Keine Teilhabe ohne Mitbestimmung

Serie: Politik ohne Grenzen, Teil 6

Als ich im Jahr 2000 in die Politik gegangen bin, stritt sich Deutschland erbittert über sein Selbstverständnis als Einwanderungsland. Es war eine Zeit, in der sich die Lager fast schon unversöhnlich gegenüberstanden und sich gegenseitig entweder als Multikulti-Träumer oder verstaubte Leitkultur-Kämpfer beschuldigten. Und dann gab es Menschen wie mich, Hamburgerin, Muslima und als Tochter türkischer Einwanderer eine von mittlerweile 16 Millionen Bürgerinnen und Bürgern mit Einwanderungsgeschichten in unserem Land. Während Politik und Teile der Gesellschaft also voller Eifer diskutierten, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei, waren wir ganz offensichtlich schon längst da!

Das ist jetzt 16 Jahre her, und ich wundere mich immer wieder, wie sehr sich unser Land in dieser eigentlich kurzen Zeit zum Besseren gewandelt hat: Heute bestreitet kaum jemand, dass wir ein Einwanderungsland sind.

[…] Als ich 2001 in der Bürgerschaft begann, wollte ich auch ein Zeichen setzen, dass Menschen mit Einwanderungsgeschichten, die hier leben, sich dann auch stärker in unserem Land beheimatet fühlen können und sich nicht in erster Linie an ihren Herkunftsländern orientieren müssen. Das war und ist aber nicht immer der Fall, und ich denke, dass ein Grund dafür ohne Zweifel darin besteht, dass Teilhabe ohne Mitbestimmung und Wahlrecht schwierig ist. Wer den deutschen Pass nicht hat, der kann eben nicht mitbestimmen.

Ich habe deshalb eigentlich ab dem ersten Tag meiner politischen Karriere dafür gestritten, dass wir unser Staatsangehörigkeitsrecht ändern und modernisieren. Und die rot-grüne Bundesregierung packte das im Jahr 2000 mit der Gesetzesänderung zur Einführung des Geburtsortsprinzips an: Wer in Deutschland geboren wird, aber ausländische Eltern hat, sollte fortan dennoch unter bestimmten Bedingungen deutscher Staatsbürger sein können. Das war damals ein riesiger Schritt. Allerdings mit einem schlechten Kompromiss: die Optionspflicht, die es jungen Menschen auferlegte, bis zur Volljährigkeit zwischen der deutschen und der ausländischen Staatsbürgerschaft zu wählen. Eine wirklich sonderbare Regelung, die wir auf mein Betreiben hin im Jahr 2014 weitgehend abgeschafft haben: Endlich können viele junge Menschen die doppelte Staatsbürgerschaft ein Leben lang behalten. Ich denke, dass diese Entwicklungen den großen Streit und all die Auseinandersetzungen wert waren – auch wenn ein Wehmutstropfen bleibt: Denn natürlich hätte es Sinn gemacht, die gesetzliche Neuregelung zur Hinnahme der doppelten Staatsangehörigkeit auch für die zweite Generation (also für die Eltern der Optionspflichtigen) zu ermöglichen. Die zweite Generation ist diejenige, die den Spagat zwischen Elternhaus und Gesellschaft vollzogen hat, die übersetzt hat für die eigenen Eltern – und zwar nicht nur sprachlich. Es ist eine riesige Herausforderung für junge Menschen, eine solche Situation zu meistern, aber sie hat natürlich auch unglaublich schöne Seiten: Von vornherein verschiedene Kulturen zu kennen und Sprachen zu verstehen, ist ein innerer Reichtum, den einem niemand nehmen kann.

[…] Ich denke, dass es gerade in Zeiten hoher Flüchtlingszahlen wichtig ist, Haltung zu zeigen: Wir sind heute ein wohlhabendes, weltoffenes Land – übrigens auch dank der Einwanderung in den letzten Jahrzehnten. Und wir stehen auch wegen unserer historischen Verantwortung dazu, Menschen, die vor Krieg, Terror und Verfolgung fliehen, Schutz zu gewähren. Außerdem wollen wir die Fehler, die wir in der Vergangenheit bei der Gastarbeiter-Anwerbung gemacht haben, nicht wiederholen: Wer absehbar länger im Land bleibt, muss sofort Angebote zur Integration bekommen.

Ein Freund schrieb mir vor kurzem, er sei in die USA ausgewandert, weil er es nicht mehr ertragen konnte, immer „der Türke“ in Deutschland zu sein. Einige tausend junge Menschen versuchen jedes Jahr ihr Glück in anderen Ländern – auch in der Heimat ihrer Eltern, zum Beispiel in der Türkei. Aber diejenigen, die hier sind, übernehmen eben auch zunehmend Verantwortung, und ich bin froh, dass die Zahl derer, die zumindest einen biografischen Bezug zum Thema Integration haben, mittlerweile auch den Weg in die Behörden, in die Landesparlamente und in den Deutschen Bundestag finden. Der Weg ist manchmal steinig, aber er ist nicht unmöglich und gelingt immer öfter – das zeigen die Biografien in diesem Buch!

Die Auszüge stammen aus dem Kapitel „Wir sind schon längst da!“ von Aydan Özoğuz. Der Sammelband „Politik ohne Grenzen. Migrationsgeschichten aus dem Deutschen Bundestag“ ist Ende Oktober im B&S Siebenhaar Verlag erschienen. Autorinnen und Autoren wie Cem Özdemir, Azize Tank, Alexander Radwan, Katarina Barley, Gitta Connemann und Herausgeber Özcan Mutlu erzählen darin von ihren persönlichen Lebenswegen und Erfahrungen als Abgeordnete.