"Ich wollte nicht der Türkenbeauftragte des Deutschen Bundestags sein"

Serie: Politik ohne Grenzen, Teil 7

[…] Als ich 1994 zum ersten Mal in den Bundestag in Bonn einzog, hatten einige offenbar die Erwartung, dass da jetzt einer auf seinem fliegenden Teppich kommt, mit Krummdolch, Pumphose und Fes auf dem Kopf. Gut, ich übertreibe ein wenig. Aber ganz so weit davon entfernt waren die Vorstellungen mancher nicht.

In meinen ersten Tagen als Bundestagsabgeordneter war ich Gast in einer WDR-Sendung, bei der Anruferinnen und Anrufer Fragen stellen konnten. Die Sendung fand mittags statt, das Publikum war eher etwas älter. Ich rechnete mit fachlichen Fragen, auch mit Aufforderungen, dass ich als neuer und junger Abgeordneter bitteschön fleißig sein und eine gute Arbeit machen solle. Es kam ganz anders. Eine Anruferin wollte wissen: „Sind Sie beschnitten?“ Eine etwas ungewöhnliche Frage von einer Frau im Rentenalter an einen 28-jährigen Mann, fand ich. Aber es ging noch weiter: Wenn ja, dann hätte ich ja muslimische Riten über mich ergehen lassen und daher im Bundestag nichts zu suchen. Die nächsten Anrufe waren so ähnlich. Die Moderatoren wurden langsam nervös und fragten, ob es nicht auch andere Meinungen gäbe. Daraufhin riefen wiederum eine Reihe Leute an, die sich bei mir für die ersten Anrufer entschuldigten. Sie meinten es nett, aber sie mussten sich nicht für andere entschuldigen, das waren ja schließlich auch meine Landsleute. Aus heutiger Sicht taugt diese Geschichte ganz gut als exemplarische Momentaufnahme des damaligen Deutschlands.

Nachdem mir der neue Vorsitzende der wieder in den Bundestag eingezogenen grünen Fraktion, Joschka Fischer, zuerst das Büro wegschnappte und dann auch noch die Sekretärin abwarb, kam er auf die Idee: „Der Özdemir muss Schriftführer werden. Da oben im Bundestagspräsidium muss ein Schwarzkopf sitzen! Damit die Leute sehen: In diesem Land verändert sich was, das Land wird bunter und offener.“ So saß ich an einem Donnerstagmorgen im Präsidium hinter dem Rednerpult, vor mir stand Bundeskanzler Helmut Kohl und hielt eine Rede. Da ich meine Aufgabe, die Rednerliste zusammenzustellen, ganz besonders korrekt machen wollte, gestikulierte ich wohl ziemlich auffällig herum und winkte mir von Zeit zu Zeit die Parlamentarischen Geschäftsführer heran. In meinem Büro stand derweil das Telefon nicht mehr still: „Was ist da los, was macht der Türke da oben?“, „Wie ist der da hochgekommen?“, „Seit wann darf ein Türke da oben sitzen?“. Lustiger war da schon ein Gespräch, das ein Freund von mir zufällig tags darauf in der Kölner U-Bahn mithörte: „Der Bundestag hat jetzt einen türkischen Präsidenten!“ – „Nein, das kann doch nicht sein.“ – „Doch, doch, da sitzt einer, das ist der eigentliche Chef. Der zeigt denen, was sie tun müssen, die müssen alle zu ihm kommen, wenn er sie ruft, der kommandiert die alle. Und der sitzt sogar höher als Kohl!“

Ich übernahm in meiner Fraktion den Posten des einwanderungspolitischen Sprechers. So war ich in meiner ersten Legislaturperiode von 1994 bis 1998 überwiegend auf die Themen Migration und Türkei festgelegt. Das war eine zweischneidige Sache. Einwanderung und Integration waren und sind wichtige Themen, die viele Menschen bewegen. Ich war ein deutscher Bundestagsabgeordneter, der in den Augen mancher irgendwie vermeintlich doch nicht ganz deutsch war – und jetzt über diese Sache auch noch politisch redet. Doch wer lässt sich schon gerne in seiner ganzen Arbeit und Persönlichkeit auf seine Herkunft reduzieren? Als ob das erklären würde, ob ich meinen Job gut oder schlecht mache.

Gegen das mir häufig zugeschriebene Rollenbild habe ich mich dann auch gewehrt. Ich wurde beispielsweise Mitglied der Deutsch-Griechischen Parlamentariergruppe. Das führte damals zu mittelschweren diplomatischen Verwicklungen. Einer der Vizepräsidenten des Bundestages ließ mich telefonisch wissen, dass der griechische Botschafter nervös sei und gefragt hätte, was ich als „Türke“ in der Deutsch-Griechischen Parlamentariergruppe mache. „Wie, als Türke?“, fragte ich. „Ich bin deutscher Staatsbürger!“ Mal abgesehen davon, dass ich zufällig mütterlicherseits auch noch griechische Vorfahren habe, aber das tat hier nichts zur Sache. Ich war immer der Meinung, dass ein Freund kein einseitiger Lobbyist sein könne. Er sagt auch mal Dinge, die unangenehm, aber wichtig sind. Ich wollte auch nicht der Türkenbeauftragte des Deutschen Bundestages sein. Wenn schon, verstand ich mich als Fachpolitiker für alle Menschen in Deutschland, nicht nur für die mit Migrationsgeschichte.

[…] Der Weg vom „türkischen Gastarbeiterkind“ über den Fünfer- Grundschüler, den jugendlichen Umweltaktivisten, den Erzieher, den Abgeordneten bis hin zum Bundesvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen hat mich und meine politische Arbeit geprägt. Ökologie und der Schutz unserer Umwelt, Gerechtigkeit und faire Chancen, Weltoffenheit auf Basis unserer Verfassung – das sind die Themen, die mir seit jeher am Herzen liegen. Wie schon vor 35 Jahren als 15-Jähriger will ich das Klima und unsere Umwelt schützen und zeigen, dass das der Wirtschaft nutzt, dass sie damit Geld verdienen und Arbeitsplätze schaffen kann. Mit den Erfahrungen der eigenen Biografie ist es mir ein besonders wichtiges Anliegen, dass alle eine faire Chance erhalten, dass sie sich selbst anstrengen, aber auch dabei unterstützt werden, um an unserer Gesellschaft teilhaben zu können. Und ich möchte, dass unsere Heimat – Deutschland und Europa – weltoffen bleibt, dass wir die Grundrechte hochhalten und unserer Verantwortung für eine bessere Welt gerecht werden.

Die Auszüge stammen aus dem Kapitel „Es kommt darauf an, wo ein Mensch hin will – nicht wo er herkommt“ von Cem Özdemir. Der Sammelband „Politik ohne Grenzen. Migrationsgeschichten aus dem Deutschen Bundestag“ ist Ende Oktober im B&S Siebenhaar Verlag erschienen. Autorinnen und Autoren wie Aydan Özoğuz, Azize Tank, Alexander Radwan, Katarina Barley, Gitta Connemann und Herausgeber Özcan Mutlu erzählen darin von ihren persönlichen Lebenswegen und Erfahrungen als Abgeordnete.