Bei Wahlsieg Cash

It’s the economy, stupid“ – das reicht nicht mehr. Der alte Wahlkampf­slogan Bill Clintons ist nur noch die halbe Wahrheit. Im US-Wahlkampf 2012 spielt neben der Wirtschaft die soziale Ungleichheit eine große Rolle. In solchen Krisenzeiten schätzen Politik und Gesellschaft konservatives Finanzgebaren. Dennoch will die US-Börse Nadex nun Wahlwetten auf den Markt bringen. Die North American Derivatives Exchange, kurz Nadex, ist in Chicago ansässig und auf den Derivatehandel spezialisiert. Mit den „Political Event Derivatives“ sollen vor allem Kleinanleger auf den Ausgang von US-Wahlen spekulieren. Die Wahlwetten funktionieren so: Kostet beispielsweise ein Derivat auf Newt Gingrich 80 Dollar, so bedeutet das, dass die Anleger ihm 80 Prozent Siegchancen gegen Barack Obama einräumen. Sollte Gingrich tatsächlich ins Weiße Haus einziehen, würde der Wert des Gingrich-Derivats auf 100 Dollar steigen. Ein Anleger, der bei 80 Dollar eingestiegen wäre, könnte 20 Dollar Gewinn verbuchen, abzüglich einer Handelsgebühr von 90 Cent für die Nadex. Schafft es Gingrich erst gar nicht bis zum Kandidaten der Republikaner oder verliert gegen Obama, sind die 80 Dollar weg.
Das hier zugrundeliegende Prinzip „The Winner takes it all“ überzeugt nicht jeden. Bei der US-Börsenaufsicht hat die Nadex Bart Chilton zum Feind. Der Elitebeamte bezeichnete die Nadexderivate als „Politpoker“: Sie eröffneten die Gefahr, dass Spekulanten die politische Willensbildung beeinflussen, so Chilton. Der Demokrat ist einer von fünf Kommissaren der Börsenaufsicht CFTC (Commodity Futures Trading Commission) und gilt als Verfechter einer harten Regulierungslinie am US-Finanzmarkt. Vor kurzem veröffentlichte er ein Buch über Schneeballsysteme von Finanzhaien.
US-Medien vermuten vor allem Chilton hinter einem vorläufigen Stopp der „Political Event Derivatives“ durch die CFTC. Die Nadex wollte im Januar fünf Polit-Derivate in den Handel bringen; Anleger sollten etwa auf die Entwicklung der Mehrheitsverhältnisse im Kongress und den Ausgang der Präsidentschaftswahlen wetten können. Doch die Börsenaufsicht setzte Anfang Januar erst einmal ein 90-tägiges Prüfungsverfahren in Gang. Bis Anfang April müssen sich Interessenten nun gedulden, um Gewissheit zu haben.
Aus Sicht der Börsenaufsicht stellt sich vor allem die Frage, ob die Wahl-Derivate gegen den 2010 von der Obama-Regierung beschlossenen „Dodd-Frank-Act“ verstoßen. Dieses Gesetz sollte nach der Finanzkrise von 2007 für mehr Stabilität am US-Finanzmarkt sorgen und den Anlegerschutz verbessern. Es verbietet unter anderem Kontrakte, welche dem öffentlichen Interesse widersprechen und Derivate mit Glücksspielcharakter.
Die Nadex hat diesbezüglich keine Bedenken. Im Gegenteil: Ein breiter Handel mit Polit-Derivaten würde das Wissen über politische Prozesse verbessern und somit das Gemeinwohl sogar fördern, heißt es im Genehmigungsantrag. Die Börse verweist auf die akademischen Prognosemärkte, die es seit Ende der 80er- Jahre gibt. Die Universität von Iowa veröffentlicht seit 1988 mit einer Sondergenehmigung regelmäßig Vorhersagen zum Ausgang der US-Präsidentenwahlen, die verlässlicher als Meinungsumfragen sind. Prognosemärkte versuchen über den Handel mit Kandidaten-Aktien politische Trends als Angebot und Nachfrage abzubilden. Wegen dieser Prognosefähigkeit hätten die Derivate auch eine Absicherungsfunktion für Unternehmen, so die Nadex. Wirtschaftszweige mit Abhängigkeit von der öffentlichen Hand seien in der Lage, ihre Geschäftspolitik rechtzeitig anzupassen, sollte ein Politikwechsel anstehen. Von Glücksspiel, so Nadex-Justitiar Timothey McDermott, könne somit keine Rede sein.
Sollte die Nadex ihre Wahl-Derivate bekommen, wäre dies sicher keine Revolution für den amerikanischen Anlegermarkt. Die Börse ist winzig im Vergleich zum Platzhirsch, der Chicago Merkantile Exchange. Im Jahr 2011 wurden dort mehr als 13 Millionen Kontrakte pro Tag gehandelt. Die Nadex gibt ihren Gesamthandel für 2011 mit rund einer Million Derivaten an. Sie richtet sich vorrangig an Privatanleger, die bereits für 100 Dollar ein Depot eröffnen können. Die Wahlwetten an einer regulierten Börse könnten jedoch ein erster Schritt dazu sein, dass sich Prognosemärkte auf politische Ereignisse zu einem ernstzunehmenden Marktsegment entwickeln. Bis dato müssen sich Interessenten mit akademischen Kleinbörsen oder den zahllosen Wettbörsen des Internets, wie der Intrade begnügen.
In Deutschland sind Wahl-Derivate kein Thema. An der Stuttgarter Börse, der größten Derivatebörse Deutschlands, gibt es sie nicht. An solche Papiere werde kein Gedanke verschwendet, heißt es dort. Auch der Deutsche Derivateverband und die Deutsche Bank beschäftigen sich nicht mit Wahl-Derivaten. Hermann-Josef Tenhagen von der Zeitschrift „Finanztest“ hält sie allerdings für keine ganz abwegige Idee: „Wenn solche Wahl-Derivate helfen, dass sich mehr Menschen mit politischen Prozessen auseinandersetzen, kann man sich das als Staatsbürger wünschen – eine Anlage sind sie aber nicht.“

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Überleben – Krisenkommunikation für Politiker. Das Heft können Sie hier bestellen.