getan. Aber so ist es nicht. Wir haben natürlich eine Medienreferentin. Wir geben viele Interviews und äußern uns oft. Wir versuchen auch, Wirtschaftsfragen über Kurzfassungen, Übersichten und Namensbeiträge in der Presse inhaltlich herunterzudampfen. Wir machen Medientrainings. Wenn wir in der Bundespressekonferenz sitzen, versuchen wir, so klar wie möglich zu formulieren.
Was sagen Sie derzeit – heruntergedampft – zum Verfassungsgerichtsurteil?
Hier wäre es mir wichtig, dass eines klar wird: Wenn wir jetzt einfach im Haushalt kürzen, hätte das ausgesprochen negative gesamtwirtschaftliche Effekte. Damit kicken wir uns möglicherweise im kommenden Jahr in die Rezession. Der Aufschwung wird sowieso ziemlich müde mit 0,7 Prozent nächstes Jahr laut unserer Prognose. Jetzt drastisch zu kürzen, würde die Rezessionswahrscheinlichkeit enorm erhöhen.
Der KTF soll den Strukturwandel unterstützen. Wie würden Sie die Transformation und den Strukturwandel kommunizieren, warum und wo brennt es hier?
Die Transformation bedeutet die Umwandlung der Wirtschaft und ganzer Lebensbereiche hin zu Klimaneutralität. Das heißt, dass sich ganz viele Wirtschaftsprozesse neu sortieren. Zwei Aspekte sind für mich hierbei wesentlich: schrittweise und gemeinsam. Also sozialverträglich und gesellschaftlich abgestimmt. Man muss alle mitnehmen, sonst funktioniert es nicht. Das große Ziel ist bereits vorgeschrieben: Es heißt Klimaneutralität.
Warum tun wir uns in Deutschland so schwer damit?
Das Hauptproblem in der Vergangenheit und gegenwärtig bei der Transformation ist, dass es offenbar schwierig ist, einen gesellschaftlichen Konsens hinzubekommen. Vom radikal-neoliberalen Denken ist ein Rest übriggeblieben: der Zweifel, ob es überhaupt legitim ist, gesellschaftliche Ziele zu haben. Wir haben doch einen Markt, der steuert, wird dann gesagt. Dabei müssen selbst bei sogenannten marktwirtschaftlichen Instrumenten wie dem CO2-Preis vom Staat Ziele- und Rahmen gesetzt werden. Wir müssen jetzt nicht in eine Zentralverwaltungswirtschaft oder so was. Aber es muss gesellschaftliche Ziele geben. Das ist eine gesellschaftliche Planungs- und Gestaltungsaufgabe.
Deutsche Ökonomen mischen lautstark auf X (ehemals Twitter) mit. Auch Sie haben einen Account. Warum?
Jemand, der sich mit Medien auskannte, sagte mir mal: Jetzt, wo du das Amt im Rat hast, musst du eigentlich auf Twitter gehen, das würde sonst als Diskursverweigerung betrachtet. Ich fand das zunächst gar nicht so gut. Ich habe dann aber festgestellt, dass mir das eigentlich ganz gut liegt.
Was genau?
Ich bekomme dort sehr viel mit. Ich kann selbst sehr viel seriös in die Welt setzen, aber ich kann auch ein bisschen Quatsch machen, was ich relativ ausgiebig getan habe und was mir Spaß gemacht hat. Es hat auch einen Suchtfaktor, da muss man aufpassen.
Was bringt Ihnen X überhaupt?
Insgesamt ist X als Medium sehr basisdemokratisch. Es kamen lange Zeit Leute zu Wort, die sonst nicht zu Wort gekommen wären. Journalistinnen und Journalisten sind auf Menschen aufmerksam geworden, die sie sonst nie gefragt hätten. Wichtig ist aber, dass sich alle bemühen, das Ganze nicht toxisch werden zu lassen.
Haben Sie Beispiele, wo das misslungen ist?
Die Debatte um das Gasembargo etwa ist aus dem Ruder gelaufen. Ich verstehe, warum es so emotional wurde. Corona hatte viel gemacht mit den Menschen, und dann kommt so ein Krieg. Auch ich war erst mal ziemlich fertig. Einige sind dann extrem aggressiv rausgegangen und haben Forderungen nach einem sofortigen Gasembargo gegen Russland aufgestellt. Andere haben ihnen widersprochen. Und dann keilten sie zurück und veranstalteten geradezu Treibjagden. Da ging es in eine sehr stark toxische Richtung.
Toxisch im Sinne von beleidigend?
Unter anderem. Was manchmal schiefläuft, hängt mit dem Vorteil zusammen, dass dieses Medium eigentlich sehr basisdemokratisch ist und dass ganz viele Leute zu Wort kommen. Halte ich mich für einen fähigen Wissenschaftler, dann habe ich eine besondere Verantwortung. Ich sollte nicht versuchen, andere Menschen klein zu machen. Vor allem sollte ich nicht unter Berufung auf meine angebliche oder tatsächliche Autorität Treibjagden veranstalten. Einige haben das getan. X ist auch ein Spiegel des wirklichen Lebens. Eitelkeiten sind im akademischen Betrieb recht ausgeprägt. Offenbar können es einige dann schwer ertragen, wenn sich Leute in einem ökonomischen Diskurs zu Wort melden, die keine Professur im Rücken haben oder im American Economic Review veröffentlicht haben. Wenn ich auf X bin, muss ich damit klarkommen. Gerade wenn ich in einer Sozialwissenschaft unterwegs bin, wo es kein gesichertes Wissen und wo es andere Meinungen, ja ganz andere Theorierichtungen gibt: Dann sollte ich nicht zu scharf schießen. Ich habe immer versucht, mich auf Twitter zu mäßigen.
„Ich habe ab und zu mal provoziert.“
Inwiefern?
Ich möchte nicht abstreiten, dass ich auch Fehler mache. Aber ich empfinde eine besondere Verantwortung, gerade auch durch meinen Zugang zur Politik und die herausgehobene Sichtbarkeit über die Medien. Ich kann über Medien oder Presseagenturen mit argumentativem Wumms eine harte Geschichte platzieren, wenn ich einen Diskurs starten möchte. Ich habe die Mittel, die Regierung oder Einzelpersonen öffentlichkeitswirksam zu kritisieren. Mit diesen Möglichkeiten muss man verantwortungsvoll umgehen.
Sie sagten, Sie haben auf X auch Quatsch gemacht.
Ich habe natürlich auch ab und zu mal provoziert. Ich habe zum Beispiel eine „In Wahrheit“-Serie ins Leben gerufen. Das ist eine Floskel, die Ordoliberale gerne bemühen. Wenn ich über den Spitzensteuersatz oder eine Erbschaftsteuerreform spreche – beides keine absurden Ideen –, kommen gerne Leute um die Ecke mit „Der Truger will in Wahrheit den Marsch in den hypertrophen Umverteilungsstaat“. Ich habe das veralbert und Sachen geschrieben wie: „Wenn ich sage, dass die Schuldenbremse nicht zur Investitionsbremse werden soll, dann will ich #InWahrheit den Marsch in den unbeschränkten Schuldenstaat.“ Das hat mir großen Spaß gemacht und das ist sehr eingeschlagen. Aber es ist klar, dass das auch provoziert.
Fürchten Sie nicht, am Ende in einer Blase zu landen?
Nicht wirklich. Stefan Kolev, der in Berlin das konservativ-wirtschaftsliberale Ludwig-Erhard-Forum leitet, hat mich als ersten Gesprächspartner zu seiner Reihe „Zivilisierte Provokationen“ eingeladen. Wenn es trotz oder wegen der Twitter-Streitigkeiten dazu kommt, dass man auf einer respektvollen Basis ins Gespräch kommt, ist das doch gut.
Wie schätzen Sie denn die Qualität der Diskussion über die Schuldenbremse ein?
Ich bin mit der Schuldenbremse nicht zufrieden und auch nicht mit dem Diskurs darüber. Aber mein Eindruck ist, dass sich die Qualität enorm verbessert hat. Bei der Einführung der Schuldenbremse und danach konnte man kaum darüber reden. Das war im Grunde tabuisiert. Viele haben Diskussionen darüber mit – ehrlich gesagt ziemlich doofen – Argumenten einfach beiseite gewischt. Da kam dann so was wie „Sind Sie gegen das Grundgesetz?“, weil die Schuldenbremse im Grundgesetz steht. Meine Güte, man hat sie ja hineingeschrieben. Waren diejenigen, die sie hineingeschrieben haben, gegen das Grundgesetz, weil sie es geändert haben? So eine Qualität hatte der Diskurs. Natürlich wird – gerade in der Politik – auch heute noch teils einfach argumentiert. Aber wie nach dem Urteil jetzt über instrumentelle Alternativen diskutiert wird, ist ein enormer Fortschritt. Ich höre eben kaum, dass man plump keinerlei Schuldenbremse haben will oder ihre Reform zu unserem Untergang erklärt. Ich habe das Gefühl, das läuft jetzt differenzierter.
Herr Truger, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 145 – Thema: Halbzeit. Das Heft können Sie hier bestellen.