"Wir sind alle Sleeper"

Akzelerationismus

Herr Avanessian, Akzelerationismus bedeutet Beschleunigung. Befürworten Sie, dass alles immer schneller wird?

Auch wenn es der Begriff vermuten lässt: Unser Anliegen ist nicht, alles zu beschleunigen. Unsere Welt ist schon schnell genug. In der akzelerationistischen Philosophie geht es darum, dass wir die Beschleunigung unserer Gesellschaft aber nur dann positiv steuern können, wenn wir auf der Höhe unserer technologischen Möglichkeiten operieren und nicht versuchen, vor der gegebenen Geschwindigkeit zu flüchten. Wir müssen die Art, wie Politik funktioniert, radikal umdenken. Akzelerationismus bedeutet, in die Zukunft zu sehen, die technologischen Veränderungen anzunehmen und zu versuchen, ihnen eine positive Wendung zu geben. Technologische Beschleunigung muss gesellschaftliche Beschleunigung nach sich ziehen.

Und das bedeutet für die Praxis?

In der Arbeitspolitik betrifft das etwa die Zunahme an Robotern und Automatisierung. Wir wissen, dass es diese Entwicklung gibt und müssen eine verantwortungsvolle Politik gestalten, die sie antizipiert und nicht eine, die den Rheinischen Kapitalismus oder die Sozialdemokratie der siebziger Jahre feiert und davon schwadroniert, dass wir wieder Vollbeschäftigung haben werden. Gleiches gilt für die Klimapolitik. Ich habe kürzlich in Los Angeles unterrichtet und dort spiegeln Konsum und Fortbewegung die Gründe des Klimawandels besonders deutlich. Gleichzeitig entstehen aber auch interessante Ansätze, wie sich die Automobilindustrie verändern kann. Wie können wir die neuen Möglichkeiten der Logistik nutzen, um andere Formen des Transports zu ermöglichen? Wie profitieren wir etwa vonkünstlicher Intelligenz und organisieren die Infrastrukturen unserer Städte besser – nicht nur als Smart Cities im Interesse weniger Unternehmen? Es bringt nichts, sich lokal zu engagieren und beispielsweise an einer Stelle verstärkt Wind­energie einzusetzen, wenn diese nicht gespeichert und transportiert werden kann. Es bedarf einer universellen, globalen Lösung.

Wie viel von dem, was wir als Science Fiction à la Matrix oder Blade Runner kennen, könnte sich in 50 Jahren in der Realität durchgesetzt haben? Gibt es einen Film oder ein Buch, das Sie für eine kluge Vision halten?

Im Film “Minority Report” aus dem Jahr 2002 geht es darum, wie unsere Gesellschaft durch Vorhersagen über die Zukunft geprägt wird. Er basiert auf einer Novelle von Philip K. Dick aus den fünfziger Jahren und dreht sich um Präkognition, die Voraussicht künftiger Ereignisse. Und so funktio­niert unsere Wirtschaft ja heute: Teils automatisierte, von Algorithmen produzierte Zukunftsprognosen haben konkrete Auswirkungen auf die Gegenwart. Und das betrifft nicht nur bestimmte Aktienpreise sondern die Bewertung ganzer Staaten durch diverse Rating-Agenturen. Oder nehmen Sie die Kriegsführung: Die Bush-Doktrin ist eine des Präemptivschlags. Es wird nicht mehr abgeschreckt oder gedroht, stattdessen nimmt man die Zukunft vorweg und handelt so, als ob der andere schon gehandelt hätte.

Im “Manifest des Akzelerationismus” schreiben Nick Srnicek und Alex Williams: “Zum wirksamen politischen Handeln gehören ebenfalls (wenn auch selbstverständlich nicht nur) Geheimhaltung, Vertikalität und Exklusion”. Zurzeit geht der Trend in der politischen Kommunikation allerdings in Richtung Transparenz und basisdemokratischer Prozesse. Glauben Sie tatsächlich, es wird zu einer Umkehrung kommen?

Das Manifest ist zwei Jahre alt und keine Glaubensdoktrin. Was die polemische Stoßrichtung betrifft, so ist diese gegen die Glorifizierung von allem, was transparent oder horizontal ist, gerichtet, besonders in der Linken. Nehmen Sie zum Beispiel die Occupy-Bewegung. Ob ein solches Vorgehen wirklich etwas verändert, bezweifle ich. Die Geheimdienste sind die einzigen Player, die dem Kapitalismus noch so etwas wie Widerstand entgegensetzen. Vielleicht brauchen wir eine neue Art von tatsächlich demokratisch organisierten Geheimdiensten, die sich deren Technologien und Methoden aneignen, sie aber auf gewinnbringende demokratische Weise einsetzen. Wir sollten bestehende effiziente Institutionen umprogrammieren. Politische Gremien, wie sie heute aufgestellt sind, haben kaum eine Wirkung, weil sie technologisch nicht auf der Höhe sind.

Sie haben einmal in einem Interview gesagt: “Ich begrüße es, dass es immer mehr Leute gibt, die keine Lust aufs Flugblätterverteilen haben, es aber als politisch empfinden, programmieren zu lernen.” Warum?

Man muss auch methodisch auf Augenhöhe mit dem politischen Gegner sein. Wir brauchen heute neue Formen des Widerstands, in Zeiten von NSA und Klimawandel reichen ein paar Demonstranten nicht. Statt ein Che-Guevara-T-Shirt anzuziehen, sollten wir uns lieber Edward Snowden zum Vorbild nehmen. Der wirkt wie ein netter kleiner Bürokrat und entspricht in vielen Dingen nicht dem Prototypen eines Widerstandskämpfers, aber sein Handeln ist effektiv. Wir sind alle in gewisser Weise Sleeper und haben die Macht, Whistleblower zu sein – wenn wir davon absehen, nur in unserem kleinen folkloristischen Feld Wohlfühlpolitik zu betreiben. Das geht nur, wenn wir die globalen politischen Zusammenhänge verstehen und dementsprechend agieren.

Wie viel Hoffnung setzen Sie in die junge Generation, die Digital Natives? Werden die das Steuer herumreißen können?

Natürlich ist das eine Generation, die mit technologischen Möglichkeiten besser vertraut ist, die vielleicht gar nicht auf die Idee kommt, Flugblätter zu verteilen. Das heißt aber noch lange nicht, dass die Digital Natives politisiert sind. Ich bemühe mich, besser zu verstehen, auf welche Art junge Menschen politisch aktiv sind. Unter den Studenten in den USA gibt es zurzeit diverse feministische Gruppierungen und die Bewegung “Black Lives Matter”. Sie organisieren sich im Netz und starten eine Überwachung von unten, indem sie täglich Videos von Polizeigewalt gegen Schwarze posten und leisten damit Widerstand. Diese Entwicklung sehe ich sehr positiv.

Was können Menschen tun, die eine politische Haltung haben aber kein Interesse, digital zu partizipieren?

Wer bitteschön partizipiert denn nicht digital? Wir können doch gar nicht anders, als das zu tun! Vielleicht glaubt so mancher, nicht zu partizipieren und trotzdem sondert er stetig Daten ab und bringt in den sozialen Medien oder wenn er den nächs­ten Flug bucht einen Anteil seines Wissens und Privatlebens ein.

Das ist aber unbeabsichtigte Teilhabe. Sie plädieren jedoch dafür, dass man aktiv programmieren lernt, um sich an politischen Prozessen zu beteiligen.

Ich plädiere dafür, dass wir alle lernen, was das für Technologien sind, die wir so selbstverständlich verwenden und was sie mit uns machen. Ich kann nicht Auto fahren, mich aber nicht dafür interessieren, dass ich damit die Umwelt verschmutze, oder mir ein Apple-Gerät kaufen und dabei ignorieren, was das Unternehmen mit meinen Daten anstellt.

Das machen doch viele, wahrscheinlich sogar der Großteil der Bevölkerung.

Diese Politik des “Ich habe von nichts gewusst” dient aber nicht länger als Entschuldigung. Wer Fragen der Überwachung ausblendet, trägt dazu bei, dass wir uns immer mehr in eine postdemokratische Gesellschaft transformieren, die alle vier Jahre Wahlen nur noch als Spektakel veranstaltet. Es ist unsere Verpflichtung, uns mit Technologien auseinanderzusetzen und uns von unserer Befindlichkeit, lieber im 20. Jahrhundert leben zu wollen, zu verabschieden.

Manche preisen das Internet als Gewinn für die Demokratie, andere, so zum Beispiel der Digitaltheoretiker Jaron Lanier, gehen hingegen davon aus, dass das Netz die Mächtigen nur noch mächtiger macht. Wo stehen Sie in dieser Debatte?

Sie schildern zwei Extreme: Technik-Utopisten, die glauben, wir erlangten in der körperlosen Existenz im Cyberspace die vollendete Freiheit einerseits und andererseits die dystopische Sicht, die davon ausgeht, dass wir in der Cloud alle unsere Daten abgeben und die Kontrolle und Privatheit verlieren. Ich glaube nicht, dass die Technik an sich positiv oder negativ zu verstehen ist. Es geht darum, was wir damit machen. Dennoch, und da stimme ich den Skeptikern zu, haben bisher diejenigen Macht über die Daten, die geheimdienstliche und ökonomische Interessen haben. Unsere Passivität ist da wirklich himmelschreiend. Nur sehe ich Lanier gar nicht so negativ, er macht ja Lösungsvorschläge, zum Beispiel, dass wir uns unserer immateriellen Informationsarbeit bewusst werden und lernen, dafür einen Preis einzufordern.

Die gesellschaftliche Maschinisierung macht vielen Menschen Angst. Was entgegnen Sie Digital-Apokalyptikern?

Veränderung macht immer Angst. Als die ersten Eisenbahnen in einem Tempo von damals 20 Stundenkilometern gefahren sind, ist den Passagieren schlecht geworden und Ärzte haben negative gesundheitliche Auswirkungen prognostiziert. Angst ist als politische Kategorie etwas sehr Bedrohliches. Sie kann kaum dazu führen, dass sich emanzipatorische und rationale Handlungsweisen durchsetzen. Irrationalismen sollte man daher nicht aufwerten. Aber an dieser Stelle versagt die politische Kommunikation: Man könnte, statt Massenarbeitslosigkeit durch Automatisierung als Schreckgespenst zu sehen, auch optimistisch darauf blicken, dass wir uns ja schon längst ein bedingungsloses Grundeinkommen leisten könnten und nur noch drei Stunden täglich arbeiten müssten. Aber das tun die wenigsten Parteien. Akzelerationismus ist dem gegenüber eine optimistische Theorie.

Der linksintellektuelle Philosoph Jean Baudrillard bedauerte 2007 in seinem letzten Text, dass das Menschliche und Subjektive zunehmend verschwinde, während die Maschinen die Rolle des Menschen ausfüllten. Widersprechen Sie ihm?

Ich habe gerade einen Text von ihm gelesen, in dem es um Kalifornien geht und wie sich das Simulatorische in die eigentliche Realität transformiert. Kalifornien umfasst aber nicht nur Disneyland, sondern auch Silicon Valley oder neuerdings Silicon Beach. Wie wir damit umgehen sollten, dass Maschinen dominanter werden, ist eine der entscheidenden Fragen des Akzelerationismus. Ich beantworte sie pragmatisch: Wir haben gar keine andere Möglichkeit, als zu versuchen, diese maschinelle Welt zu steuern. Völlig klar sollte sein, dass wir Mensch und Maschine nicht mehr isoliert voneinander betrachten können, weder auf der industriellen noch auf der alltäglichen Ebene. Es bringt also nichts, über den “Menschen an sich” nachzudenken. Es gibt eine Verschmelzung: Ich muss in ein paar Stunden unterrichten und wenn mir mein I-Phone nicht sagt, wo ich abbiegen muss, um zu meinem Campus zu gelangen, finde ich den Weg nicht.

Sie haben einmal gesagt, Sie wollten eine Zukunft schaffen, die ihren Namen zu Recht trägt. Was meinen Sie damit?

Die Zukunft war einmal eine positiv besetzte Kategorie, wenn man an die Revolutionen und Avantgarden im 19. Jahrhundert denkt. Wenn man heute eine Umfrage machen würde, was die Menschen von ihr erwarten, würden die meisten sagen “Ich hoffe, es wird nicht allzu schlimm”. Die Zukunft ist aber nicht einfach das Morgen im Gegensatz zum Heute, sie sollte darüber hinaus eine positive Aussicht sein. Wie möchten wir in drei Jahrzehnten leben, wie können wir Technologien im besten Sinne dafür einsetzen? Ein solches Bild zu entwerfen, ist unsere politische und gesellschaftliche Aufgabe. Von der Parteipolitik sehe ich sie derzeit kaum erfüllt.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe politik&kommunikation IV/2015 Zukunft. Das Heft können Sie hier bestellen.