“Jetzt bin ich Aktivist. Soll ich mich dafür entschuldigen?”

Interview mit Can Dündar

Herr Dündar. Als renommierter Journalist: Mit welcher Frage würden Sie ein Interview mit Can Dündar eröffnen?

„War es für Sie symbolisch, zwischen den beiden Türen zu posieren?“ Denn das ist mehr oder weniger mein Leben, ein Leben zwischen zwei Türen. Ich weiß nicht, welche Tür in naher Zukunft für mich offen steht. Es war eine gute Idee, mich eingeklemmt zwischen zwei Türen zu stellen.

Sie mögen das Adorno-Zitat: „Wer keine Heimat mehr hat, dem wird wohl gar das Schreiben zum Wohnen.“ Was bedeutet das für Sie persönlich?

Ich kenne Adorno aus meinen Universitätsjahren. Als ich diesen Satz las, fühlte er sich sehr vertraut an. Es ist sehr traurig, im Exil zu leben. Man verlässt seine Heimatstadt, sein Land, seine Lieben. Man kommt in eine neue Stadt, ein neues Land, hört eine neue Sprache, trifft neue Leute. Man braucht etwas, woran man sich klammern kann. Im Gefängnis war es genauso. Ich las und schrieb, nichts anderes. Das hat mir das Leben gerettet. Wir durften keine Computer benutzen. Ohne diesen Stift und einige Bücher wäre es sehr schwierig gewesen, mit der Situation fertigzuwerden. Gleichzeitig schreibe ich, um mich auszudrücken. Ich schreibe, um meine Gefühle zu teilen. Ich schreibe, um den Schmerz zu ertragen. Und ich schreibe, um Menschen zu erreichen und meine Situation zu teilen.

Sehen Sie sich in einer Reihe von berühmten Exilanten?

Nicht berühmt, nein. Aber alle Exilanten fühlen sich gleich, wirklich. Ich habe die meisten Erinnerungen der deutschen Exilanten in den 1930er Jahren gelesen. Sie dachten nur an Deutschland. Sie dachten an ihre Rückkehr. Sie versuchten, sich einer neuen Gesellschaft anzupassen. Sie planten, etwas zu tun, um das Regime in Deutschland zu stürzen. Sie planten sogar, Rundfunksendungen von ihrem Exil aus nach Deutschland zu übertragen. Wenn man immer noch für sein Land kämpft, denkt man automatisch so.

Can Dündar ist ein türkischer Journalist, Dokumentarfilmer und Buchautor, der seit 2016 im deutschen Exil lebt. Er wurde bekannt als Chefredakteur der Zeitung „Cumhuriyet“, die 2015 einen Bericht über geheime Waffenlieferungen der türkischen Regierung an syrische Rebellen veröffentlichte. Dafür wurde er der Spionage angeklagt und zu einer langen Haftstrafe verurteilt, die er jedoch nicht antrat. Er floh nach Deutschland, wo er weiterhin als Kolumnist und Fernsehmoderator arbeitet. Er leitet das Webradio Özgürüz, das vom Recherchezentrum Correctiv betrieben wird. Er ist auch Autor von mehr als 20 Büchern über die türkische Geschichte und Politik. Er wurde mehrfach für seinen mutigen Journalismus ausgezeichnet, unter anderem mit dem International Press Freedom Award und dem Raif Badawi Award. Er steht auf der Liste der meistgesuchten Terroristen der türkischen Regierung und ist mehrmals bedroht und angegriffen worden. Er setzt sich für die Demokratie und die Menschenrechte in der Türkei ein. (c) Sebastian Höhne
Can Dündar ist ein türkischer Journalist Dokumentarfilmer und Buchautor der seit 2016 im deutschen Exil lebt Er wurde bekannt als Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet die 2015 einen Bericht über geheime Waffenlieferungen der türkischen Regierung an syrische Rebellen veröffentlichte Dafür wurde er der Spionage angeklagt und zu einer langen Haftstrafe verurteilt die er jedoch nicht antrat Er floh nach Deutschland wo er weiterhin als Kolumnist und Fernsehmoderator arbeitet Er leitet das Webradio Özgürüz das vom Recherchezentrum Correctiv betrieben wird Er ist auch Autor von mehr als 20 Büchern über die türkische Geschichte und Politik Er wurde mehrfach für seinen mutigen Journalismus ausgezeichnet unter anderem mit dem International Press Freedom Award und dem Raif Badawi Award Er steht auf der Liste der meistgesuchten Terroristen der türkischen Regierung und ist mehrmals bedroht und angegriffen worden Er setzt sich für die Demokratie und die Menschenrechte in der Türkei ein c Sebastian Höhne

 

Sie sind in der Türkei politisch verfolgt wegen eines Nachrichtenartikels.

In der Türkei braucht es keine spezifischen Gründe, um als Staatsfeind angesehen zu werden. Wenn Sie die Regierung ablehnen, sind Sie bereits ein Terrorist. Die Regierung hat die Geschichte, die ich in meiner Zeitung als Chefredakteur veröffentlicht habe, als Vorwand genutzt, um gegen mich vorzugehen. In einer geheimen Operation schmuggelte der türkische Geheimdienst Waffen an islamistische Dschihadisten in Syrien. Wir berichteten, sie beschlagnahmten die Zeitung. Sie bestritten die Geschichte nicht, denn sie war wahr. Aber sie sagten, es sei ein Staatsgeheimnis gewesen, das ich nicht hätte offenbaren dürfen. Woher sollte ich das denn wissen? Sie steckten mich für drei Monate ins Gefängnis. Nachdem ich freigelassen worden war, wurde ich verurteilt, am Ende zu 28 Jahren Gefängnis. Aber ich war zwischenzeitlich in Europa. Wenn ich zurückgehe, lande ich wieder im Gefängnis.

Glauben Sie, dass sich in Ihrem Leben etwas geändert hätte, wenn Sie den Artikel nicht veröffentlicht hätten?

Um auf der sicheren Seite zu sein, hilft einzig Schweigen. Das ist keine Option für einen Journalisten. Aber es gibt viele in der Türkei, die diesen Weg leider gewählt haben. Und sie sind okay, sie leben immer noch im Land.

Wie ist der Zustand des Journalismus in der ­Türkei?

Erdogan ist der größte Medienmogul. Die ihm nahestehenden Geschäftsleute besitzen mindestens 90 Prozent der Medien. Es ist eine Art Propagandamaschinerie. Es ist fast unmöglich, dort frei zu schreiben. Einige wenige Medien versuchen noch, gegenteilige Ansichten zu vermitteln und zumindest die Ansichten der Opposition widerzuspiegeln. Aber sie sind sehr vorsichtig. Wenn man einen Journalisten ins Gefängnis steckt, bestraft man nicht nur ihn, sondern sendet den anderen eine Botschaft. Wenn du etwas gegen mich schreibst, ist dies das Schicksal, das auf dich wartet. Deshalb ist Selbstzensur effizienter als Zensur selbst. Jeder denkt zweimal nach, bevor er einen Satz schreibt oder eine Schlagzeile in die Zeitung setzt.

Und in Ihrem Fall wurden Sie nicht nur ins Gefängnis gesteckt, sondern es gab auch einen Attentatsversuch auf Sie. Beeinflusst Sie das noch heute?

Natürlich. Sobald die Bedrohung einmal da ist, ist sie immer da. In der Türkei wurden viele Journalisten wegen ihrer Recherchen getötet. Sehen Sie den Vogel vor dem Fenster? Mein armenischer Kollege Hrant Dink schrieb in einem Artikel, als Journalist in der Türkei würde man „leben wie ein Vogel“. Immer vorsichtig, bereit, wegzufliegen. Es war sein letzter Artikel. Danach wurde er ermordet. In der Türkei kennt jeder Journalist diesen Ausdruck. Natürlich muss ich vorsichtig sein, aber ich muss auch arbeiten.

Warum haben Sie Deutschland für Ihr Exil gewählt?

Ehrlich gesagt war Deutschland nicht meine erste Wahl. Ich war 2016 im Urlaub in Spanien. Dann scheiterte der Militärputsch in der Türkei. Meine Anwälte warnten mich, zurückzukehren. Sie sagten, es gebe keinen Rechtsstaat mehr. Ich hatte nichts außer ein paar Büchern und Kleidung in einem Koffer und steckte in Europa fest. Mein Sohn lebte damals in London. Aus Frankreich riefen mich Reporter ohne Grenzen an. Aber England war mit dem Brexit beschäftigt und Frankreich ignorierte die Türkei völlig. Ich bekam ein Angebot, für die „Zeit“ zu schreiben und „Arte“ fragte mich für eine Dokumentation an. Ich verstand, dass Deutschland aus professioneller Sicht meine beste Option war. Wegen der türkischen Community herrscht in Deutschland ein großes Interesse an der Türkei. Es ist also eher so: Deutschland hat mich gewählt.

Wie geht es Ihnen in Deutschland?

Als Autor verbringen Sie Ihre Zeit meist vor einem Computer, egal wo Sie sind. In diesem Sinne ist es egal, wo Sie sind. Aber natürlich sind Sie weit entfernt von Ihrem Archiv. Ich spüre beispielsweise die Leere, weil ich weit weg von meinem Archiv, meinen Regalen und meinen Büchern bin. Wenn ich etwas prüfen wollte, wusste ich, in welchem Regal ich suchen musste. Heute muss ich von vorne beginnen.

Sie leben in einer deutschen Stadt, sprechen aber kein Deutsch. Wie ist das für Sie?

Berlin ist der perfekte Ort für jemanden wie mich. Ich komme mit Englisch und Türkisch durch. Viele Leute sind sehr nett und verständnisvoll. Sie kennen meine Situation. Wir haben eine gute Beziehung zum deutschen Publikum, zu den deutschen Medien und deutschen Instituten wie PEN und Reporter ohne Grenzen. Ich kann mich nicht beschweren.

Fühlen Sie sich sicher hier?

Erdogan hat ungefähr 65 Prozent in den letzten Wahlen in Deutschland bekommen. Als er das letzte Mal nach Berlin kam, nannte er mich in einer Pressekonferenz mit Kanzlerin Angela Merkel einen Agenten. Wenn der Präsident deines Landes das neben der Regierungschefin deines Gastlands den Medien gegenüber tut, sendet das eine Message zu den Leuten, die hier leben: Vernichtet diesen Agenten. Ich muss also vorsichtig sein. Dabei habe ich gar kein Problem mit den Menschen, die hier leben. Sie versuchen, ihr Leben zu leben. Deshalb diskutiere ich nicht mit den Menschen hier, sondern befasse mich mit dem Hauptproblem in Ankara.

Ist Deutschland noch Ihr zeitweiliges Exil oder schon Ihre neue Heimat?

Vor den Wahlen im Mai dachte ich, dass wir bald zurückkehren. Es ist wie ein Wartesaal, in dem wir auf einen Zug warten, von dem wir nicht wissen, ob und wann er kommt. Jetzt scheint das in weite Ferne gerückt. Wir haben erkannt, dass unsere Rückkehr nicht unbedingt mit Wahlen zu tun hat. Es ist fast unmöglich, eine Wahl in einer Autokratie zu gewinnen. Was also sonst? Druck aus Europa sehen wir nicht. Der Militärputsch ist Gott sei Dank gescheitert. Auch der Widerstand in Gezi-Park hat nicht funktioniert. Wie wird man einen Autokraten los? In letzter Zeit neige ich dazu, Berlin als neue Heimat zu sehen. Natürlich hat meine Rückkehr etwas mit dem Erdogan-Regime zu tun. Aber die Chemie der Gesellschaft hat sich auch verändert. Es regiert nicht nur ein Autokrat; die ganze Gesellschaft wurde vergiftet. Vielleicht dauert es Jahrzehnte, das zu heilen. Viele Jahrzehnte habe ich aber nicht mehr vor mir.

Wie schaffen Sie es, aus Berlin heraus weiterhin in der Türkei gehört zu werden?

Seit ich im Exil bin, wollen noch mehr Menschen von mir hören. In der Türkei kann niemand einfach über Staatsgeheimnisse oder Korruptionsfälle Erdogans und andere unantastbare Tabus sprechen. Im Exil aber bin ich frei, zu schreiben oder zu sprechen. Im Gefängnis war es ähnlich. Es verwandelte sich in eine Bühne. Sie sitzen in einer kleinen Zelle, aber was Sie schreiben und Ihrem Anwalt geben, ist zu einer lauten Stimme geworden, die überall widerhallte. Heute erreichen wir Millionen, selbst wenn die Regierung versucht hat, das zu blockieren. Diese Blockade machte noch mehr Menschen auf uns aufmerksam. Sie finden Wege wie VPNs, um unsere Websites zu erreichen. Sie wollen verstehen, was vor sich geht.

Dabei greifen Sie auch auf modernste Medien zurück. Sie experimentieren mit Tiktok.

Wir aus der alten Schule veröffentlichen Zeitungen oder betreiben Fernsehsender. Der neuen Generation sagt das nichts. Ich habe also beschlossen, neue Möglichkeiten auszuprobieren. Das ist nicht leicht in meinem Alter. Ich habe einen 27-jährigen Sohn. Ich habe erfahren, dass die meisten jungen Leute in Deutschland mit türkischem Hintergrund Tiktok nutzen. Sie unterstützen einen Autokraten in ihrem eigenen Land, ohne viel darüber zu wissen. Sie stehen unter dem Einfluss türkischer Fernsehsender. Ich dachte mir: Es wäre schön, sie über ihr Medium zu erreichen. Ich schreibe also für die „Zeit“, produziere Dokumentationen für das „ZDF“ und experimentiere mit Tiktok. Nach unserem Gespräch heute werde ich Videos schneiden. Wir produzieren Hunderte von Videos zum 100. Jahrestag der Türkischen Republik.

Sie sagten, das falle Ihnen schwer.

Sicher. Ich war noch nie auf Tiktok. Aber es ist interessant: Man kann Millionen erreichen, braucht dafür aber einen neuen Ansatz. Ich kannte diese „Sprache“ nicht. Wie erzählt man die ganze Geschichte eines Landes in einer Minute? Es ist fast unmöglich, aber eine Herausforderung. Wenn es funktioniert, ist das großartig. Wenn nicht, versuchen wir etwas anderes. Von Youtube wusste ich vor zehn Jahren auch noch nichts. Plötzlich ist es mein Hauptmedium.

Ihre Werkzeuge sind das Handy und der Laptop. Sie haben eine Ausstellung über diese kleinen Gegenstände gemacht.

Wenn Sie in einem kleinen Raum in Einzelhaft sitzen, ist fast alles verboten. Sie müssen überleben. Dann fangen Sie an, die Bedeutung jedes Gegenstands zu verstehen. Nehmen Sie den Kugelschreiber. Haben Sie einmal versucht, einen zehnseitigen Brief mit der Hand zu schreiben? Früher habe ich lange Briefe geschrieben. Im Gefängnis taten mir nach zwei Stunden die Finger weh. Mir war es fast unmöglich, weiterzuschreiben. Ich brachte mir also bei, mit der linken Hand zu schreiben. Ich musste das tun, es war lebenswichtig. Inhaftierte Musiker spielten auf einer Pipette Flöte, Maler malten mit ihrem Blut. Sie können den menschlichen Geist nicht einsperren, er findet einen anderen Weg, das zu tun, was er tun soll.

Sie meinen, man kann in jeder Umgebung kreativ sein?

Wenn man etwas zu sagen hat, ist das Medium nicht wichtig. Schreiben Sie an die Wände und hinterlassen Sie Ihre Botschaft. Oder Tiktok, Youtube, Instagram, Spotify. Das Wichtige ist, ob man eine Botschaft hat oder nicht.

Unterscheiden Sie zwischen Ihren Rollen als Journalist, Künstler und Aktivist?

Ehrlich gesagt ist es ein Luxus, über diese Trennung nachzudenken. Ich weiß, wie wichtig das in Deutschland ist. Ich habe an der Universität unterrichtet und mit meinen Studenten darüber gesprochen, was Journalisten tun sollten und was nicht. Das habe ich alles vergessen. Es ist weg. In einem demokratischen Land kann man über diese ethischen Fragen sprechen. Aber wenn Ihr Land brennt, können Sie nicht sagen: Soll ich das jetzt als Künstler machen oder sollte ich Journalist bleiben? Komm schon, das Gebäude brennt. Deine Liebsten sind drin. Ich bin jetzt also reingesprungen und versuche, meine Familie rauszuholen. Jetzt bin ich Aktivist. Soll ich mich dafür entschuldigen? Sie können einem ukrainischen Journalisten auch nicht erklären, dass er Distanz wahren und seine Familie aufgeben soll, weil er Journalist ist.

Wie gut sind Sie in Deutschland mittlerweile vernetzt?

Nun, es gibt nicht nur ein Deutschland. Es gibt auch nicht nur eine Türkei: die von Erdogan, aber auch meine. Es gibt verschiedene Ebenen in Deutschland. Die deutsche Regierung versucht, gute Beziehungen zum Erdogan-Regime zu pflegen, daher ist sie in Fragen der Menschenrechte und Pressefreiheit nicht so aktiv, wie ich mir das wünsche. Sie will Erdogan nicht verärgern.

Warum?

Sie braucht Erdogan, schon seit der Flüchtlingskrise, heute auch für die Ukraine. Warum sollte sie diese Möglichkeit für ein paar Journalisten hier opfern? Das ist leider so. Erst letzten Monat wurde eine deutsche Parlamentsabgeordnete in der Türkei festgesetzt. Von der deutschen Regierung hätte ich öffentlichen Protest auf höchster Ebene erwartet. Stattdessen: nichts. Können Sie sich das vorstellen? Sicherlich hat sie ihr Bestes getan, um die Abgeordnete rauszuholen. Aber sie hat nichts gesagt. In derselben Woche hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier exilierte Künstler und Journalisten empfangen. Er hat dort eine bemerkenswerte Rede gehalten. Sie können also nicht alle deutschen Institutionen verallgemeinern.

Wie verfolgen Sie deutsche Politik?

Hauptsächlich über englische Quellen, deutsche Medien. Und ich habe Freunde in der deutschen Politik. Ich stehe ständig mit ihnen in Kontakt. Ich muss deutsche Politik verfolgen. Sie ist nun Teil meines Lebens. Ob ich es akzeptiere oder nicht, ich bin nun Teil des Spiels.

Wie würden Sie die Situation in Deutschland derzeit beschreiben?

Im Moment drohen nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa autoritäre Regierungen und Tendenzen. Ich spüre, dass sie kommen. Sie kamen in Italien an die Macht. Sie haben Frankreich fast übernommen und schauen Sie sich die ehemaligen Sowjetrepubliken an. Die AfD liegt bei über 20 Prozent in Deutschland. Ich kann nicht sehen, dass die Menschen genug tun, um das zu verhindern. Wir haben das vor 20 Jahren erlebt. Das Land war in der Krise. Es gab eine enorme Reaktion der Menschen auf den Status quo. Sie suchten nach einem Anführer, der sie rettet. Und so fanden sie Erdogan. Und plötzlich haben wir das ganze Land in 20 Jahren verloren. Es ist eine enorme Lektion. Ich kenne diese Lektion. Ich versuche zu schreien: Leute, sie kommen! Tut etwas! Aber es ist nicht so einfach. Denn es gibt viele andere Diskussionen. Aber es geht um die Demokratie. Ich bin mir nicht sicher, ob die neue deutsche Generation sich daran erinnert, wie fragil eine Demokratie ist.

Es gibt einen Streit über die Frage, ob man rechte Parteien einhegen oder isolieren soll. Was denken Sie?

Wir haben darüber in der Familie gestritten. Als Erdogan an die Macht kam, dachte ich, dass wir ihm und seinen Leuten zuhören sollten. Sie sollten in einen legalen Rahmen, um nicht noch gefährlichere Strukturen im Untergrund aufzubauen. Ich war sicher, in der Regierung würden sie sich und ihre radikalen Positionen ändern. Meine Frau war von Anfang an der Ansicht, die AKP müsse verboten werden und verdiente keine demokratische Plattform. Jetzt – nach 20 Jahren – habe ich das Gefühl, dass ich falsch lag. Wir hätten ihnen keine Plattform, keine Macht geben dürfen. Wenn eine Partei nicht an die Demokratie glaubt und sie nur nutzen will, um sie zu zerstören, sollte man das nicht erlauben. Wer eine Demokratie nicht verteidigt, kann sie verlieren. Autoritäre Parteien ziehen Vorteile aus Kompromissen. Wer einmal Faschist ist, ändert seine Gesinnung nicht. Es gibt nicht so etwas wie weichen Faschismus.

Sollte die AfD also verboten werden?

Das ist keine Lösung. Man muss sie natürlich daran hindern, die Demokratie zu zerstören. Aber gleichzeitig muss man versuchen, die Menschen zu verstehen, die diese Partei wählen. Es gibt Probleme, und diese Probleme muss man lösen. Wenn das in Deutschland die Flüchtlingskrise ist, muss man sich darum kümmern.

Was gibt Ihnen Hoffnung?

Ich spaziere jeden Tag zu den Ruinen der Berliner Mauer. Jeden Tag laufe ich über die Pflastersteine, die zeigen, wo sie früher verlief. Dann erreiche ich die Ruinen. Jeden Tag denke ich darüber nach, was dieses Land, diese Stadt, diese Straße in den 1930er und 1940er Jahren durchgemacht hat. Und dann denke ich an das heutige Deutschland. Dann wird mir klar, dass es möglich ist: Jede Mauer kann eingerissen werden. Keine Autokratie kann ewig bestehen. Berlin gibt mir die Hoffnung, dass es ein Ende für jede Autokratie gibt. Auch wenn es sehr schmerzhaft wird. Aber keine Mauer bleibt für immer bestehen. Einerseits ist Berlin die richtige Stadt, um die schmerzhafte Vergangenheit zu verstehen. Aber gleichzeitig ist es eine Stadt, die diese Schwierigkeiten überwunden hat. Darin liegt die Hoffnung.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 144 – Thema: Interview mit Can Dündar. Das Heft können Sie hier bestellen.