So geht der digitale Parteitag

Praxis

Demokratische Prozesse werden in Zeiten einer Pandemie schmerzlich auf die Probe gestellt. Reduzierte Kontakte bedeuten auch, dass größere Sitzungen entfallen und weitreichende Entscheidungen von kleineren Gruppen oder sogar Einzelpersonen getroffen werden. Ob der Gemeinderat oder das Europaparlament – alle stehen vor dem Problem, Sitzungen mit Diskussionen und Abstimmungen durchführen zu müssen, aber praktisch nicht zusammentreten zu können, weil die Infektionsgefahr in einem Sitzungssaal enorm hoch ist. Aber ist das in Zeiten der Digitalisierung unabänderlich? Gibt es nicht Möglichkeiten der Beteiligung durch die Verlagerung in den digitalen Raum?

Das Europaparlament hat eine sehr unsichere Methode der Abstimmung gewählt: Die Abgeordneten drucken Formulare zum Abstimmen aus, die sie einscannen und per E-Mail zurückschicken. Ein Verfahren, das sich leicht manipulieren lässt, da beispielsweise Absenderadressen von E-Mails leicht zu fälschen sind.

Der für den 25. April geplante Parteitag der CDU musste abgesagt werden, weil unklar war, ob bis dahin die Beschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie aufgehoben sein würden. Der Landesparteitag der Piraten Brandenburg dagegen fand am 28. März statt. Ganz ohne Ansteckungsgefahr und auch ohne dass auch nur ein Mitglied irgendwo hinreisen musste. Der Grund dafür: Es war der mittlerweile fünfte Onlineparteitag der Brandenburger Piraten.

Schwere Anfänge

In der Piratenpartei wurde schon seit der Gründung mit neuen Möglichkeiten der demokratischen Beteiligung experimentiert. Nicht immer gingen diese Versuche gut. Bei „Liquid Feedback“ wurden massenhaft Stimmrechte delegiert, so dass einige wenige Personen mehr oder weniger im Alleingang über den Ausgang von Abstimmungen entscheiden konnten. Das führte die Idee der niedrigschwelligen Beteiligung ad absurdum. Das ambitionierte Projekt „Basisentscheid Online“ (BEO) wird parteiintern schon mit dem Flughafen BER verglichen – die Fertigstellung lässt immer noch auf sich warten.

Onlinesysteme kranken daran, dass sie nicht überprüfbar und zugleich geheim sind. Das Bundesverfassungsgericht hat schon vor Jahren entschieden, dass elektronische Wahlen ebenso nachvollziehbar und überprüfbar sein müssen wie konventionelle Wahlen mit Stimmzetteln und Wahllokalen. Seitdem ruht das Thema. Fachleute wissen, dass elektronische Systeme in der Regel zu komplex und zu leicht manipulierbar sind. Cyberattacken in den letzten Jahren haben schmerzlich vorgeführt, wie unsicher unsere vorhandenen Computersysteme zumeist sind.

In den Akkreditierungsräumen weisen Teilnehmer ihre Identität nach und erhalten einen Haken. Echte Piraten und Internet-Jünger verwenden Online-Kunstnamen, andere Parteien könnten eine Klarnamenpflicht einführen.

Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit sind wesentlich für jedes System demokratischer Entscheidungen. Ohne sie kann kein Vertrauen in den Mechanismus bestehen. Eine Wahl mit Stimmzetteln kann jeder Beteiligte hautnah erleben, ebenso wie eine offene Abstimmung auf einer Versammlung. Bei Zweifeln können die Stimmzettel nachgezählt oder die Stimmkarten erneut gehoben werden. Wohingegen kaum jemand einem technischen System vertrauen wird, das ein nicht überprüfbares Endergebnis ausspuckt.

Parteitagsstruktur wird online gespiegelt

Darauf basierend entwickelten die Brandenburger Piraten die Idee, einfach die grundsätzliche Struktur eines Parteitages online abzubilden. Es werden online ausschließlich offene Abstimmungen durchgeführt, da geheime Abstimmungen ein kompliziertes und schwer überprüfbares System erfordern. Als technische Basis dient die Sprachkonferenz-Software „Mumble“. Für Piraten ist das Programm ein alter Bekannter. Es dient seit Gründung der Partei für Arbeitssitzungen der thematischen Arbeitsgemeinschaften, Vorstandssitzungen, Diskussionsrunden, Vorträge und sogar Podiumsdiskussionen. Peter Altmaier war 2012 kurz nach seinem Antritt als Bundesumweltminister virtuell Gast einer Diskussionsrunde.

Der Raum „Mikrofon“ ist vergleichbar mit einem Saalmikrofon. Wer dorthin wechselt, kann von der Versammlungsleitung das Wort erteilt bekommen: Sein Mikrofon wird laut geschaltet und ist für alle hörbar.

Mumble arbeitet mit virtuellen Räumen, für die verschiedene Zugangsberechtigungen vergeben werden können und die sich untereinander zusammenschalten lassen. So kann beispielsweise ein Podium nur für berechtigte Teilnehmer eingerichtet werden. Wenn sie dort sprechen, können sie in verbundenen Räumen gehört werden. Auf diese Weise werden Präsidium, Plenum und Saalmikrofon in gleichnamigen Räumen eingerichtet. Das erlaubt eine ordentliche, moderierte Diskussion ebenso wie das Vorstellen von Anträgen.

Onlineabstimmungen sind schneller, aber nicht geheim

Der wichtigste Teil ist die Abstimmung. Es wird virtuell mit den Füßen abgestimmt. Dafür gibt es eigene Räume mit den Namen „Ja“, „Nein“ und „Enthaltung“, die nur von akkreditierten Teilnehmern betreten werden können. Wenn die Versammlungsleitung also zur Abstimmung aufruft, klicken die stimmberechtigten Teilnehmer einfach auf den entsprechenden Raum. Mit ihrem Wechsel in den Kanal geben sie ihre Stimme ab. Wie auf einem normalen Parteitag, wenn die Hände für Zustimmung oder Ablehnung gehoben werden, kann jeder sehen, wer wie abstimmt und wie viele Stimmen wofür eingehen. Zudem ist die Auszählung viel leichter, denn die Software zählt, wie viele Teilnehmer sich aktuell in den Räumen „Ja“, „Nein“ und „Enthaltung“ befinden. Nach Sekunden steht bei jeder Abstimmung ein für alle klar sichtbares Ergebnis fest.

Um abzustimmen, wechseln Teilnehmer in die mit „Ja“, „Nein“ und „Enthaltung“ benannten Räume. Die Teilnehmeranzahl eines Raums ist gleichbedeutend mit der Stimmenzahl.

Natürlich dürfen nur stimmberechtigte Teilnehmer die Abstimmungsräume betreten. Dafür hat Mumble eine Funktion. Benutzernamen können mit einem elektronischen Zertifikat an ein bestimmtes Gerät gebunden werden. Das kennt man von Onlineabonnements großer Zeitungen, die eine begrenzte Anzahl registrierter Geräte erlauben. Auf Mumble können bekannten Nutzern Zugriffsrechte eingeräumt werden. Genau das passiert bei der Akkreditierung der Teilnehmer eines Onlineparteitags. Das eintreffende Mitglied identifiziert sich in einem separaten Anmelderaum bei einem Mitarbeiter der Mitgliederverwaltung mit Namen, Mitgliedsnummer und einer vor dem Parteitag eigens zugesandten, individuellen Akkreditierungsnummer. Nach der Identifikation wird der Teilnehmer dann der Gruppe der Akkreditierten hinzugefügt, die wiederum die Abstimmungsräume betreten darf.

Onlineparteitage können ergänzen, nicht ersetzen

An der virtuellen Identifizierung der Teilnehmer wird gelegentlich kritisiert, sie sei nicht hinreichend sicher. Dabei ist es fast unmöglich, sich eine unberechtigte Akkreditierung zu beschaffen. Dazu müsste ein Hochstapler Namen, Mitgliedsnummer und Akkreditierungsnummer eines stimmberechtigten Mitgliedes kennen, das zudem selbst nicht zugleich teilnehmen oder auch nur beim Mumble-System angemeldet sein dürfte. Spätestens bei einer Wortmeldung würde der Betrug mit hoher Wahrscheinlichkeit auffliegen.

Trotz aller Vorteile kann ein Onlineparteitag einen normalen Parteitag nicht voll ersetzen. Nicht alle Beschlüsse eines Präsenzparteitags können auf einem virtuellen Parteitag gefasst werden. Da geheime Abstimmungen fehlen, sind Wahlen nicht möglich. Wann immer der Antrag auf geheime Abstimmung gestellt wird, muss der abzustimmende Tagesordnungspunkt auf den nächsten Präsenzparteitag verschoben werden. Auch fehlt das persönliche Gespräch zum Vernetzen im Umfeld einer großen Versammlung. Denkwürdige Reden, tosender Applaus, schallendes Gelächter – große Geschichten werden auf Onlineparteitagen sicherlich nicht geschrieben. Daraus ergeben sich aber auch Vorteile. Der Sitzungssaal ist ruhig, ohne störendes Hintergrundgeräusch diverser Einzelgespräche. Das erlaubt die Konzentration auf Inhalte und ermöglicht eine rasche Bearbeitung von Tagesordnungspunkten.

Auch 1.000 Teilnehmer sind kein Problem

Für die Brandenburger Landtagswahlen 2019 konnte die komplette Neufassung des Grundsatz- und des Wahlprogramms auf drei Onlineparteitagen mit weniger als zehn Stunden Sitzungszeit beschlossen werden. Insgesamt hat sich das Konzept als Ergänzung zu den Präsenzparteitagen bewährt. Die Hürde, einen Onlineparteitag einzuberufen, ist deutlich niedriger als bei Präsenzparteitagen. Das liegt vor allem an den minimalen Kosten. Neben der Saalmiete und der Verpflegung haben die Mitglieder Kosten für die Anreise und Unterkunft. Es ließe sich einwenden, dass die Versammlungen größerer Parteien eines deutlich größeren Organisationsaufwands bedürfen. Fest steht aber, dass sich das Konzept des Onlineparteitags für kleinere Verbände flugs adaptieren ließe. Mit einigen Dutzend Teilnehmern funktioniert es reibungslos. Technisch ist das Mumble-System in der Lage, mit sehr viel mehr Teilnehmern klarzukommen. Die eingangs erwähnte Podiumsdiskussion mit Peter Altmaier zählte rund 1.000 Teilnehmer – nur einen weniger als der Bundesparteitag der CDU.

Virtuelle Versammlungsmechanismen könnten demokratische Prozesse vereinfachen und zugänglicher für mehr Bürger machen. Menschen mit Behinderungen, Gebrechen oder sozialen Ängsten können an den Veranstaltungen teilnehmen, Interessierte sie von unterwegs verfolgen. Terminlich eingebundene Mitglieder können sich für wichtige Abstimmungen zuschalten. Mit der entsprechenden elektronischen Zertifizierung und Identifikation ist es denkbar, dass Parlamente online zusammentreten. Alle Welt redet über mobile Arbeit. Vielleicht ist es an der Zeit, auch über mobile Demokratie nachzudenken.