Schmucklos ist das Büro mit der Nummer 6.03. Keine 15 Quadratmeter groß, in der Ecke ein schlichtes Regal mit Ordnern, auf dem Schreibtisch nur ein Bildschirm mit Lichtschutzblende. An der Magnetwand gegenüber hängt ein Zettel. „Il faut se méfier des mots“, steht dort geschrieben. Worten sollte man misstrauen. Regina Schmeken vertraut auf Bilder. Seit 1976 fotografiert sie in Schwarz-Weiß, seit 1986 für die „Süddeutsche Zeitung“. Der Weg dorthin war nicht vorgezeichnet: „Angewandte Fotografie hat mich zunächst nicht interessiert.“
Vor dem Gespräch über die Inszenierung von Politik und politische Fotografie lässt Regina Schmeken Bilder sprechen. Rundgang durch die „SZ“-Hauptstadtredaktion, Französische Straße 48: In den Fluren hängt Bild an Bild: G8-Gipfel in Heiligendamm, Papst Benedikt XVI. im Bundestag, der 3. Oktober 1990 am Brandenburger Tor, Bundespräsident Joachim Gauck bei seiner Antrittsrede. Regina Schmeken – blonder Bubikopf, Lippenrot, schwarz-weiß geblümte Bluse – führt durch die Zeitgeschichte, Erinnerungen sprudeln aus ihr heraus: „Das war witzig, der Papst hatte sich verlaufen. Und hier, Zauberlehrling Schröder mit Clinton.“
Comyan, das Bildarchiv der „Süddeutschen Zeitung“, zählt aktuell 7877 Fotos von Regina Schmeken. Auf dem Konferenztisch hat sie einige ausgebreitet. „Mit diesem Bild vom Weltwirtschaftsgipfel 1992 in München habe ich angefangen, mit einem anderen Blick auf die Inszenierung der Politik zu schauen“, sagt sie. „Damals machte man ein Gruppenbild erst, wenn sich alle aufgestellt hatten. Der Moment davor oder danach war kein Thema.“ Regina Schmeken wartete nicht, bis alle drapiert waren. Sie fotografierte die Gipfelteilnehmer, während sie nach ihren Plätzen suchten. Das Foto wurde gedruckt. Es überraschte, es polarisierte. Nicht jedem passte der neue Stil, die Art, Politiker einmal nicht so ernst zu nehmen. Das politische Foto als Kommentar? Daran mussten sich manche erst gewöhnen.
Regina Schmeken gab ihnen Gelegenheit dazu. Aus den auf dem Tisch ausgebreiteten Bildern greift sie eines heraus, das beispielhaft für die humorvolle Note steht, die ihre politischen Arbeiten oft haben. Es zeigt den britischen Premier John Major und Bundeskanzler Helmut Kohl bei der Verabschiedung der Alliierten 1994 am Schloss Charlottenburg in Berlin. Majors Kopf verdeckt Kohls fast vollständig; seitlich betrachtet verschmelzen die Silhouetten beider Männer zu einer – enormen – Person. „Ich habe durch den Sucher geschaut und musste sofort lachen. Die Kollegen schimpften, dass man Kohl nicht sehe, dass er verdeckt sei. Ich hätte fast gesagt: ‚Aber das ist ja gerade der Witz daran.'“
Kampf um jedes Stückchen Himmel
Regina Schmeken muss auch heute noch darüber lachen. „Das Foto“, abgedruckt im Feuilleton, „schlug ein wie eine Bombe“, erinnert sie sich und erzählt stolz: „Major hat sich einen Abzug bestellt und mit einem humorvollen Brief für dieses Bild bedankt.“
Politiker kommen und gehen. Regina Schmekens Bilder bleiben. Dabei war es keineswegs klar, dass sich die Fotokünstlerin irgendwann auch der angewandten Fotografie zuwenden würde. Die gebürtige Westfälin hatte es mit ihren künstlerischen Arbeiten bereits zu internationalen Erfolgen und Ausstellungen gebracht, als 1986 der Ruf zur „Süddeutschen Zeitung“ erfolgte. Im Tagesgeschäft musste sie sich ein ums andere Mal behaupten. Bilder hatten in den Printmedien noch nicht den Stellenwert wie heute. „Man beschnitt lieber ein Bild bis zur Unkenntlichkeit, als dass man den Text gekürzt hätte“, sagt sie und ihre sanfte Stimme wird für einen Moment energisch. Bei der täglichen Blattschau kämpfte sie „um jedes Stückchen Himmel“. Ein Layouter am Umbruchtisch fragte: „Ja Madl, werst denn du per Zentimeter bezoalt?“
Diese Episode liegt lange zurück. Politik, deren Inszenierung und die Art, wie Medien darüber berichten, haben sich gewandelt. „Es ist alles auf der äußeren Ebene viel perfekter geworden“, sagt Regina Schmeken. „Pressekonferenzen, Parteitage, alles ist heute von A bis Z durchgestylt.“ Heute kämpften bei wichtigen Terminen viel mehr Fotografen um gute Positionen, sagt die zierliche Frau, die man sich bei diesem Kampf kaum vorstellen kann. Dabei birgt nicht jeder vermeintlich gute Platz am Ende eine interessante Perspektive. Regina Schmekens Herangehensweise: „Es geht mir um genaues Sehen und Erkennen einer Situation. Um mich herum sehe ich permanent Bilder. Ich filme sozusagen den ganzen Tag. Durch meine Wahrnehmung, mit meinen Augen.“ Regina Schmeken, die Sehsüchtige.
Blick hinter die Fassade
Genug geredet. Die Fotografin fischt ein neues Bild aus dem Stapel. Der Versicherungskonzern Allianz feierte sein 100-jähriges Jubiläum 1990 mit einem Festakt im Münchener Prinzregententheater. Schmeken stand auf der Bühne, sollte die Redner fotografieren. Dann sah sie ins Publikum. „Die ganze Republik war anwesend. Alles, was Rang und Namen hatte. Nur Männer, und alle in diesen Anzügen: Gerold Tandler, Richard von Weizsäcker, Joachim Fest, Walter Scheel – und eine einzige Frau.“
Scheel, der als einziger in eine andere Richtung blickt; Kohl und sein dicker Bauch; Premiers, die verwirrt nach ihren Plätzen suchen: Will Regina Schmeken Politiker mit ihren Bildern auf Normalnull herunterholen? „Nein, ich möchte Politiker als menschliche Wesen zeigen“, sagt sie und sucht aus den Bildern auf dem Tisch jenes von Ex-Kanzler Gerhard Schröder und US-Präsident Bill Clinton heraus, das sie beim Rundgang als das Foto vom „Zauberlehrling“ bezeichnet hatte. Schröder gab sich gern als Macher, manche würden sagen, als Macker. Auf diesem Bild von Regina Schmeken hat er spitzbübische Züge. „Ich möchte die scheinbare Perfektion hinterfragen, die ja nicht gegeben ist. Es geht darum, einen Moment außerhalb der kontrollierten Inszenierung wahrzunehmen.“
Regina Schmekens Blick driftet ab, bleibt an einer Wand im Konferenzraum hängen, die drei weitere Bilder von ihr schmücken. Parteigranden aus der Bundespolitik und internationale Politgrößen sind darauf zu sehen. Regina Schmeken hält einen Moment inne. „Viele Vorgänge in der Politik sind wie Potemkinsche Dörfer. Es gibt viele falsche Versprechungen und Fassaden. Ich möchte hinter die Kulissen schauen.“
Nicht nur die Kulissen sind heute perfekt orchestriert. Auch viele Politiker lassen sich von Mediencoaches glatt schleifen, bevor sie sich vor Kameras wagen. Wie bricht man diese Inszenierung auf? Regina Schmeken hat ein wirksames Mittel: Sie schaltet die Farben aus. Die immer schriller schillernde Welt auf Schwarz-Weiß zu reduzieren, ist ihr Markenzeichen. Was bleibt, sind zwischenmenschliche Nuancen. Regina Schmeken lässt ihren rechten Zeigefinger über ein Foto tänzeln, das am Abend der Bundestagswahl 2013 im Konrad-Adenauer-Haus entstand. Auf der Bühne jubeln CDU-Präsidiumsmitglieder, darunter Armin Laschet, Ursula von der Leyen und Hermann Gröhe. Das Traumergebnis der CDU erklärt die Emotionen auf der Bühne nur zum Teil. „Es war einer der seltenen Abende, an denen Joachim Sauer Angela Merkel begleitete“, erzählt Regina Schmeken. Bevor sie auf den Auslöser drückte, bedankte sich die Kanzlerin bei ihrem Mann für die Unterstützung und machte eine kleine Geste in seine Richtung, er stand rechts in der ersten Reihe, erinnert sich die Fotografin.
Die Abhängigkeit der Inszenierung
Dass ihr Merkel-Bild vom Wahlabend ohne Raute auskommt, ist kein Zufall. Regina Schmeken blättert durch die Fotosammlung auf dem Tisch wie durch ein Daumenkino und sagt: „Ein explizites Rauten-Bild gibt es bei mir gar nicht. Das interessiert mich nur am Rande.“ Doch eine Frage bleibt: Sind öffentlichkeitswirksame Markenzeichen wie die Raute wirklich typisch für jemanden oder werden sie erst von den Medien dazu gemacht? „Die Raute ist tatsächlich eine Geste, die man immer wieder bei Angela Merkel sieht. Wenn einer etwas zum Markenzeichen erklärt, stürzen sich alle drauf. Dann gibt es immer mehr Bilder davon, die angeblich beweisen, dass etwas typisch für jemanden ist.“
Das gilt für Männer wie für Frauen. Die Art und Weise, wie sich beide Geschlechter im politischen Geschäft inszenieren, unterscheide sich aber, so Regina Schmekens Eindruck. Sie holt noch einmal das Allianz-Foto hervor. Das war 1990. „Mittlerweile“, sagt sie, „sind Frauen schon öfter dabei, aber sie sind noch immer so selten, dass ich sie eher als Einzelkämpferinnen wahrnehme.“ Die Kumpelhaftigkeit etwa, die das SPD-Trio Steinbrück-Steinmeier-Gabriel vor der Presse an den Tag legte, habe sie bei Frauen so noch nicht beobachtet. Das erklärt sich die Fotografin so: „Wenn Sie als Frau für sich alleine stehen, werden Sie von Männern und Frauen sehr kritisch beäugt.“ Das sei in der Politik genauso wie in anderen Berufen auch.
Einzelkämpferin zu sein, heißt für Frauen aber nicht, sich kämpferisch zu geben. Die Fotos vom reitenden Putin, rennradelnden Sarkozy, schießenden Bush und Zigarre paffenden Schröder dienten deren Imagepflege. Weibliche Politprominenz in diesen Posen? Unvorstellbar. „Es ist kein zutiefst weibliches Bedürfnis, sich so zu inszenieren. Sich in Siegerpose zu zeigen, entspricht nicht der Rolle der Frauen – auch heute noch nicht“, sagt Regina Schmeken. Der „Cicero“ machte sich diese „Rollenverteilung“ kürzlich zunutze. Das Magazin hob Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen mit pinkfarbenen Pistolen aufs Cover. Eine Idee, so provokant wie genial.
Satire unterläuft die Mechanismen professioneller Inszenierung. Doch im Tagesgeschäft sind viele Bildjournalisten als Dokumentare des Zeitgeschehens gefragt. Keine Kabinettssitzung ohne Auftaktbilder, keine Regierungs-Pressekonferenz ohne vorgeschaltetes Fotoshooting: Im politischen Berlin wird jedes Momentchen festgehalten. Wer inszeniert da eigentlich wen, Frau Schmeken? „Fotografen und Parlamentskorrespondenten sind ein Teil der Inszenierung. Man inszeniert sich gegenseitig. Ohne Pressekonferenzen und Parteitage keine Fotografen. Und ohne Fotografen keine Bilder von alledem. Es ist eine Abhängigkeitssituation.“ Besteht da nicht die Gefahr, dass Fotografen Handlanger von Politikern werden, die sich um jeden Preis vor der Kamera darstellen? „Natürlich kann man sich zum Komplizen machen. Ich möchte das nicht. Ich möchte nicht Komplizin sein.“ Durch das offene Fenster schwappt der Lärm von Berlin-Mitte herein. Wer auf der Polit-Bühne der Hauptstadt auffallen will, muss laut sein. Doch Worten sollte man misstrauen.
Einige Fotografien von Regina Schmeken finden Sie in unserer Ausgabe „Frauen und Macht„.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Frauen und Macht. Das Heft können Sie hier bestellen.