„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger“

Politik

Egal ob es nun ein „schweres“ (Olaf Scholz 2022), ein „arbeitsreiches“ (Angela Merkel 2008) oder zumindest „alles in allem kein schlechtes Jahr“ (Willy Brandt 1972) war: Am Silvesterabend blickt der Bundeskanzler mit salbungsvollen Worten auf das Jahr zurück, lobt die Bürger und beschwört ihren Zusammenhalt. Seit mehr als 50 Jahren ist die Neujahrsansprache nun schon Tradition. Einmal wurde sie erst am Neujahrstag und nicht wie üblich am Silvesterabend übertragen – wegen einer Panne: Der NDR, der im Jahr 1987 dafür zuständig war, Helmut Kohls (CDU) fünfte Ansprache zu senden, spielte versehentlich das Vorjahres-Band ab. Das fiel erst auf, als Kohl ein „friedvolles und glückliches Jahr 1986“ wünschte. An Neujahr wiederholte der NDR die korrekte Rede.

Die Panne zeigt, wie sehr die Reden aus Plattitüden bestehen, die sich alljährlich wiederholen. Ansprachen sind nicht live, enthalten keine neuen Informationen und sind auch kein kritisches Interview, in dem der Kanzler Rede und Antwort stehen müsste. „Neujahrsansprachen sind vor allem erwartbare und einende Tradition, die das politische Jahr rhythmisiert“, sagt Fabian Erhardt, Wissenschaftler am Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen. Er forscht zu Kommunikation im öffentlichen Raum und sagt, dass solche ritualisierten Ereignisse dennoch einen außerordentlich wichtigen Platz in der politischen Wissenskommunikation einnehmen. Ein Regierungssprecher bezeichnet die Rede auf Anfrage gar als „demokratische Institution“. Das ist wohl auch der Grund, aus dem die öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Radiosender die Ansprache jährlich ausstrahlen. Verpflichtet sind sie dazu laut Medienstaatsvertrag nämlich nicht.

„Die Erwartbarkeit ist der Witz“

Betrachtet man Reden der vergangenen fünfzig Jahre, fällt auf: das Jahr war nie ausnahmslos schlecht. Viele Jahre waren „herausfordernd“ oder „schwierig“, aber am Ende haben die Bürgerinnen und Bürger dann doch jede Hürde gemeinsam gemeistert. Deshalb ist der Kanzler oder die Kanzlerin stets zuversichtlich, dass man mit diesem Zusammenhalt und häufig auch mit Tugenden wie Fleiß kommende Probleme löst. Auch der heutige Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) beschwor in seiner letzten Rede wieder die Gemeinschaft, mit der man die Aufgaben des vergangenen Jahres bewältigt habe: etwa durch gemeinschaftliches Energiesparen.

Die Floskeln atmen den Muff der 50er-Jahre-Bundesrepublik – ist ihre Wirkung nicht bald aufgebraucht? Nein, sagt Peter Sprong. Er ist Vorsitzender des Verbands der Redenschreiber deutscher Sprache (VRdS). Gerade in der Erwartbarkeit liege der Kern der Rede. „Sorgen und Nöte haben wir alle“, sagt der Redenschreiber. „Daher soll die Rede Zuversicht vermitteln und Mut machen, und beides ziehen wir Menschen eben aus Gemeinschaft und Verlässlichkeit.“ Allzu sehr ins Floskelhafte abgleiten dürfe die Rede nicht, aber das erwartbare Format sei nötig, um Sicherheit und Stabilität zu transportieren. „Nachher beschweren sich die Menschen darüber, wie langweilig die Rede wieder einmal war“, sagt Sprong, „aber das Erwartbare transportiert ein Gefühl, nämlich, dass doch alles ist wie immer und am Ende auch so bleibt.“

In parlamentarischen Debatten und Interviews erklären, fordern und streiten Politiker – bei einer Neujahrsrede kommen diese Töne kaum vor. Sie soll ein Sicherheitsgefühl vermitteln, aber auch das politische Jahr rekapitulieren und auf kommende Entscheidungen vorbereiten. „Die Rede hat eine starke narrative, also erzählende Funktion“, sagt Forscher Erhardt. Sie stellt Kontext her und ordnet ein. „Die Neujahrsrede reitet huckepack auf der religiösen Tradition des Neuanfangs, um die Menschen auf eine bestimmte politische Erzählung einzustimmen“, erklärt der Tübinger Wissenschaftler. „Nämlich, dass die Politik um das gegenwärtig Relevante bemüht ist und die aktuelle Regierung dafür die richtigen Mittel wählt.“

In der Neujahrsansprache 2023 bemühte der Kanzler nicht das politische Band, das uns mit ­Überzeugungen und Argumenten verbindet. Er betonte das soziale Band, das darauf beruht, wie wir gemeinsam fühlen und deuten. Es klingt abgedroschen – aber es geht darum, Gemeinschaft zu schaffen. Die Pronomen „wir“ und „unser“ genießen hier eine herausgehobene Stellung, sagt Kommunikationsforscher Erhardt. In knapp sieben Minuten Redezeit sagte Olaf Scholz in seiner Ansprache zum Jahreswechsel 2022/23 stolze 21-mal „wir“ und genauso oft „unser“, „unsere“ oder „unserem“. Er sprach nicht von „den“ Ingenieurinnen, sondern von „unseren“ Ingenieurinnen.

Besonderheit in der deutschen politischen Kultur

Für einen Kanzler ist es ungewöhnlich, sich direkt an die Bevölkerung zu wenden. Die Neujahrsrede ist der einzige planmäßige Termin, an dem Deutschlands Regierungschef das tut. Ausnahmen von dieser Regel gab es nur wenige: Etwa, als sich im Jahr 1977 Helmut Schmidt nach der Entführung des Wirtschaftsfunktionärs und ehemaligen SS-Offiziers Hanns Martin Schleyer durch die RAF an die Bevölkerung wandte. Im ersten Jahr der Covid-19-Pandemie gab Angela Merkel eine Fernsehansprache, um die massiv verunsicherte Bevölkerung zu beruhigen. Es schaffen also nur absolute Ausnahmesituationen, den Kanzler dazu zu bewegen, den Weg in deutsche Wohnzimmer zu suchen. „Die Direktansprache ist das letzte Mittel der Wahl“, sagt Rhetoriker Sprong. Man müsse sorgsam mit diesem In­stru­ment umgehen. „Ein exzessiv genutztes Machtinstrument verliert seine Symbolkraft“, sagt er.

Generell kommunizieren Politiker hierzulande wenig emotional. Die Gründe dafür liegen in der Geschichte. „Die politische Kommunikation hat in Deutschland einen Sonderweg genommen“, erklärt Wissenschaftler Erhardt. „Es dauerte lange, bis es stabile parlamentarische Zustände gab, und daher war die Kunst der politischen Debatte hierzulande vergleichsweise weniger wichtig.“

Die Folgen wirken bis heute. „Verglichen mit dem hitzigen britischen Parlament debattiert man im Bundestag weniger auf emotionaler als auf sachorientierter Ebene“, sagt Forscher Erhardt. Mit dem Einzug der AfD habe sich der Ton zwar verändert. Dennoch werde in der deutschen Debatte noch immer großer Wert darauf gelegt, sachlich und faktenbasiert zu diskutieren.

Es geht um den Kanzler, nicht die Person dahinter

Dennoch: Nüchtern vorgetragene Worte in einem dunklen Raum, Deutschlandfahne im Hintergrund – man fragt sich, ob es nicht etwas weniger hölzern ginge. Insbesondere, wenn Nahbarkeit gezeigt werden soll. „Das ist ein sehr schmaler Grat“, warnt Redenschreiber Sprong. „Spontanität und Authentizität werden wichtiger, insbesondere seit Verbreitung der sozialen Netzwerke, doch man darf nicht vergessen, dass es hier um den Kanzler geht, nicht um die Privatperson hinter der Rolle des Kanzlers.“ Zu viel Ergriffenheit oder aber ein nur flüchtig aufgenommener Gruß seien des Amtes unwürdig. „Es wäre ein Ausdruck von Respektlosigkeit, einfach schnell irgendwas zu sagen“, sagt Sprong.

Unzufrieden ist er aber mit der Art, wie Regierungschefs in den Ansprachen Lob verteilen. „Es fühlt sich an wie ein Vater, der sich zum Kind herunterbeugt und seinen Kopf tätschelt“, sagt er. Das nehme dem Lob seine Kraft, weil es die Angesprochenen klein mache. „Besser wäre es, davon zu berichten, wie konkrete Menschen zusammenhalten, anstatt ihre Bemühungen von oben herab zu loben“, sagt er. Zwar habe Olaf Scholz in seiner letzten Neujahrsrede bessere Ansätze gezeigt, von Kommunikation auf Augenhöhe sei er aber weit entfernt. „Scholz’ Auftreten hat wieder etwas sehr Patriarchales“, sagt Sprong.

Kommunikationsforscher Erhardt begründet das mit dem Führungsstil des Kanzlers. Auch wenn die Grundbedingungen der Ansprachen klar sind, soll der persönliche Regierungsstil durchscheinen. „Scholz setzt dabei wieder stark auf das Auftreten als klassische Führungskraft“, sagt Erhardt. Er inszeniere sich insgesamt als leitender und führender Kanzler, mitsamt der damit verbundenen Hierarchie.

Angela Merkel habe hingegen etwas mit diesem Stil gebrochen, hat Erhardt beobachtet. Sie habe ebenfalls durchgegriffen, ihren Führungsstil aber eher als Einladung inszeniert. Auch in ihren Neujahrsansprachen hat Merkel gelegentlich das Gerüst etwas verformt, immerhin. Im Jahr 2014 warnte sie beispielsweise indirekt vor dem Erstarken der Pegida-Bewegung. In ihrer ersten Ansprache 2005/06 wagte sie es, mit Witz auf die vergangene Fußballweltmeisterschaft zu blicken, in der die Herrenauswahl trotz eines starken Turnierauftritts den Finaleinzug verpasste. „Die Frauennationalmannschaft ist ja schon Weltmeister“, sagte sie und fügte trocken hinzu: „Und ich sehe keinen Grund, warum Männer nicht das Gleiche leisten können wie Frauen.“

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 145 – Thema: Halbzeit. Das Heft können Sie hier bestellen.