Die Politikberatung durchläuft derzeit einen fundamentalen Wandel. Bestimmten vor 15, 20 Jahren noch Adressbuch-Lobbyisten alter Schule das bundesrepublikanische Verständnis von Politikberatung, drängen derzeit mit großer Macht KI- und datenbasierte Beratungsansätze in den Vordergrund. Angesichts zunehmender Komplexität und immer größeren Informationsmengen setzen sich in den Politik- und Kommunikationsabteilungen der Unternehmen zwei Erkenntnisse durch: ohne Daten geht es nicht mehr. Und noch viel wichtiger: Mit dem engmaschigen Einsatz digitaler Werkzeuge und Technologien rückt Politikberatung in Echtzeit immer näher. Die aktuellen Megatrends in der Technologielandschaft sorgen für mehr Geschwindigkeit, ein tieferes Verständnis verdeckter Zusammenhänge und Muster, aber auch ein genaueres Bild vom tatsächlichen Einfluss einzelner Politikerinnen und Politiker.
Die Herausforderung für Beraterinnen und Berater ist alles andere als klein. Corona und der russische Überfall auf die Ukraine zeigen, dass die Politik selbst grundlegende Entscheidungen in Rekordzeit treffen kann. Die Krisen haben einen Trend befördert, der sich bereits vor Corona abzeichnete. Der politische Prozess beschleunigt sich. Die durchschnittliche Dauer eines Gesetzgebungsverfahrens verringert sich seit Jahren stetig – und das bei steigender Komplexität. Wer also in der politischen Debatte relevant bleiben will, muss sich den gestiegenen Anforderungen des politischen Prozesses stellen und seine Arbeit konsequent auf eine digitale Basis stellen. Die Finanzwelt hat das schon vor 40 Jahren getan. Heute kann die Branche nahezu in Echtzeit komplexeste Zusammenhänge nicht nur erfassen, sondern unmittelbar in Handlungen umsetzen.
Was sind die Entwicklungen, die die Politikberatung von morgen prägen werden? Welche Technologien und Werkzeuge sollten Politikberater heute nutzen, um ihre Anliegen besser in die Politik zu tragen? Und welche Produkte produzieren vielleicht nur kurzfristige Hypes und versprechen mehr, als sie am Ende halten können? Patentlösungen gibt es nicht. Momentan ist es entscheidend, die richtigen Tools auszuwählen, zu kombinieren und mit ihnen seine Arbeitsprozesse zu beschleunigen. Wir haben uns die Vielzahl an Werkzeugen und Technologien angesehen und bewertet, auf die Berater derzeit zurückgreifen können. So ist eine digitale Landkarte für die Politikberatung entstanden, die wir laufend auf Basis neuer Angebote und Entwicklungen aktualisieren.
Die Megatrends
- KI-basierte Inhaltsanalysen
Sprache, Bilder, Video- und Audioquellen können heute durch elektronische Datenverarbeitung natürlicher Sprachen (Natural Language Processing, NLP) ohne menschliches Zutun inhaltlich erfasst und analysiert werden. In der angloamerikanischen Wirtschaft wird diese Technologie bereits eingesetzt. Deutschsprachige Systeme befinden sich hingegen noch in der Entwicklungs- und Erprobungsphase.
Die Vorteile der Technologie liegen auf der Hand: Selbst riesige Datenmengen können so in kurzer Zeit les- und analysierbar gemacht werden. Beispielweise durch die 2013 in London gegründete, KI-Plattform Signal AI, die Augmented Intelligence as a Service anbietet. Basierend auf Millionen von Datenquellen ist die KI von Signal AI in der Lage, abstrakte kommunikative Konzepte zu verstehen und abzugrenzen und den Nutzern die Ergebnisse maschineller Auswertungen ergänzend zu ihrem eigenen menschlichen Urteilsvermögen zur Verfügung zu stellen. Zur stetig wachsenden Nutzergemeinde der Plattform zählen namhafte Strategie- und PR-Beratungsunternehmen sowie Finanzdienstleister. Es ist zu erwarten, dass Anbieter KI-gestützter Inhaltsanalysen künftig eine größere Rolle in der politischen Technologielandschaft einnehmen werden.
- Netzwerk-Analysen durch Graphentechnologie
Netzwerke prägen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft seit eh und je. Netzwerke können einfach zu verstehen sein wie ein einzelnes Social-Media-Konto. Sie können aber auch so komplex wie das Internet selbst werden. Logischerweise steigt mit der Komplexität eines Netzwerks die Schwierigkeit, Zusammenhänge zu erkennen. Herkömmliche Datenmodellierungen stoßen angesichts großer Datenmengen oft an ihre Grenzen. Der Trick: Graphen-Algorithmen ermöglicht es, Netzwerke zu visualisieren und so versteckte Zusammenhänge und Muster sichtbar zu machen. Netzwerkanalysen sind bereits etabliert bei der Beobachtung sicherheitsrelevanter Netzwerke, zur Abwehr von Cyberangriffen oder der Bekämpfung von Finanzbetrug. Im politischen Feld helfen Netzwerkanalysen dabei, Beziehungen besser zu verstehen und sichtbar zu machen. Mit Hilfe der Zentralitätsanalyse können zum Beispiel die Politikerinnen und Politiker mit der höchsten Relevanz innerhalb eines politischen Prozesses (oder gar des Systems) – samt ihrer Beziehungen – ermittelt und sichtbar gemacht werden.
Neo4J etwa bietet neben anderen Technologieanbietern wie CosmosDB und MongoDB als Einstiegsprodukt einen leichten Zugang zu Graphdatenbanken und demonstrierte zuletzt die praktische Einsatzfähigkeit bei der automatisierten Betrugsaufdeckung bei Zurich Schweiz. Keine Frage: Die Graphen-Technologie wird eine der prägenden Technologien der nächsten Jahre werden.
Recht
Die Beobachtung rechtlich relevanter Vorgänge ist für das Verständnis eines politischen Themenfeldes essenziell. Die Kenntnis der historischen Genese bestimmter Vorschriften und Gesetze lässt Rückschlüsse auf mögliche künftige Initiativen zu. Die juristische Datenbank buzer.de bietet eine umfassende Rechtsnormdokumentation des deutschen Bundesrechts. Ein verbreitetes Rechtsinformationssystem ist dejure.org, das Gesetze und gerichtliche Entscheidungen verknüpft und eine umfassende Rechtsprechungsdatenbank mit Volltexten, Besprechungen und Presseberichten bereitstellt. Das Justizportal justiz.de des Bundes und der Länder liefert Orts- und Gerichtsverzeichnisse, öffentliche Bekanntmachungen und eine Übersicht zu verschiedenen Onlinediensten der Justizverwaltung. Spannendste Entwicklung im Bereich Legal Tech: Bryter bietet als Anbieter von sogenannten No-Code-Lösungen für Legaltech-Applikationen auch viel Potenzial für die Digitalisierung von Verwaltungsprozessen.
Politikmonitoring
Das Politikmonitoring gehört zum kleinen Einmaleins der Politikberatung. Es ist in der täglichen Politikarbeit unerlässlich. Kein Wunder, dass die Zahl der angebotenen Tools laufend steigt. Polit-X und Policylead helfen dabei, den Politikbetrieb systematisch zu beobachten, Informationen zu filtern, die relevanten Abgeordneten zu identifizieren und diese Informationen durch Visualisierung aufzubereiten. Polit-X setzt dabei vermehrt auf die grafische Aufarbeitung von Informationen. FiscalNote EU Issue Tracker ist ein großer Player mit einer hohen Fokussierung auf integrierte Analyse-Funktionalitäten im englischsprachigen Raum, welcher zunehmend seinen Fokus auf das EU-Monitoring legt. Bis jetzt ist das Angebot noch stark limitiert, wenn die Arbeitssprache nicht Englisch ist. Generell gilt bei neuen Tools: Sprachbarrieren sind eine der größten Markteinstiegshürden für neue Anbieter auf Internationalisierungskurs.
Transparenz
Die Digitalisierung ermöglicht es der breiten Öffentlichkeit, jederzeit auf Parlamentsdebatten, Wahlprogramme oder Umfragen zuzugreifen. Politische Entscheidungsprozesse werden transparenter. Initiativen wie abgeordnetenwatch.de oder Tools wie Democracy ermöglichen es mittlerweile, Abgeordnete und Parteien anhand ihrer politischen Aussagen zu analysieren und zu bewerten. Die digitale Alphabetisierung von Bürgerinnen und Bürgern wird den Bedarf für Transparenztools künftig vergrößern und deren Weiterentwicklung forcieren – und damit auch die Relevanz für die Politikberatung erhöhen.
Medienmonitoring
Die Debatte um einzelne Themen wird seit Jahren immer vielschichtiger geführt. Sowohl die Anzahl der Akteure als auch die Medien, in denen die Debatten geführt werden, steigen ständig. Auch wenn die klassischen Leitmedien immer noch eine zentrale Rolle einnehmen, prägen z.B. Twitter, Paid-Newsletter und Podcasts die Diskussion zunehmend. Die Beiträge all dieser Kanäle zu sichten, ordnen und relevante Akteure und deren Positionen zu identifizieren wird dadurch nicht leichter, dass diese Debatte in einer unglaublich hohen Geschwindigkeit stattfindet. Wann zuvor hat es ein Policy-Reversal eines Bundesministers innerhalb von Stunden nach einem Talkshow-Auftritt und einer hitzigen Twitter-Debatte gegeben? Diesen konstanten Strom an Beiträgen, Meinungen und Positionen zu ordnen hat sich eine vielfältiger werdende Landschaft mit Beobachtungsdiensten zur Aufgabe gemacht. Neben den klassischen großen Medienbeobachtern gibt es neue Anbieter, die durch innovative technische Lösungen oder den klaren Fokus auf ein bestimmte Nische überzeugen wollen.
Tools zu Social-Media-Listening ermöglichen Einblicke in die öffentliche Perzeption einer Marke, eines Themas oder eines einzelnen Beitrags. Aufgrund des globalen Charakters der sozialen Medien erweisen sich Tools in diesem Bereich als extrem wirkmächtig. Mit Hilfe von maschinellem Lernen ist es möglich, Text-, Audio- und Videoquellen besser und schneller zu verarbeiten und für die Analysetools wie Signal AI nutzbar zu machen. Diese funktionieren mit KI, welche nicht nur auf Basis von Stichwortlisten, sondern mit Konzeptverständnis arbeiten. Brandwatch, Talkwalker und Meltwater ermöglichen es, Social-Media-Kanäle zu beobachten. Die Tools in diesem Bereich liegen dicht beieinander; sie unterscheiden sich vor allem in den abgedeckten Kanälen und Plattformen. Aufgrund eingeschränkter Schnittstellen gestaltet es sich für alle Anbieter gleichermaßen schwierig, LinkedIn und Instagram-Stories in die Auswertungen zu integrieren. Unicepta sorgte durch die schrittweise Umstellung von Talkwalker auf eine eigene Social-Listening-Lösung für Aufsehen in der Branche.
Meinungsforschung
Den Puls der Republik fühlt die Markt- und Meinungsforschung. Ob Sonntagsfrage oder die Meinung zur Gaspreisumlage, erfasst und veröffentlicht werden diese Daten von Forsa, infratest-dimap oder Civey. Die Organisationen unterscheiden sich insbesondere in ihrer Methodik. Während bekannte Umfrageinstitute weiter klassische Telefonbefragungen nutzen, setzen neue Spieler am Markt wie Civey oder YouGov auf Online-Panels. Während den meisten Menschen die Methodikfragen egal sein dürften, fechten die Anbieter die Debatte, welche Methode valide Ergebnisse liefert, durchaus handfest bzw. gerichtlich aus. Kern der Kontroverse ist, über wen repräsentative Aussagen getroffen werden können, wenn nicht alle Menschen die gleiche Chance haben, an einer Befragung teilzunehmen. Denn je nach Methode werden entweder Menschen ohne klassischen Telefonanschluss oder ohne Online-Zugang ausgeschlossen. Für eine tiefere Diskussion fehlt hier der Platz. Es sollte jedoch vor der Entscheidung für einen Anbieter geprüft werden, ob die jeweilige Methodik für das Erkenntnisinteresse sinnvoll ist.
Die dargestellten Tools ermöglichen es, gesellschaftliche und politische Meinungen online zu erheben und detailliert aufzuzeigen. Wahlprognosen, Umfragen und Studien können mit dem richtigen Tool ebenfalls online verfolgt werden; diese Entwicklung erleichtert die Teilhabe an den politischen Prozessen. Die Meinungsforschung entwickelt sich immer mehr zum Werkzeug in der Argumentations- und Strategieentwicklung. In Zukunft wird es darauf ankommen, Fragestellungen und Zielgruppen präzise abzugrenzen und Antworten idealerweise in Echtzeit zu liefern.
Visualisierung und Data Science
Politikberater müssen immer komplexere Sachverhalte verstehen und darstellen. Dabei greifen mehr und mehr Organisationen auf Data-Science-Ansätze zurück und bedienen sich moderner Business-Intelligence-Lösungen zur Visualisierung und zum Monitoring ihrer politikrelevanten Daten. Bei großen Textmengen, ob Medienartikel oder Stellungnahmen zu Gesetzen, hilft Natural Language Processing, um z.B. inhaltliche Positionen automatisiert zu extrahieren und in Verbindung miteinander zu setzen. Graph-basierte Netzwerkanalyse-Tools wie Neo4j helfen z.B., politische Netzwerke auf neuartige Weise zu analysieren und Verbindungen zwischen einzelnen Teilnehmern und Teilnehmerinnen transparent zu machen. Auch durch das Erfassen und Auswerten der eigenen Arbeitsschritte können Organisationen Chancen zur Optimierung ihrer Prozesse finden – oder zumindest feststellen, wo die Flaschenhälse sind. Während viele Techniken noch „Handarbeit“ sind, bieten inzwischen viele Firmen (u.a. Azure, AWS, Google) auch visualisierte Aufbereitungen in Form von Grafiken oder Dashboards an. Tools wie Tableau oder PowerBI können durch die Einbindung und Visualisierung der Daten zu ihrem besseren Verständnis beitragen. So machen sie Informationen für Personen auch ohne tiefgreifendes technisches Wissen verständlich. Die Visualisierung von Daten zur Unterstützung von Argumentation und Strategieentwicklung entwickelt sich zu einer Schlüsselkompetenz von Politikberatern.
Produktivitätssoftware
Auch wenn ihr vielleicht der „Sexyness-Faktor“ fehlt – die richtige Produktivitätssoftware kann für Politikberater ein großer Effektivitätsmultiplikator sein. Parallel und mobil an Dokumenten arbeiten, Visualisierungen ohne große Excel-Kenntnisse erstellen oder aufwendige Vorgänge im Veranstaltungsmanagement automatisieren, Tools wie Office 365, GSuite, Airtable oder Datawrapper können viel Zeit sparen. Hier ist natürlich der richtige Mix zu beachten, denn auch wenn die Interoperabilität immer größer wird – noch spricht nicht jedes Tool mit jedem.
Campaigning
Gerade bei politischen Kampagnen besteht in Deutschland großer Nachholbedarf in Sachen Digitalisierung. Kampagnen, in denen der digitale Raum nur als Verlängerung der analogen Welt gedacht wird, sind leider oft noch an der Tagesordnung. Entscheidend für den Erfolg moderner Wahlkämpfe ist es, dass Parteien und Fraktionen ihre Kandidaten und Kandidatinnen regelmäßig mit Social-Media-Inhalten, relevanten Zielgruppen und Updates versorgen können, die diese dann unkompliziert und eigenständig ausspielen können. Mit Civical ist es möglich, Inhalte für digitale Kampagnen zu erstellen, zu planen und zu veröffentlichen. Gleichzeitig bietet Civical Zielgruppen für Facebook und Instagram auf Wahlkreisebene zu den relevanten politischen Themenfeldern an. Tools wie Nationbuilder oder CamBuildr bieten ein Ökosystem für das Erstellen von Websites, Landingpages und Mailing-Systemen für digitale Kampagnen. Mit der Software ecanvasser, die sich in Nationbuilder integrieren lässt, können beispielsweise Tür-zu-Tür-Kampagnen optimiert werden.
Jobbörse
Technisch sicherlich nicht ganz auf selbem Niveau aber in Zeiten des Fachkräftemangels nicht weniger wichtig sind spezialisierte Jobbörsen mit denen recht zielgenau Bewerber angesprochen werden können, um die Streuverluste klassischer Jobportale zu vermeiden. Ob politjobs, die P&K Jobbörse oder der Stellenmarkt des PR Report – digitaler erreicht man potenzielle KollegInnen nur, wenn man selbst Werbeanzeigen auf Facebook etc. einstellt.
Digitale Beteiligung
Politik findet immer mehr im digitalen Raum statt. Politikerinnen und Politiker verbreiten Informationen online. Bürgerinnen und Bürger nutzen digitale Räume, um sich zu informieren, Interessensgruppen zu bilden, Transparenz einzufordern oder sich an Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Plattformen wie change.org, openPetition ermöglichen schon seit Jahren, unkompliziert Petitionen zu starten. Andere Plattformen und Apps wie citizenlab oder democy bieten eine direkte Bürgerbeteiligung. Bürgerinnen und Bürger können über die Apps und Plattformen ihre Meinung zu ausgewählten Themen und Projekten abgeben, neue Ideen und Themen einbringen, Probleme kommunizieren oder an Umfragen und Abstimmungen teilnehmen. Bisher können die Tools in diesem Bereich hauptsächlich Meinungen erfassen und abbilden. Die Tools könnten künftig aber auch für die Meinungsforschung weiterentwickelt werden.
Digitale Wahlen
Auch wenn es noch dauern wird, bis Abgeordnete digital gewählt werden können: Viele Organisationen müssen selbst immer wieder Wahlen abhalten, ob von Vorsitzenden, Beauftragten oder Parteivorsitzenden. Nicht nur mögliche Corona-Regeln machen digitale Wahlen attraktiv, sie können auch Reise- und Veranstaltungskosten sparen. In den letzten Jahren hat sich eine vielfältige Landschaft an Anbietern herausgebildet. Polyas war bspw. die Basis sowohl für die CDU-Wahlen zum Parteivorsitz als auch für die Urabstimmung der Grünen über den Koalitionsvertrag.