Peter Klöppel, einer von vier Moderatoren des Abends, geht gleich zu Beginn mit hohem Tempo voran: „Herr Schulz, […] was glauben Sie, woher kommt es, dass so viele Bürger Ihnen Ihr Vertrauen nicht schenken wollen?“ Zack! Da ist Schulz plötzlich selbst derjenige, der angegriffen wird und aufpassen muss, nicht in die Defensive zu geraten. Doch Martin Schulz ist Profi genug, als Redner im Europaparlament hat er bereits viele Kontroversen bestanden. Heute packt Schulz den Tisch vor ihm wie das Rednerpult im Parlament und reagiert mit dem großen Wir: „[…] Wir sind jetzt drei Wochen vor der Bundestagswahl in einer Situation, wo, wenn ich den Umfragen die Sie zitiert haben, glaube, ungefähr jeder zweite deutsche Bürger noch nicht entschieden ist. Und das Duell heute Abend dient sicher dazu, die Fragen, die die Menschen haben, zu beantworten.“ Schulz hat sich freigedribbelt, Klöppel daran erinnert, die Fragen nicht im eigenen, sondern im Interesse der Bürger zu stellen. Sogar Merkel stimmt nickend zu und bekommt dafür gleich die nächste Frage ab.
Diesmal ist ZDF-Moderatorin Maybrit Illner dran: „Frau Merkel, am Ende des letzten Duells sagten Sie: ‚Sie kennen mich!‘ Können sich die Bürger dieses Landes da eigentlich noch sicher sein? Gibt es nicht bei vielen Themen eigentlich wenigstens zwei Angela Merkels? Die Klima- und die Autokanzlerin? Die Einwanderungs- und Willkommenskanzlerin und die der Abschottung […]?“
Merkel lächelt entspannt, freut sich auf ihre Antwort: „Ich glaube jeder Mensch verändert sich natürlich im Laufe seines Lebens […].“ Rhetorisch clever, ein sogenannter Allgemeinplatz, der als Ich-Botschaft eingeleitet, die die Zuhörer auf die eigene Perspektive versammelt. Solche Aussagen stoßen auf breite Zustimmung und lösen die Schärfe in der Frage auf. Das kann Merkel wirklich gut. Und was wäre im Kanzlerduell jetzt schön? Um in der Fußballmetapher zu bleiben: Ein frühes Tor! Bundeskanzlerin Merkel fährt fort: „Und die Herausforderungen sind auch jedes Mal neue.“ Noch ein Allgemeinplatz. Doch der dient nur zur Ablenkung vor dem überraschenden Fernschuss aufs ungedeckte Tor: „Ich bin Vorsitzende einer Partei, die für Maß und Mitte steht. Und deshalb sind diese Alternativen Auto oder Klima für mich überhaupt keine Alternativen – auch nicht Willkommen oder Abschottung – sondern es geht bei der Frage der Flüchtlinge um Menschen und es geht bei der Frage von Klima und Mobilität um nachhaltige Lösungen und daran arbeite ich.“
Merkel: „Wir haben Maß und Mitte“
Im Unterschied zur ersten Antwort von Schulz, gelingt es Merkel ein grundlegendes Motto herauszustellen. Ihr Standpunkt lautet: Das Leben ist Veränderung. Wer den Herausforderungen gerecht werden will, denkt in „sowohl als auch“ statt „entweder oder“. Dieses Vorgehen wird in der politischen Rhetorik Konsensargument genannt. Merkel stellt sich in die Mitte der Gesellschaft trifft dort auf den Common Sense, den Alltagsverstand und das Erfahrungswissen der Bürger. Allgemeinplätze und Konsens entschärfen den Konflikt und schaffen eine gemeinsame Perspektive und Verbindung mit den Bürgern.
Nach diesem frühen Tor für Frau Merkel muss Schulz angreifen. Am besten mit etwas Konkretem, einem Vorschlag, der ein Defizit von Merkel aufdeckt. Doch bevor es soweit ist, geht es um die Flüchtlingspolitik. Schulz wirft Merkel fehlende Abstimmung in Europa vor und greift mit der Frage an, warum die CSU den ungarischen Ministerpräsidenten Victor Orban als Gastredner eingeladen hat. Die Temperatur erhöht sich, das Gesicht der Kanzlerin errötet. Der Druck nimmt zu. Das Duell findet für gefühlte 15 Minuten eher im Strafraum vor Merkels Tor statt.
Doch bis jetzt steht die Verteidigung. Auch als Maybrit Illner fragt: „Frau Merkel, Sie haben – wie Christian Wulff – gesagt, dass der Islam zu Deutschland gehört. Nun sagen zwei Drittel der Deutschen, dass sie überhaupt nicht dieser Auffassung sind. Wie wollen Sie die Mehrheit der Deutschen überzeugen, dass es auch eine kulturelle und religiöse Integration gibt?“
Merkel: „Wir haben vier Millionen Muslime in Deutschland. Die tragen zum Erfolg dieses Landes bei. Und deren Glaube ist der Islam. Und deshalb gehört inzwischen durch diese bei uns lebenden Musliminnen und Muslime, die, wie gesagt, ein Teil unserer Gesellschaft sind, auch der Islam zu Deutschland, aber einer der verfassungskonform ist.“
Klöppel: „Herr Schulz, wie schätzen Sie das ein: Sind Einwanderer aus muslimischen Ländern schwerer zu integrieren als Einwanderer aus anderen Ländern?“
Schulz: „Das glaube ich nicht. Vom Grundsatz nicht. Das kommt auf ihre Erziehung in den Ländern an. Es gibt zum Beispiel junge palästinensische Männer, die zu uns kommen, die mit einem tiefverwurzelten Antisemitismus erzogen worden sind. Denen muss man in klaren Sätzen sagen: In diesem Land hast du nur einen Platz, wenn du akzeptierst, dass Deutschland ein Land ist, das Israel schützt!“ Die Kamera schwenkt zu Merkel, die nickt, ärgert sich vielleicht ein wenig, dass Schulz gerade punktet und Haltung zeigt. Ihr Gesicht ist gerötet, die Gesichtszüge sind angespannt.
Kann Schulz mit einem Zitat weiter angreifen?
Schulz erzählt, er habe in der Vorbereitung auf diese Sendung noch ein paar Sachen zum Islam nachgelesen. Prompt erntet er sarkastische Kommentare der Moderatoren. „Das ist gut!“ Denn natürlich erzählt auch kein Schauspieler auf der Bühne inmitten des Hamletmonologs, was er in der Vorbereitung auf die Rolle gelesen hat. Schulz lässt sich durcheinander bringen, verhaspelt sich, stolpert. Er lässt sich dazu verführen, zu verraten, dass er sich ein Zitat, das er nun anbringt, eigentlich für das Schlusswort der Sendung aufbewahrt hatte. Nach langer Pause setzt er endlich an: „‚Jenseits von Richtig oder Falsch gibt es einen Ort. Dort treffen wir uns.‘ – Ein wunderbares Zitat eines großen schiitischen Philosophen […] Sie sehen, der Islam ist eine Religionsgemeinschaft wie jede andere auch, die integrierbar ist.“ Das zeigt, dass Schulz Bildung und der große Gedanke wichtig sind. Schade nur, dass er die Wirkung der Pointe so verschenkt.
Klare Kante – wie Schulz punktet
Illner: „Es gibt das Ausspitzeln von Gläubigen in diesem Land. […] Was muss Deutschland tun, um an dieser Situation etwas zu verändern?“ Es geht um Einflussnahme, unter anderem von Seiten der Türkei.
Schulz: „[…] Deshalb muss man darüber nachdenken, dieses Abkommen [mit der Türkei] zu kündigen.“
Klöppel hakt nach: „Sie müssen darüber nachdenken, das zu kündigen? Warum kündigen Sie es nicht, wenn Sie Kanzler sind?“
Schulz: „Ja, wenn ich Kanzler bin, werde ich nicht nur das Abkommen kündigen, sondern die Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der Europäischen Union abbrechen! Kein deutscher Staatsbürger kann sicher mehr in die Türkei reisen. […] Ich denke, dass derjenige, der der nächste Bundeskanzler sein wird, die Aufgabe hat, der Türkei zu sagen, hier sind alle roten Linien überschritten. Und deshalb kann dieses Land nicht mehr Mitglied der EU werden.“
Alternative statt Alternativlosigkeit
Zack. Zack und Zack! Geht doch. Der Ball ist drin! Endlich nach 26 Minuten gelingt es Martin Schulz, die Moderatoren, die Kanzlerin und die Öffentlichkeit zu überraschen. Rhetorisch mit einer Perspektiv- oder auch Nutzen-Argumentation. „Wenn ich Kanzler bin.“ Das macht neugierig, steigert die Spannung auf das, was jetzt kommt: Eine Aktion, eine Veränderung, etwas Neues! Schulz zeigt klare Kante, zeigt Haltung und kündigt an, was sich verändern würde, wenn er Kanzler wäre. So muss es sein! Das ist Angriff, deshalb haben Millionen Menschen eingeschaltet. Wir, die Bürger wollen wissen, was bei Schulz anders wäre!
Wenn doch in den gefühlt sehr langen 90 Minuten Kanzlerduell solche Momente öfter gewesen wären! Das starre Format mit vier Moderatoren, die gleiche Redezeit für Kanzlerin und Herausforderer, das Themensetting, kein Publikum, keine Bühne. Irgendwie ist alles starr, wenig lebendig, unspektakulär. Vieles wirkt vorbereitet, bringt die Akteure eher in Bedrängnis. Beide reagieren eher sachlich, wollen sich nicht zu sehr auf die Füße treten.
Die einzige Überraschung setzt ein, als Martin Schulz versucht, die Kanzlerin zum Thema Rente zu stellen: „Toll, Frau Merkel, ich nehme Sie jetzt so beim Wort. Ich freue mich wenn Sie die Rente mit 67 begrenzen.“ Dann zeigt er Widersprüche innerhalb der CDU auf, spricht vom Wirtschaftsrat der CDU, der eine Rente mit 70 fordert. Sie bleibt gelassen. Schulz setzt nach: „Frau Merkel wollte auch keine Maut [….]. Und wie wir wissen, ist die Maut gekommen.“ Ein Versuch, die Glaubwürdigkeit Angela Merkels anzuzweifeln. Martin Schulz spielt inzwischen härter, foult sozusagen auch mal auf dem Platz.
Schlusswort Martin Schulz: Die Zukunft gestalten und nicht die Vergangenheit verwalten
Schulz: „In 60 Sekunden, meine Damen und Herren, verdient eine Krankenschwester weniger als 40 Cent und ein Manager in einem Großunternehmen mehr als 30 Euro. In 60 Sekunden kann ein verantwortungsloser Politiker mit einem Tweet die Welt an den Rand einer Krise führen. In der gleichen Zeitspanne können junge Menschen sich vernetzen und Diktaturen zum Einstürzen bringen. Wir leben in einer Zeit des Umbruchs. Und in einer Zeit des Umbruchs ist das beste Mittel der Aufbruch und der Mut zum Aufbruch. Der Mut zum Aufbruch heißt, die Zukunft gestalten und nicht die Vergangenheit verwalten […]“ Schulz textet mit rhetorischen Wirkungsmitteln. Fazit: Allein die großen Pausen, viele Verhaspler und eine zu ruhige Betonung am Satzende zeigen, dass er nicht wirklich angreift, nicht wirklich aufruft, nicht wirklich kämpft. Zwischen Schulz und Obama liegt Würselen – auch rhetorisch!
Schlusswort Angela Merkel: Gemeinsam schaffen wir das!
Merkel: „Wir haben aus meiner Sicht nicht ausführlich darüber gesprochen, was eigentlich zur Entscheidung steht in den nächsten vier Jahren. Denn wir müssen jetzt die Weichen für die Zukunft stellen. Durch den digitalen Fortschritt wird sich vieles ändern […] und Arbeitsplätze, die heute sicher erscheinen, müssen weiter sicher gemacht werden. Die Bildung muss umgestellt werden. Wir müssen die Bürgerinnen und Bürger mit Blick auf den Staat mit neuen Möglichkeiten des digitalen Zugangs zu ihrem Staat ausrüsten. […] Ich glaube, dass ich mit der Mischung aus Erfahrung der vergangenen Jahre, in denen wir einiges erreicht haben und der Neugier auf das Neue, in dem wir diese neue Welt so gestalten müssen, dass Deutschland auch ein starkes Land ist […] und ich glaube, dass wir das gemeinsam schaffen können.“ Fazit: fünf Mal „müssen“. Das zeigt die Kanzlerin die Herausforderungen als etwas beschwört, was uns ein wenig Sorge machen könnte, wäre nicht sie da, die uns sagt, was zu tun ist, damit wir so leben können, wie wir es wünschen. Die Begriffe „sozial und gerecht“ packt sie auch noch mit in ihr Schlusswort. Sie wirkt dabei sympathischer als Schulz, aber eine rhetorische Glanzleistung ist auch ihr nicht gelungen. Das Duell geht rhetorisch eher 1:1 aus.
Fazit Martin Schulz:
Mimik, Gestik, Körpersprache:
Lebendiger Ausdruck:
Redeaufbau:
Fazit Angela Merkel:
Mimik, Gestik, Körpersprache:
Lebendiger Ausdruck:
Redeaufbau: