"Wir sind Deutschland – auch!"

Serie: Politik ohne Grenzen, Teil 1

Der 22. September 2013 und die darauffolgende Konstituierung des Bundestages sind ganz besondere Momente in meinem Leben. Einerseits hatte ich natürlich Ehrfurcht, einer der 631 Abgeordneten zu sein, der zukünftig an der Gestaltung unseres Landes mitwirken darf, andererseits war dieser Augenblick für mich auch sehr emotional: Meine Eltern, die in den frühen siebziger Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland kamen, durften auf der Ehrentribüne des Bundestages der Sitzung beiwohnen. Ihr Stolz war unübersehbar.

Flashback: Ich war fünf Jahre alt. Im Sommer sollte ich in die Schule kommen. Ich freute mich riesig, dass es bald soweit sein würde. Aber alles kam anders. Es war das Jahr des Anwerbestopps, November 1973 sollte das sogenannte Anwerbestoppabkommen in Deutschland in Kraft treten. Also beschloss mein Papa im fernen Berlin, dass meine Mutter mit mir, meinem kleinen Bruder und meiner Schwester als Baby im Huckepack zu ihm aufbrechen sollten. Ich wollte viel lieber bei meinen Freunden bleiben, in unserem idyllischen Dorf in Anatolien. Weder die Spannung noch die Neugier, endlich in eine “Tayere” zu steigen, dieses wundersame Fluggerät, das die Menschen in die Lüfte hob, brachten mich dazu, mich auf das Land zu freuen, von wo aus Papa uns immer leckere Kinderschokolade mitbrachte. […]

Dolmetscher für die Familie

Bis zum Ende der 3. Klasse besuchte ich eine sogenannte Ausländerregelklasse und hatte kaum Kontakt zu deutschen Schülerinnen und Schülern. Meinen Deutschkenntnissen aus den ersten Jahren und meiner Deutschlehrerin verdankte ich es, dass ich diese Ausländerregelklasse verlassen und in eine Regelklasse wechseln konnte. In meiner neuen Klasse waren wir 28 Schülerinnen und Schüler aus 13 unterschiedlichen Nationen. Unsere gemeinsame Sprache war Deutsch, anders hätte es nur ein Sprachwirrwarr gegeben. Die Aufnahme in die neue Klassengemeinschaft war allerdings alles andere als einfach und verlief für mich schleppend. In einer Ausländerregelklasse der Beste zu sein war leicht, aber in einer Regelklasse mit Schülerinnen und Schülern mitzuhalten, die seit der Kita zusammen waren, glich einer Ochsentour. Auch wenn es mir nicht nachhaltig geschadet hat, schließlich brachte ich es – zum Stolz meiner Eltern – bis zum Diplom- Ingenieur, habe ich in diesen Grundschuljahren viel verloren. Meine Grundschuljahre waren geprägt davon, dass ich aufgrund meiner guten Deutschkenntnisse immer wieder Übersetzungen für Familie und Verwandte übernehmen musste. Die Dolmetscherdienste bei Behörden, Ärzten und sonstigen Einrichtungen kamen mir damals sehr gelegen, waren sie doch ein willkommener Anlass, entschuldigt der Schule fernzubleiben. Meine Eltern hatten sonst niemanden, der übersetzen konnte. Wenn ich heute meine Tochter wegen ihrer Müßigkeit ermahne, hält sie mir mein Grundschulzeugnis vor die Nase. Dass ich später als 16-Jähriger das beste Kreuzberger Abschlusszeugnis hatte und dafür sogar ausgezeichnet wurde, ignoriert sie süffisant. […]

Ausgrenzung in unsicheren Zeiten

Dass man als Abgeordneter mit sogenanntem Migrationshintergrund mit anderen Herausforderungen umzugehen hat als viele der ‘biodeutschen’ Kolleginnen und Kollegen, erlebte ich sehr früh. Als Mitglied des Abgeordnetenhauses, besonders aber, seitdem ich im Bundestag bin, erhalte ich viele rassistische Hassmails, Beschimpfungen oder Kommentare. Nur ein Beispiel: In einem Gastbeitrag für eine Berliner Tageszeitung habe ich gefordert, Demokratiebildung fächerübergreifend in unseren Schulen zu verankern. Hierzu gehört der gemeinsame demokratische Wertekanon, aber auch Zivilcourage, Solidarität mit Schwachen und Toleranz im Umgang mit Minderheiten. Ob rechtsextrem, linksextrem, islamistisch, homophob oder sexistisch – extremen, demokratiefeindlichen Einstellungen müssen wir etwas entgegenstellen, bevor sie sich ausbreiten können. Nach Erscheinen des Artikels wurde ich über soziale Netzwerke massiv beleidigt und bedroht. Ich solle doch erstmal für Demokratie in “meinem” Land sorgen – damit war die Türkei gemeint. Es ist offensichtlich, dass Menschen mit Migrationshintergrund gerade in konfliktreichen oder unsicheren Zeiten immer wieder auf ihre ethnische Herkunft reduziert und ausgegrenzt werden. Ich kann Jahrzehnte lang auf kommunaler Ebene, im Abgeordnetenhaus und im Bundestag gesellschaftliche Verantwortung übernehmen und mich für ein friedliches Miteinander einsetzen – wenn es hart auf hart kommt, bin ich immer noch “der Türke”.

[…] Dabei ist es in Zeiten, in denen Europa von einer tiefen Identitätskrise geschüttelt wird, wichtig und notwendig, alle daran zu erinnern, welch unschätzbare Errungenschaft wir mit unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung in den Händen halten und dass wir diese gemeinsam aktiv mitgestalten und verteidigen müssen. Als Abgeordnete gilt unsere Verantwortung der deutschen Demokratie, und darin handeln wir nach dem Grundgesetz und unserem Gewissen.

Die Auszüge stammen aus dem Kapitel “Wir sind Deutschland – auch!” von Özcan Mutlu. Der Sammelband “Politik ohne Grenzen. Migrationsgeschichten aus dem Deutschen Bundestag” ist Ende Oktober im B&S Siebenhaar Verlag erschienen. Autorinnen und Autoren wie Katarina Barley, Aydan Özoğuz, Cem Özdemir, Alexander Radwan, Gitta Connemann und Azize Tank erzählen darin von ihren persönlichen Lebenswegen und Erfahrungen als Abgeordnete.