„Wir werden hier offensichtlich an der Nase herumgeführt“, schoss CDU-Chef Friedrich Merz im Frühjahr gegen Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD). Zwar mochte er die Frage, ob er ihren Rücktritt fordere, nicht mit einem klaren Ja beantworten. Im Interview mit der Redaktion von 1und1, die den News-Bereich der großen Mailanbieter Gmx und Web.de bespielt, sagte der Oppositionsführer aber doch: „Lange geht das nicht mehr gut.“
An diesem Apriltag sprach Deutschland über ein Zitat von Merz. Gefallen war es aber nicht beim 1und1-Interview, sondern in der ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“. Dort stimmte Merz die Deutschen auf schwierige Zeiten ein: „Wir haben wahrscheinlich den Höhepunkt unseres Wohlstandes hinter uns.“ Das 1und1-Interview blieb von der Medienlandschaft weitgehend unbeachtet.
Warum interessiert sich niemand für die Portale Gmx und Web.de, warum werden sie nie zitiert? Thomas Rebbe lächelt, als ich ihn das frage. Er ist der Chefredakteur der Redaktion, die von München aus nicht nur das Portal des Internetanbieters 1und1 bespielt, sondern auch dessen E-Mail-Portale Gmx und Web.de „Ich mache Journalismus nicht für Zitate-Rankings, sondern für die Menschen“, sagt er – was man eben so sagt, wenn man in solchen Rankings nicht auftaucht, denke ich. „Das klang jetzt ziemlich vorbereitet“, bohre ich weiter. „Nun, wenn die Frage so erwartbar war“, kontert Rebbe. „Medien und Politik beschäftigen sich mit sich selbst“, sagt er. „Wenn ich auf die Straße gehe und mit den Leuten rede, fragt mich doch kein Mensch nach Zitate-Rankings.“
Große Reichweite
Das Interview findet in einem kleinen Büro im siebten Stock eines Turms am Sapporobogen in München statt. Später werden wir noch auf die Dachterrasse fahren, wo man einen Blick auf den benachbarten Olympiapark und die Alpen hat, vor denen die beiden Türme des Liebfrauendoms in die Höhe ragen. „Hier oben führen wir gerne Bewerbungsgespräche durch“, sagt Rebbe mit einem Augenzwinkern. Keine schlechte Idee.
Rebbe ist seit zwölf Jahren der Chefredakteur der 1und1-Redaktion. Seinen festen Arbeitsplatz in der Redaktion kann man kaum erraten. Es ist ein schmuckloser Schreibtisch mitten im Großraum. Kein geräumiges Chefbüro, keine Extravaganzen wie ein Spielzeugporsche oder ein Militärfeldbett, die sich (Ex-)Kollegen in Berlin ins Chefbüro stellten.
Um die Reichweite und Relevanz seiner Redaktion zu ermessen, hilft ein Blick auf einschlägige Besucherstatistiken. Bei den IVW-Nutzungsdaten verzeichnen die Portale 1und1, Gmx und Web.de in der Kategorie „Nachrichten“ zusammengefasst rund 216 Millionen Besuche pro Monat. Das kann nur das Contentangebot von T-Online mit rund 223 Millionen monatlichen Visits überbieten. Die News des Spiegel stehen demgegenüber mit etwa 141 Millionen Visits deutlich zurück.
In einer eigenen Umfrage von 1und1 führt die Tagesschau die beliebtesten Nachrichtenseiten in Deutschland an. 17,2 Prozent der Befragten geben das öffentlich-rechtliche Portal als ihre Hauptnachrichtenquelle an. Direkt dahinter folgt das eigene Angebot Web.de und Gmx, die 15,6 Prozent der Befragten nutzen. Erst dann folgen T-Online und Ntv mit jeweils 10,8 Prozent. In Michael Endes „Jim Knopf“ gibt es einen Scheinriesen: ein Mann, der aus der Ferne gigantisch erscheint und sich bei näherem Hinsehen als normal groß entpuppt. Bei der 1und1-Redaktion ist es umgekehrt: Sie erreicht viele Millionen Menschen, die sich bei den Mailanbietern Gmx und Web.de einloggen, um ihre E-Mails zu lesen – wenn sie nicht vorher auf einen der Nachrichten-Teaser klicken.
Auf dem Schirm der Politik
Die enorme Reichweite der Redaktion hat sich langsam bis in die Politik herumgesprochen. Der ehrgeizige Mitbewerber T-Online, früher ebenfalls vor allem ein Mailanbieter, dessen News-Angebot jetzt von Ströer entwickelt wird, musste bei Anfragen noch lange erklären, dass es sich bei ihm jetzt um ein seriöses Medium handele. Rebbe stand vor ähnlichen Problemen. „Wir mussten früher eine Seite mit Kennzahlen schicken“, sagt er. „Heute ist das nicht mehr nötig.“
Die Parteizentralen haben die neue Abspielfläche auf dem Schirm. Über Gmx und Web.de könne man viele Millionen Menschen erreichen, die man sonst nicht erreiche, heißt es aus dem Konrad-Adenauer-Haus. Auch SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert sagte kürzlich im Zeit-Podcast „Alles gesagt“, man erreiche die Nation heute eben nicht mehr mit einem Interview in einer großen Sonntagszeitung, wenn nicht Zitate daraus auch auf den Portalen der Mailanbieter Gmx, Web.de und T-Online laufen würden, wo „viel mehr Leute unterwegs“ seien.
Für ihre Interviews bekommt die Redaktion zunehmend große Namen. Neben CDU-Parteichef Friedrich Merz gab auch Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ein Interview. Auch Grünen-Parteichefin Ricarda Lang traf man zum Gespräch. Die Initiative dazu geht aber noch immer von der Redaktion aus. „Die Idee, Merz und Spahn zu interviewen, kam von uns“, sagt Rebbe. Die Politik scheint noch überwiegend traditionelle Wege zu gehen, um Botschaften in die Welt abzusetzen. Auch bei der Bundesregierung scheint es noch Vorbehalte zu geben. Bisher hat noch kein Bundesminister mit 1und1 gesprochen.
Führung aus der zweiten Reihe
Sollte sich das ändern, werden sie es wahrscheinlich nicht mit dem Chefredakteur zu tun bekommen. Während bei anderen Medien ab einer bestimmten Politiker-Hierarchiestufe unvermeidlich auch der Chefredakteur fürs Gesprächsfoto mit am Tisch sitzt, hält Rebbe sich zurück. „Ich weiß, dass in vielen Medien der übliche Karriereweg in die Chefredaktion ist, zunächst als Journalist erfolgreich zu sein“, sagt er. „Für mich bedeutet Führung als Chefredakteur, dass ich nicht überall in der ersten Reihe stehen muss.“ Ähnlich wie ein Ärztlicher Direktor nicht mehr im OP steht, koordiniert Rebbe die Redaktion und die Themen. „Bei uns führt derjenige das Interview, der es am besten kann“, sagt er. Am häufigsten ist das derzeit der Hauptstadtkorrespondent Fabian Busch, der seit September in Berlin für die Redaktion präsent ist.
Die Art, wie die Redaktion über Politik berichtet, orientiert sich eng an den Bedürfnissen der Nutzer. Ein Artikel über das unglamouröse Thema Rentenpolitik wird deutlich häufiger geklickt als Er-sagt-sie-sagt-Seifenopern, die das Innenleben der Parteien ausleuchten. Das mag auch damit zusammenhängen, dass viele Köpfe unterhalb der Spitzenpolitik dem breiten Publikum gar nicht bekannt sind.
Auch der Ton unterscheidet sich. Während für andere Medien deftige Pointen das Salz der Berichterstattung ausmachen und Journalisten als meinungsstarke Autoren inszenieren, achtet die Redaktion von Rebbe auf Objektivität und Zurückhaltung. „Die Leserinnen und Leser erwarten von uns in erster Linie eine sehr reaktive neutrale Berichterstattung“, sagt Rebbe. Starke Meinungen stoßen übel auf – viele reagieren allergisch auf das Gefühl, belehrt zu werden.
Was Nutzer wollen
Was die Nutzer wollen, weiß Rebbe ziemlich genau. Kaum eine andere Redaktion in Deutschland dürfte ihre Leserschaft so gut kennen. Wer auf Gmx oder Web.de ein E-Mail-Postfach eröffnen möchte, wird nicht nur nach seinem Geschlecht, sondern auch nach seiner Postleitzahl und seinem Geburtsdatum gefragt. Rebbe öffnet seinen Laptop und ruft ein internes Portal auf. In einer Suchmaske grenzt er einen Personenkreis ein auf männlich, jünger als Jahrgang 2000 im Postleitzahlbereich Münchens. Es erscheint eine Tabelle, die Artikel absteigend nach Beliebtheit aufführt.
Besonders überraschend sind die Ergebnisse nicht: Der beliebteste Artikel rekapituliert den Europapokal-Sieg der Frankfurter Eintracht tags zuvor. Der Nutzen der Zahlen liegt trotzdem auf der Hand: Während andere Medien sich den Kopf darüber zerbrechen, wie man möglichst viele unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen zielgerichtet erreichen kann, kann Rebbes Redaktion das einfach nachmessen. Das ist besonders wichtig, weil seine Redaktion mehr noch als jede andere auch Menschen erreicht, die sich selbst nicht als „nachrichtenaffin“ bezeichnen. Der Bauarbeiter und die Krankenschwester, über die Politiker im Wahlkampf gerne sprechen – sie lesen Gmx und Web.de.
Damit sie das auch gerne tun, wird erfolgreiche Arbeit belohnt. Während andere Redaktionen mit Bezahlmodellen Mitarbeiter belohnen, für deren Artikel besonders häufig zahlungspflichtige Abonnements abgeschlossen werden, zahlt 1und1 einen flexiblen Gehaltsanteil an Redakteure aus, wenn die Nutzerzufriedenheit steigt. Um das Angebot auf der Startseite passgenau einzurichten, zeigt ein Bildschirm im Newsroom eine Liste von Artikeln, die aktuell ausgespielt werden. Nur wenn die Farben für beide Geschlechter und das gesamte Altersspektrum relativ ausgeglichen verteilt aufleuchten, ist Rebbe zufrieden.
Starkes Feedback
„Ich weiß, dass unsere Arbeit dadurch besser wird“, sagt Rebbe. „So können wir unser Angebot über Stellschrauben laufend verbessern.“ In A-B-Tests wird Nutzern eine personalisierte und eine nicht personalisierte Version ausgespielt, um zu prüfen, was besser funktioniert. Die zugehörige App wurde im Haus selbst programmiert. Die Gefahr, den Menschen hierdurch Filterblasen zu bauen, sieht Rebbe nicht. „Unsere Tests zeigen, dass es ein Irrglauben ist anzunehmen, ein exakt zugeschnittenes Paket würde am besten funktionieren“, sagt er. „Der Aspekt, den Horizont zu erweitern, ist wichtig und steigert übrigens auch die Zugriffe.“ So werden sehr häufig Artikel geklickt, die andere Nutzer aktuell lesen – und eben nicht von einem Algorithmus als passend vorgeschlagen werden. „Es ist aus redaktioneller, aber auch aus ethischer Perspektive wichtig, Filterblasen zu vermeiden“, sagt Rebbe.
Die Leserschaft ist für die Redaktion aber viel mehr als nur ein gewaltiger Datensatz. Ob Themenwahl oder Fragen in Interviews: Überall stecken Ideen und Anregungen der Nutzer drin. Neben Tausenden Kommentaren auf Social-Media-Kanälen gibt es unter jedem Artikel die Möglichkeit, Feedback an die Redaktion zu spiegeln. „Etwa 800 bis 900 Mails kommen nur über diese Funktion pro Tag herein“, sagt Rebbe.
Daraus haben sich konkrete Änderungen für die Berichterstattung ergeben. „Bei Fotos aus dem Ukraine-Krieg schreiben wir jetzt häufig Ort und Datum in die Bildunterschrift, wenn es für das Verständnis wichtig ist“, sagt Rebbe. Anlass dafür war ein Leserbrief, der Unbehagen darüber ausdrückte, wie häufig solche Fotos aus dem Kontext gerissen werden.
Erklären, erklären, erklären
„Die Rückmeldungen haben uns außerdem gezeigt, dass wir unsere Arbeit viel gründlicher erklären müssen“, sagt Thomas Rebbe. Viele hätten beispielsweise keine konkrete Vorstellung davon gehabt, was eine politische Analyse ist. Sie verbanden mit dem Begriff ein naturwissenschaftliches Untersuchungsverfahren. Seitdem erklärt die 1und1-Redaktion in kleinen Infoboxen das journalistische Genre, das ein Artikel vertritt.
Die Transparenzoffensive dient aber nicht nur dazu, die eigene Arbeit zu verbessern, sondern hat auch einen ernsten Hintergrund. In Vertrauens-Rankings belegen die Portale Gmx und Web.de neben anderen alternativen Nachrichtenquellen die hinteren Ränge. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass die Nachrichtenportale als Teil des 1und1-Unternehmes natürlich auch eigene Produkte bewerben. „Es gibt eine strikte Trennung zwischen Produkten und redaktionellen Inhalten“, betont Rebbe. „Ich muss und musste nie um redaktionelle Unabhängigkeit kämpfen.“
Scholz? „Abwarten.“
Transparenz und Unabhängigkeit sind gerade auch deshalb so wichtig, weil 1und1 mit seinem Nachrichtenangebot auch die Menschen erreichen kann, die sich im Rahmen der Coronakrise und des Russlandkriegs aus dem gesellschaftlichen Diskurs verabschiedet haben. Rebbe verspürt deshalb eine besondere Verantwortung. Um das zu unterstreichen, hat er im Rahmen der „Journalism Trust Initiative“ nach Standards der Reporter ohne Grenzen durch das Beratungsunternehmen Deloitte zertifizieren lassen, dass die redaktionellen Angebote von Gmx und Web.de als vertrauenswürdige Nachrichtenquellen gelten.
Außerdem erklärt die Redaktion in kurzen Artikeln in einem eigens dafür eingerichteten Bereich ihre Arbeit – etwa, woher die Inhalte kommen, was eine Kolumne ist oder wie Privatsphäre und öffentliches Interesse in der Berichterstattung gegeneinander abgewogen werden. Alle zwei Wochen trifft sich dazu eine Gruppe, die Nutzerkritik diskutiert und entscheidet, ob sie in einem eigenen Artikel im Transparenzbereich beantwortet werden muss.
Künftig möchte Rebbe die Leser noch stärker einbinden. „Wir planen mehr Content direkt im Mailbereich nach dem Login“, sagt er. „Andere deutsche Medien sehe ich gar nicht als Konkurrenz. Deren viel gelesene Newsletter kommen ja per E-Mail, sie werden also bei uns gelesen. Unsere Konkurrenz heißt Facebook und Google.“ In der Hauptstadt will 1und1 präsenter werden, derzeit ist eine weitere Stelle in Berlin ausgeschrieben – und das Team könnte noch weiterwachsen. „Unser Fokus auf Politikberichterstattung hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen“, sagt Rebbe. „Wir merken, dass dies die Nutzerbindung steigert, während Unterhaltungsthemen flüchtiger sind.“ 55 Prozent der Visits liegen heute im Nachrichtenbereich. Vor drei Jahren waren es noch 40 Prozent. Vielleicht klappt es ja auch bald mit einem Kanzlerinterview. „Abwarten“, sagt Rebbe. Mal sehen, ob er sich dann nicht doch einmal dazusetzt, um zu sehen, ob Kanzler Scholz wirklich keinen Kaffee anbietet.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 139 – Thema: Politische Events. Das Heft können Sie hier bestellen.