Wie werden Unter­nehmen klima­neutral – und was heißt das?

Interview

Herr Graichen, Ihre “Agora Energiewende” hat ausgerechnet, dass durch den wirtschaftlichen Stillstand die Klimaziele für Deutschland in greifbare Nähe rücken. Können Sie sich darüber freuen?

Nein, die Corona-Krise ist absolut kein Grund zur Freude, auch nicht für einen Klimaschützer. Zumal diese Einsparungen auch nicht von Dauer sein werden. Dauerhafte CO2-Einsparungen erreicht man nur durch Investitionen in CO2-arme Technologien, nicht durch Wirtschaftskrisen. Das ist die Lehre aus den vergangenen Weltwirtschaftskrisen, wie etwa der Ölpreis-Krise in den 70ern oder der Finanzkrise 2008/2009. Deshalb ist die Frage des nächsten Schritts entscheidend, also eines Wachstums- und Konjunkturprogramms nach Ende der Ausgangssperren. Dieses Programm wird vermutlich im Sommer oder Herbst entschieden – und das muss dann ein grünes Investitionsprogramm werden. Denn die Klimaherausforderung ist ja nicht weg, und sie wird in den kommenden Jahren mit Macht wieder zurückkommen.

Wie kann Deutschland die Rettung der Wirtschaft jetzt mit klimafreundlicher Umrüstung verbinden?

Wir brauchen schnelle Investitionen in die ganze Bandbreite der klimaneutralen Technologien: Erneuerbare Energien, Gebäudesanierung, grüner Wasserstoff, CO2-freie Stahlproduktion, Elektromobilität, Stromspeicher und noch vieles mehr. Das hilft Deutschland aus der Krise und macht unsere Wirtschaft fit für die Zukunft.

Die Bewegung Fridays For Future (FFF) pocht auf die Einhaltung der Klimaziele, die die ­Politik sich auferlegt hat. Warum kann sich die Wirtschaft nicht zurücklehnen und die Politik machen lassen?

Unternehmen brauchen eine “Social License to Operate” (SLO). Diese Akzeptanzregeln wurden durch die FFF neu definiert. Die SLO fragt heute auch nach dem Beitrag von Politik und Wirtschaft, die Zukunft künftiger Generationen zu wahren. Deshalb kommen Unternehmen nicht damit durch zu sagen, das sei Aufgabe der Politik. Sie können sich kein zukunftsschädigendes Geschäftsmodell mehr erlauben.

Wie wird ein Unternehmen klimaneutral? 

Der erste Schritt lautet: Der Energieverbrauch des Unternehmens kommt ohne Kohle, Öl und Gas aus. Der zweite Schritt bedeutet: Die Produkte eines Unternehmens verbrauchen bei ihren Nutzern nicht Kohle, Öl und Gas.

Wie beginnt man das?

Jedes Unternehmen braucht eine umfassende Strategie, um auf null zu kommen. Dazu muss es Verantwortlichkeiten definieren und jährliche Benchmarks aufstellen, die nachgehalten und kontrolliert werden. All das muss als klarer firmeninterner Prozess aufgesetzt sein, damit das CO2-Ziel glaubwürdig verfolgt wird.

Patrick Graichen ist seit Januar 2014 Direktor von Agora Energiewende. Davor war der promovierte Umweltökonom lange im Umweltministerium tätig. Dort wirkte der 48-Jährige maßgeblich an der Ausgestaltung der deutschen Klima- und Energiepolitik mit. (c) Florian Büttner

Was tun Unternehmen ohne große ­CO2‑Einsparpotenziale? 

Es gibt drei große Bereiche, die sich jeder in Stufen vornehmen kann. Der erste Bereich ist die Steigerung der Energieeffizienz und die Umstellung der Strom- und Wärmeversorgung auf Ökostrom und CO2-freie Wärme. Der zweite Bereich ist die Ausrüstung des Fuhrparks mit E-Autos. Der dritte Bereich betrifft die Reiseregelung. Zu langen Flugreisen gibt es noch keine wirkliche Alternative. Hier bietet sich klassisch die CO2-Kompensation an. Unter 1000 Kilometern Anreise kann die Bahnreise vorgeschrieben werden. Wir diskutieren aber auch über Videokonferenzen, um Reisen zu vermeiden.

Was lässt sich schon heute ändern?

Viele Produktionsunternehmen haben noch ineffiziente Anlagen, die sie ineffizient betreiben. Das sind klassische Querschnittstechnologien wie Pumpen und Motoren. Energieverschwendung fällt hier nicht auf, weil der Energiekostenanteil in Unternehmen in der Regel unter zwei Prozent liegt. Meist sind Energieeffizienz-Investitionen aber hochrentabel und amortisieren sich innerhalb von zwei Jahren. Klimaneutralität als Megathema und Unternehmensstrategie erfordert zwingend, dass Energieeffizienz für Geschäftsführer von Platz 20 der Prioritätenliste unter die Top 3 wandert. Eben nicht nur wegen der Kostenersparnis, sondern vor allem wegen der Social Licence to Operate.

Welche Fehler sollte man vermeiden?

Das Beispiel des Adani-Projektes, bei dem Siemens mit einem vergleichsweise kleinen Auftrag beteiligt ist, zeigt, dass es nicht reicht, Klimaneutralität als Ziel zu formulieren. Es muss im Bewusstsein des gesamten Unternehmens ankommen, dass Klimaneutralität Firmenpolitik ist. Die Belieferung von Öl-, Gas- und Kohle-Firmen, vor allem wenn es um die Erschließung neuer Kohleminen oder neuer Öl- und Gasfelder geht, passt dann eben nicht mehr in eine solche Logik. Viele machen sich das bisher nicht klar. Doch in einer solchen Logik muss jede Abteilung sich fragen, welche Auswirkungen ihre Entscheidungen in Sachen Klimaschutz haben.

Wie lässt sich das konkret umsetzen?

Unternehme können einen internen CO2-Schattenpreis etablieren. Selbst wenn die Politik im Emissionshandel derzeit nur 25 Euro pro Tonne CO2 wagt, können sie die Schadenskosten von 180 Euro pro Tonne CO2 ansetzen, wie vom Umweltbundesamt empfohlen. Das verändert Entscheidungen gewaltig und schiebt Reformen an, die ohnehin kommen müssen.

Gehören die CO2-Emissionen meiner ­Zulieferer auch in meine Klimabilanz? 

Wir unterscheiden den eigenen Verbrauch vom CO2-Rucksack, den die Vorprodukte mitbringen. Meinen Verbrauch kann ich leichter beeinflussen. Deshalb muss ich für die eigene Energiebilanz ein früheres Zieldatum für Klimaneutralität ansetzen. Das Zieldatum für eine klimaneutrale Lieferkette liegt dann fünf bis zehn Jahre später.

Reicht es nicht, das verursachte CO2 einfach zu kompensieren? 

Reine Kompensationslösungen sind unglaubwürdig. Das bedeutet im Kern, ich kaufe mich frei und es geht mir nicht um Lösungen. Dafür kursiert das böse Wort Ablasshandel. Das können bestenfalls Übergangslösungen sein. Aber ohne ein verbindliches Zieldatum für Klimaneutralität ist das ganze Konzept unglaubhaft.

Wie kann ich überhaupt glaubwürdig CO2 ­kompensieren?

Bei CO2-Kompensation muss sichergestellt sein, dass für meine Emissionen anderswo CO2 gespart wird oder Bäume gepflanzt werden. Ich muss die konkreten Emissionsminderungsprojekte benennen können und im Zweifel muss ein Journalist sich das vor Ort anschauen können. 

Wie kann ich das nachweisen?

Atmosfair bearbeitet das Thema CO2-Kompensation in Deutschland am glaubwürdigsten. Sie bieten den Goldstandard an, was entsprechende Projekte und deren Kontrolle angeht. Es gibt Projekte, bei denen in Nepal Biogaskocher gekauft werden. So müssen die Leute dort nicht mehr Holz sammeln und verfeuern, um ihr Essen zu kochen. Andere Projekte bauen Solaranlagen in Indien. Jeweils ist klar: Ohne Geld wäre dieses Projekt nicht zustande gekommen. Das gewährleistet das Kriterium der Zusätzlichkeit. Zweitens gibt es bei Atmosfair ein klares Accounting, welche Emissionen vermieden wurden.

Was halten Sie davon, wenn Firmen im ­Alleingang Bäume pflanzen?

Hier ergeben sich Fragen: Wer hält das nach? Wer haftet, wenn der Wald abbrennt? Haben wir dafür Mechanismen? Ich glaube, die Projekte sind jeweils gut gemeint. Aber es hat in diesem Bereich eine Professionalisierung gegeben, die die Spreu vom Weizen trennt. Wenn ein Unternehmen sich glaubwürdig in Richtung Klimaneutralität begeben will, ist eine Zertifizierung zwingend.

Welche Maßnahmen sind noch zu ungenutzt?

Im Bereich Ökostrom gibt es neben der eigenen Photovoltaikanlage auf dem Dach vor allem direkte Lieferverträge mit Ökostrom-Anlagen. Das kommt aus dem US-Markt und heißt “Power Purchase Agreement” (PPA). Bei uns läuft noch viel über Zertifikate, wo nur die Grünstromeigenschaft norwegischer Wasserkraft eingekauft wird, aber nicht der Strom selbst. Mit PPAs können Unternehmen sagen: Unser Vertrag hat dafür gesorgt, dass die Photovoltaik-Anlage da vorne an der Autobahn neu gebaut wurde. Das ist viel klarer.

Wann sollte ein Unternehmen seine ­CO2‑Strategie kommunizieren? 

Auf jeden Fall muss ein Unternehmen vorher seine Hausaufgaben machen. Aus der Strategie muss klar hervorgehen, wann eine neue Anlage mit der nächsten Effizienzkategorie angeschafft wird, wann komplett auf Ökostrom umgestellt wird. All das muss der Vorstand einer Firma unterschreiben, bevor sie damit an die Presse gehen. Denn wenn man einmal eine Ankündigung gemacht hat, kann man dahinter nicht mehr zurückfallen.

Bosch will dieses Jahr klima­neutral sein, ­Volkswagen gibt sich bis 2050. Wie kommen solche Unterschiede zustande?

Es gibt energieintensive Firmen mit Anlagen von langer Lebensdauer. Das verlängert die Zyklen, in denen eine klimaschädliche Anlage durch eine CO2-freie ersetzt wird. Dann kann das schon einige Jahrzehnte dauern. Bei Volkswagen jedoch sehe ich nicht den Grund, warum sie erst 2050 klimaneutral sein wollen. Zwischen 2030 und 2040 läuft der letzte Verbrenner vom Band. Insofern ist im Einzelfall tatsächlich die Frage: Rede ich von sogenannten “Hard to ­Abate”-Sektoren, die fossile Brennstoffe schwer ersetzen können? Oder ist die Firma einfach nicht ehrgeizig? Grundsätzlich geht CO2-Neutralität bis 2040 für alle, bis auf wenige Ausnahmen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 130 – Thema: Stresstest. Das Heft können Sie hier bestellen.