Emmanuel Macron und Sebastian Kurz haben es vorgemacht – schwappt der Trend, das Parteiensystem durch neue Bewegungen disruptiv zu verändern, jetzt auch nach Deutschland über? Zumindest scheint die Zeit reif dafür, zählt man eins und eins zusammen.
Die Bevölkerung jedenfalls steht neuen Bewegungen offen gegenüber. Laut einer Forsa-Umfrage können sich 57 Prozent der Wahlberechtigten vorstellen, bei der nächsten Bundestagswahl „eine Partei der Mitte wie die von Macron in Frankreich zu wählen“.
Eine deutsche „En Marche“-Bewegung ist zwar nicht in Sicht, auf der linken Hemisphäre des politischen Spektrums aber tut sich etwas: Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine planen eine linke, überparteiliche Sammlungsbewegung. Das ist ihre Antwort auf den Umstand, dass die klassischen linken Parteien keine Mehrheit mehr haben. Die Parteichefs Katja Kipping und Bernd Riexinger befürchten, dass die Bewegung, die im September an den Start gehen soll, die Linkspartei überflüssig machen könnte. Ihr zentrales Gegenargument ist also kein inhaltliches, sondern ein emotionales: die Angst vor Machtverlust. Das ist nachvollziehbar, und doch ist Angst auch hier ein schlechter Ratgeber, denn am Ende entscheidet der Wähler. Und zumindest in der Wählerschaft der Linken stößt die Idee einer Sammlungsbewegung laut einer Yougov-Umfrage auf breite Zustimmung (74 Prozent). Auch bei Grünen- und SPD-Wählern überwiegt demnach der Zuspruch.
Den Volksparteien muss ein Relaunch gelingen
Dem Wandel, der sich am Horizont abzeichnet, stehen die etablierten Parteien jedoch bislang eher hilflos gegenüber. Zwar gibt es Bemühungen, sich ein Stück weit neu zu erfinden, Mitglieder stärker einzubinden, Parteileben und -arbeit zu modernisieren. Bei den Sozialdemokraten heißt das #spderneuern, die CDU hat sich für eine Zuhörtour durch Deutschland entschieden.
Aber ist all das genug? Reicht das, um bei den Wählern wieder an Attraktivität zu gewinnen? Genügen ein paar experimentelle Pinselstriche, wenn das Gesamtkunstwerk dasselbe bleibt? Nein. Denen, die sich bislang Volksparteien nennen können, muss ein wirklicher Relaunch gelingen. Auch wenn Parteien im deutschen politischen System eine stärkere Stellung als in anderen Länder haben, so ist die Erosion des Vertrauens in sie dramatisch, die Zahl ihrer Mitglieder und Stammwähler im Sinkflug, die Bindung an Werte, politische Überzeugungen und die sie repräsentierenden Parteien so schwach, dass es auch hierzulande vorstellbar ist, dass in Windeseile eine neue politische Kraft entsteht – an ihrer Spitze: ein charismatischer Kopf, kein radikal-verstörender, sondern ein smarter und reformierender, medial hochgejazzt durch moderne Kommunikationstools.
In Podiumsdiskussionen wird seit Jahren beklagt, wie Unternehmen, die die digitale Transformation verschlafen, von neuen Firmen hinweggefegt werden, die über Nacht alte Geschäftsmodelle zerstören. Während diese Entwicklung hinlänglich bekannt ist, scheint eine Erkenntnis noch nicht durchgesickert zu sein: Die Politik spielt sich auf demselben Planeten ab. Auch hier sind disruptive Entwicklungen möglich. Wer sich nicht überflüssig machen will, sollte sich also bewegen und nicht darauf warten, dass sein „politisches Geschäftsmodell“ mit einem Federstrich zerstört wird. Bis zur nächsten Bundestagswahl bleibt nicht mehr viel Zeit.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 123 – Thema: Der neue Regierungsapparat. Das Heft können Sie hier bestellen.