Die Mechanismen der Skandalisierung

Rezension

Der Untertitel von Hans Mathias Kepplingers Buch gibt den Tenor vor: „Warum man den Medien gerade dann nicht vertrauen kann, wenn es darauf ankommt.“ In der vierten Auflage setzt sich der Autor mit Skandalen in dieser Republik auseinander. Dabei geht es ihm nicht um eine Chronique Scandaleuse, wie sie häufig unter diesem Stichwort zu finden ist. Es geht ihm auch nicht um Schuldzuweisungen, was angesichts der Fülle der Beispiele, die er benennt, auch nicht möglich ist. Vielmehr stellt er einen Perspektivwechsel an und analysiert die Wirkungen und Folgen, die die Berichterstattung von Skandalen durch die Medien hat.

In seiner Analyse zeigt Kepplinger auf, wie Skandale im modernen Medienbetrieb entstehen. Dabei geht er über die klassische Betrachtung der Medienwissenschaft, die sich auf Anzahl und Tenor der Berichterstattung konzentriert, hinaus. Auch beschränkt er sich nicht darauf, den Verlauf von Skandalen zu erzählen, die er in Hülle und Fülle als Beispiele benennt. Sie reichen von den bekannten Skandalen um Christian Wulff, Karl-Theodor zu Guttenberg und Franz-Peter Tebartz-van Elst bis hin zu regionalen Aufregern wie um Susanne Gaschke. Vielmehr zeigt er, wie rasch die Berichterstattung über mögliche Fehler und Missstände zum Skandal wird, indem über die Skandalierten übereinstimmend negativ berichtet wird. Erst dann entsteht aus seiner Sicht der Skandal mit allen negativen Folgen, die dieser für die Beteiligten hat. Gelingt es hingegen, diese Übereinstimmung aufzubrechen, so sieht er darin einen publizistischen Konflikt. Dies gelang unter anderem dem ehemaligen Außenminister Joschka Fischer, dessen Gewalttaten in den siebziger Jahren zwar bekannt waren, aber als generationentypisch entschuldigt wurden.

Wenn die Berichterstattung versagt

Erhellend sind dabei die Rückgriffe auf die Sozialpsychologie, die der Autor unternimmt. Sie erklären eine Vielzahl von Mechanismen. Die Bildung von Schemata zieht er als Erklärung heran wie die gruppenpsychologischen Experimente von Solomon Asch als auch die Bewertung von Personen aus der Beobachter- und der Akteursperspektive. Ob die zitierten Experimente für massenpsychologische Phänomene als valide Grundlage dienen können, mag umstritten sein. Sie bieten aber für das Verhalten von Journalisten und Rezipienten interessante Erklärungsansätze. So zeigt die Bewertung von Berichterstattung mit Hilfe von Schemata, dass im modernen Medienbetrieb bestimmten Narrativen gefolgt werden muss, um das eigene Publikum zu erreichen. Erzählungen, die den Erwartungen widersprechen, lösen beim Leser und Zuschauer Missmut aus, der dann auf die Journalisten zurückschlägt – was diese vermeiden wollen.

Das und die Rückschau auf viele Skandale wirft in der Summe ein nachdenkliches Bild auf einen Berufsstand, der wie kein anderer und aus sich heraus meinungsbildend ist. Gerade dann, wenn es um Missstände in der Gesellschaft geht, scheint die klassische Berichterstattung, die sich auf Analyse der Fakten und deren Einordnung stützt, zu versagen. Dies liegt offensichtlich im Selbstverständnis des Berufsstands begründet, wie Kepplinger anhand verschiedener Studien zeigt. Dies beginnt damit, dass die „Spiegel“-Affäre von 1963 bis heute offensichtlich prägend für das Berufsverständnis vieler Journalisten ist. Dies mag man noch ebenso verstehen wie den Umstand, dass es aus Sicht der Medienvertreter in Ordnung ist, bei der Berichterstattung in Skandalen zu dramatisieren, was sich sonst verbietet. Schwierig ist es dann, wenn Journalisten die gleichen Sachverhalte unterschiedlich darstellen, weil die jeweilige Person ihnen sympathisch oder nicht sympathisch ist. Dies zeigt er nicht nur anhand von Befragungen, sondern liefert einige Beispiele hierfür – am prägnantesten wohl die Gegenüberstellung der privaten Vorteilsnahme durch die ehemaligen Bundespräsidenten Rau und Wullf. Spätestens hier erhält man eine Ahnung davon, weshalb in den letzten Jahren das Vertrauen in den medialen Mainstream massiv Schaden genommen hat.

Ein Aufruf zu mehr Sorgsamkeit

Diese Skepsis verstärkt sich, wenn man rückblickend auf die Vielzahl von Skandalen schaut. Natürlich verkennt Kepplinger nicht, dass es richtig und legitim ist, auf die Missstände hinzuweisen. Allerdings denkt er auch hier aus verschiedenen Perspektiven und nimmt bewusst auch die Folgen der Berichterstattung in die Analyse auf. Mit Blick auf die Skandalierten stellt er fest, dass sie nicht nur Täter sind, sondern auch Opfer einer Berichterstattung, die sich nicht die Mühe macht, die unterschiedlichen Facetten einer Entscheidung zu analysieren, sondern die Schuld auf einem Sündenbock ablädt. Mag man hier noch einwenden, dass im öffentlichen Diskurs schon immer mit scharfer Klinge gefochten wurde, so können die ökonomischen Betrachtungen kaum ignoriert werden. So führte die aus seiner Sicht unzulässige Übertragung (und Skandalisierung) des Unglücks im Kernkraftwerk Fukushima auf die deutschen Verhältnisse zu einer Energiewende, die Milliardenkosten für die Gesellschaft bedeutet. Auch betragen die Kosten für die BSE-Vorsorge nach seinen Angaben (über den Gesamtzeitraum von ca. zehn Jahren) rund zwei Milliarden Euro – bei einer positiv getesteten Quote von weit unter 0,1 Prozent.

Bei aller Klarheit der Analyse bleibt leider das Internet in der Betrachtung außen vor. In der bedeutsamen Anfangsphase des Skandals werden im Netz heute mit immenser Geschwindigkeit die Schemata gelegt, die später die Erzählung prägen. Gerade dann aber, wenn man Skandale aus Sicht der Skandalierten schildert, und die Häme, die sie ertragen müssen, kommt man um die Untiefen des World Wide Web nicht herum.

Kepplingers Buch ist ein Aufruf an Journalisten und Bürger, mit gesellschaftlichen Missständen sorgsamer umzugehen. Die Regellosigkeit, die nach seiner Analyse in der Skandalberichterstattung gilt, ist nicht richtig und schadet auf Dauer der Demokratie und am Ende auch den Medien selbst. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Hans Mathias Kepplinger: Die Mechanismen der Skandalisierung, Lau Verlag, Reinbek 2018, 244 Seiten, 26,90 Euro