Tempolimit für Gefühle

Außenwirkung in der Politik

Kürzlich titelte „Bild“ auf der Seite 1 ein Olaf-­Scholz-Interview: „Haben Sie wegen des Krieges geweint, Herr Bundeskanzler?“

Bei Interviews ist es meist so: Wenn sich aus den Antworten keine spannende Aussage ergibt, wählt man als Überschrift eine überraschende oder provokante Frage. Die Frage an Olaf Scholz erinnerte mich zwar an meine Interviewtechnik als Schülerzeitungsredakteur, aber ich wurde dennoch neugierig.

Wie antwortet der alte Polit-Profi Scholz in dieser kommunikativ schwierigen Situation? Sagt er „Nein, ich heule nicht“, könnte er hartherzig wirken. Sagt er „Ja, ich weine jeden Tag“, denken sich vielleicht Menschen wie ich: Ich will von niemandem regiert werden, der im Kanzleramt täglich drei Packungen Tempo-Taschentücher verputzt. Leadership bedeutet Empathie – aber zugleich ein Tempo-Limit für Gefühle.
Olaf Scholz antwortete geschickt. Er wollte nicht verraten, ob ihm wegen des Ukraine-Krieges die Tränen gekommen seien. Er sagte: „Es zerreißt einem das Herz. Unglaublich viele Menschen sind gestorben. Kinder, Frauen, Männer. Und was wir nicht vergessen sollten: Soldaten, auf beiden Seiten.“ Die Antwort enthält Gefühlsstärke und Souveränität in einem, also genau das, was sich die Wähler von Politikern in den meisten Umfragen wünschen.

Emotionen sind in der Politik wichtig, weil wir Menschen uns für die Gefühle anderer interessieren. Emotionen sind mächtig. Sie entscheiden Wahlen – ohne Emotionen keine Aufmerksamkeit (aus diesem Grund sind auf Wahlplakaten fast nie Sachthemen zu finden). Und zu viele Emotionen sind gefährlich, weil sie jeden zu Fall bringen können, der die Kontrolle über sie verliert.

Marius Becker/picture alliance
Stephan Mayer CSU hatte seine Gefühle nicht im Griff Foto Marius Beckerpicture alliance

Der Spitzenpolitiker Stephan Mayer stürzte, weil er nicht in der Lage war, seine Gefühle zu regulieren. Machtmensch Mayer gehörte zum Inner Circle seiner Partei und hielt sich für unangreifbar. Traumkarriere: Bundestagsabgeordneter, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium, schließlich CSU-Generalsekretär. Nach nur zwei Monaten musste er als CSU-General zurücktreten, weil er einem „Bunte“-Reporter am Telefon mit der „Vernichtung“ gedroht hatte – ein unverzeihlicher Fehler. Bereits davor waren seine Ausraster im politischen Berlin Tuschelthema: Mal beschimpfte er einen Facebook-User („Und du kannst dir sicher sein. Mit dir werd‘ ich noch allein fertig und brauch keinen Anwalt. Da bin ich schon mit anderen Kalibern fertig geworden.“), mal schrieb er einer „Spiegel“-Reporterin („Ich werde Sie mit allen legalen Mitteln verfolgen. Sie sind eine der schlechtesten Journalisten, die ich je kennenlernen musste.“), mal wollte er fluchend die Berichterstattung über seinen Raser-Unfall verhindern. Stephan Mayer hätte die Zukunft gehört, vielleicht wäre er irgendwann sogar zum Bundesinnenminister aufgestiegen. Nun ist er ein Mann der Vergangenheit, Hinterbänkler im Bundestag. Auslaufmodell mit 49 Jahren.

Die Berliner Historikerin Ute Frevert vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung untersucht seit Jahren wissenschaftlich, welche Bedeutung Gefühle in der Politik einnehmen. In einem Artikel ihres Instituts wird sie zitiert: „Wer wissen will, wie es kommt, dass sich Menschen vergesellschaften, dass sie gemeinsame Ziele entwickeln und verfolgen, dass sie sich aber auch wieder entzweien, getrennte Wege gehen, sich verfeinden und einander Schaden zufügen, kann Gefühle und deren Gestaltungskraft nicht geringschätzen.“ Emotionen wie Angst, Wut, Hass, Hoffnung, Vertrauen und Mitleid müssten in die Analysen einbezogen werden.

Nur: Wie viel Emotion sollen Politikerinnen und Politiker zeigen?

Kleine Tränenkunde

Außenministerin Annalena Baerbock ist in allen Umfragen Deutschlands beliebteste Politikerin – trotz ihrer diplomatischen Pannen (denken Sie nur an den irritierenden Satz: „Wir führen einen Krieg gegen Russland und nicht gegeneinander!“). „Endlich zeigt mal jemand Emotionen“, kommentierte RTL ihre Tränen in Yad Vashem und an der Ukraine-Front. Als Baerbock im Bundestag nach dem Vortrag eines Holocaust-Überlebenden weinte, erklärte sie danach: Es gehe darum, empathisch zu bleiben – ungeachtet der drohenden Jetzt-heult-die-da-im-Bundestag-Häme auf Social Media. Die Öffentlichkeit reagiert auf Frauen in der Spitzenpolitik aggressiver als auf Männer. Baerbock: „Ich glaube, ein Abstumpfen ist das Gefährlichste, was man in der Gesellschaft derzeit tun kann.“

Dürfen in der Politik höchstens Frauen weinen, wie ein früherer Chef von mir behauptet? Ich finde, nur aus der Zeit gefallene Politikertypen wie Wladimir Putin machen auf Echte-Männer-sind-harte-Cowboys (für seine Inszenierung als furchtloser Tigerbändiger ließ sich der Diktator extra ein Tier aus einem Zoo herbeischaffen). Von Putin gibt es ein einziges Heul-Foto. Nach seiner Wiederwahl 2012 wischt er sich eine Träne aus dem linken Auge. Der Kreml behauptet bis heute, der eiskalte Wind sei schuld gewesen.
Tränen gehören zum Gefühlskino der Politik: wenn sich Gregor Gysi im Juni 2015 beim Parteitag der Linken sichtlich gerührt als Fraktionschef verabschiedet. Wenn Barack Obama bei einer Pressekonferenz zu einem A​moklauf an einer Grundschule seine Tränen nicht zurückhalten kann. Wenn der halbe Bundestag bei der Trauerfeier für den großen Bundestagsvizepräsidenten Thomas Oppermann schluchzt.

Nicht immer kommen Tränen gut an – am wenigsten dann, wenn der Wähler das Gefühl hat, er guckt sich eine Realityshow zum Fremdschämen an. Familienministerin Anne Spiegel trat an einem Sonntagabend heulend an die Öffentlichkeit und setzte auf die Mitleidskarte, anstatt eigene Fehler offen zu benennen. Es war einer der schlimmsten Auftritte der jüngeren Politikgeschichte. Ich frage mich seither, was für Dilettanten in Anne Spiegels Kommunikationsteam saßen. Gute Sprecher sind stets Emotionskontrolleure und Gefahren-Checker. Anne Spiegel hätte niemals live gehen dürfen an diesem Abend. So wurde es ihr letzter.

Auch der unkontrolliert lachende Kanzlerkandidat Armin Laschet hatte seine Emotionen nicht im Griff. Wie Anne Spiegel fehlte ihm ein Gefahren-Checker: Sein Sprecher stand im Flutgebiet untätig hinter ihm und ließ den Chef kichern, 20 Sekunden lang. Karriere-Untergang! Steile These: Wäre der CDU-Kanzlerverlierer im zerstörten Ahrtal von einem Wein- statt einem Lachkrampf heimgesucht worden, hätte er die Wahl vielleicht gewonnen. Die Menschen wollen nicht von einer Lachfigur regiert werden.

Too much information, too much emotion

Als Journalist liebte ich ungekünstelte emotionale Momente bei Politikern. Als Kommunikationsberater sage ich: Zeige dich authentisch, aber lege niemals einen Seelenstriptease hin! Robert Habeck (Grüne) ließ sich im Wahlkampf von „Spiegel“-Autor Markus Feldenkirchen monatelang im Auftrag des WDR begleiten. Ein journalistischer Scoop einerseits (Deutscher Fernsehpreis „Bestes Infotainment“) – eine Image-Katastrophe für den Grünen-Star andererseits. Robert Habeck im O-Ton: „Seit zehn Tagen habe ich nicht mehr abgewaschen. Der Müll ist nicht rausgebracht. Die Milch ist alle. Heute Morgen habe ich Müsli mit Wasser gegessen, ohne Scheiß.“ Auf die Frage, ob seine Frau zu Hause sei, sagt er: „Nee. Die will auch nicht zugucken, wie ich untergehe.“ Nach dem Wahlerfolg wirft er einem Mitarbeiter gestresst seine braune Aktentasche vor die Füße, statt sie ihm in die Hand zu drücken. Mein erster Gedanke: So jemanden möchte ich nicht als Chef haben – und auch nicht als Vizekanzler!

Foto: Screenshot
Robert Habeck schaut sich mit dem Journalisten Markus Feldenkirchen Szenen aus dem Wahlkampf an Foto Screenshot

Am mächtigsten sind die Bilder, die im Kopf bleiben. Wenn ich Robert Habeck sehe, muss ich immer an die verstörende WDR-Doku denken. Der nunmehrige Wirtschaftsminister räumte später ein: „Ich habe einfach mal nur kurz nicht als Politiker geredet, sondern als ein müder Robert.“ Ein Fehler. Google und Social Media vergessen nie.

Der langjährige Bundesminister Peter Altmaier (CDU) vertraute sich für ein „Spiegel“-Porträt einem Henri-Nannen-Schüler an: „Wie der Politpensionär Peter Altmaier verzweifelt nach einer neuen Rolle sucht“. Er spricht über seine Lippenspalte, seine Einsamkeit, seine innersten Gefühle. Am Ende wird Altmaier schamlos bloßgestellt und vorgeführt, der Autor schreibt schmierige Sätze wie: „Auch um Sex geht es, ganz allgemein, ich darf wenig davon zitieren, das untersagt er mir später.“ Preisfrage: Warum zeigt sich ein alter Polit-Profi wie Altmaier in der Öffentlichkeit so verletzlich? Wer aus der Politik geht, verliert über Nacht alle Freunde.

Der gerechte und der selbstgerechte Zorn

Authentizität ist selbst bei Zorn wichtig, der Emotion mit dem schlechtesten Ruf. Wir alle erinnern uns an den „Eierwurf von Halle“. Demonstranten bewerfen Helmut Kohl (CDU) bei einem Besuch in Sachsen-Anhalt. Der Kanzler der Einheit, an Kopf und Oberkörper getroffen, verliert die Beherrschung und will sich einen Eier-Werfer schnappen. Seine Wut ist für die meisten Menschen nachvollziehbar. Viele hätten genauso reagiert. Wäre Kohl eine Figur aus der Bibel, würde man von „gerechtem Zorn“ sprechen. Die Bilder haben Helmut Kohl jedenfalls nicht geschadet.

Wer hingegen den ehemaligen Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) googelt, findet schnell ein Wut-Video, das im Netz hunderttausendfach Spott ausgelöst hat. Der Hohe Repräsentant für Bosnien-Herzegowina tickt bei einer Pressekonferenz aus und brüllt in schlechtem Englisch: „Müll, absoluter Müll!“ Schmidt galt schon immer als cholerisch. Bis dahin verstieß er mit seinen Schreiattacken allerdings nur hinter geschlossenen Ministeriumstüren gegen die Lärmschutzverordnung und nicht auf Social Media. Ich wiederhole mich: Das Netz vergisst nie.

Die richtige Gefühlsdosierung

Angela Merkel überlebte dank ihrer nüchternen Art und ihres sachorientierten Politikstils die meisten Amtskollegen, darunter Donald Trump (mit seinem impulsiven Verhalten hat der Republikaner bewusst mit den politischen Konventionen gebrochen). Das Erfolgsrezept der Altkanzlerin: dosierte Gefühle. Selten aber ließ sie ihren Emotionen freien Lauf und erreichte damit die Herzen der Menschen: unvergessen ihr Torjubel, als Deutschland in Brasilien Fußballweltmeister wurde, oder ihre Tränen, als sie den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron bei ihrem Abschiedsbesuch umarmte.

Merkels Nachfolger Olaf Scholz hat den Ruf eines kühlen Technokraten, der seine Emotionen hinter Phrasen versteckt und als schwieriger Interviewpartner gilt. Bei persönlichen Gesprächen mit Journalisten ist Scholz jedoch um vieles nahbarer als die stets distanzierte Merkel. Was Scholz fehlt, ist das Gefühl für die großen Bilder und Momente. Beim Treffen mit Wolodimir Selenski und Emmanuel Macron in Paris verwechselte er das Rednerpult, hinter ihm hing die Flagge der Ukraine. In diesem Moment musste ich an seinen Vorvorvorvorvorgänger Willy Brandt denken und dessen historischen Kniefall von Warschau – eine spontane, ungeplante Geste der Demut. Ein Regierungschef bittet um Vergebung für die Verbrechen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg. Millionen Menschen sind ergriffen. Weltpolitik der Emotionen.

Olaf Scholz ist nicht Willy Brandt. Auf lange Sicht könnte er dennoch erfolgreich sein – wenn es ihm gelingt, seine Themen besser zu verkaufen. Die Menschen vertrauen gerade in Krisenzeiten Politikern, die nüchtern-professionell ihren Job machen – und ihre Gefühle richtig dosieren. Alte Politikweisheit: Nicht die Schaumschläger stehen an der Spitze des Politbarometers. Olaf Scholz gehört zu den drei beliebtesten Politikern des Landes.

Wir lernen:

  • Wer in der Politik erfolgreich sein will, verwechselt nie Persönlichkeit mit Privatheit.
  • Authentizität nützt – emotionale Selbstoffenbarung schadet.
  • Mit Oversharing wird man vielleicht Dschungelkönig, aber nicht deutscher Kanzler.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 143 – Thema: 15 Young Thinkers. Das Heft können Sie hier bestellen.