Die SPD, die von allen am 24. September gebeutelten Parteien am meisten aufzuarbeiten hätte, hat in den vergangenen Wochen und Monaten nicht den Eindruck erweckt, als habe sie das ernsthaft vor. Jetzt wird sie weder viel Zeit noch die Beinfreiheit dazu haben, denn nun geht es ans Regieren.
Man muss in den Archiven der Zeitungen etliche Jahre zurückgehen, um die ersten Leitartikel über die „Krise der Volksparteien“ zu finden. Seither sind Ursachen und Lösungsansätze im Feuilleton, am Stammtisch und in unzähligen Sonntagsreden durchdekliniert worden. An der Art und Weise, wie Parteien arbeiten, hat sich seither wenig getan. Der Abwärtstrend in den Umfragen dagegen scheint unaufhaltsam: Inzwischen kann sich nicht einmal mehr die ehemals Große Koalition sicher sein, bei einer Bundestagswahl die absolute Mehrheit zu erreichen.
Allein: Die Realitätsverweigerung mancher handelnder Akteure hält an. In einer Woche, in der die AfD die SPD in Umfragen erreicht beziehungsweise erstmals sogar überholt, sagt der kommissarische Parteivorsitzende der SPD, Olaf Scholz: „Wir haben das ehrgeizige Ziel, dass wir bei der nächsten Bundestagswahl stärkste Partei in Deutschland werden, dass wir den Kanzler oder die Kanzlerin stellen können.“ Man kann das sportlich nennen – oder schmerzfrei.
Wenn sich Wahlkämpfer in der Hochphase der Kampagne „im Tunnel“ befinden, nur einen Sieg für möglich halten und jede Minute auf diesen hinarbeiten – gegenteilige Indizien ignorierend – dann ist das das eine. Wenn man die Realität außerhalb von Wahlkampfzeiten ebenso konsequent ausblendet – oder sollte man besser sagen: leugnet? –, dann hat man den Schuss nicht gehört.
Eine krisengeschüttelte Partei wie die SPD auf Vordermann zu bringen, ist kein Projekt, das man bei gutem Management in vier Jahren erfolgreich zum Abschluss bringt. Die subjektive Motivation mancher derjenigen, die jetzt am Hebel sitzen, ist entsprechend gering. Die Führungsriege der SPD – mit Ausnahme von Martin Schulz – hat sich in die Groko gerettet. Doch es geht hier um höhere Interessen als um die individuellen Karrieren von Funktionären. Es geht um die Zukunft der traditionsreichsten Partei Deutschlands und um die Parteienlandschaft in Gänze. Auf den Fluren des Bundestags trifft man derweil auf Abgeordnete, die hinter vorgehaltener Hand zugeben, sich manchmal zu fragen, ob sie das Abrisskommando der Sozialdemokratie sind.
Zugegeben, es ist derzeit nicht gerade en vogue, die FDP als Best-Practice-Beispiel anzuführen – der Jamaika-Stachel sitzt tief. Wenn die SPD aber eines von den Liberalen lernen kann, dann ist es Erneuerung und Neuanfang. Leider, und das ist das Bittere an der Geschichte, hat auch die FDP erst verstanden, dass etwas passieren muss, als sie sich 2013 in der Apo wiederfand.
Noch muss die SPD dieses Schicksal nicht fürchten. Noch ist sie näher an der 20-Prozent- als an der 10-Prozent-Marke. Doch in volatilen Zeiten muss man auch das Unmögliche für möglich halten, um es zu verhindern. Liebe SPD, es ist fünf vor zwölf. Zeit aufzuwachen!
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 122 – Thema: Wie sich das politische Berlin neu aufstellt. Das Heft können Sie hier bestellen.