Realität über Rhetorik

Insgesamt 21 Minuten und 2415 Worte lang sprach Präsident Obama eine ernste und nüchterne Rede, darauf aus, die Mitte zu treffen. Für seine Maßstäbe ungewöhnlich spannungsarm, ohne Obama-Sound und Applauskitzler, ohne Melodie und Leitmotiv, das früh eingeführt wird und am Ende erneut anklingt. Rhetorisch lauwarm, wirkt sie gelesen besser als gehört.
Auffallend viele Kommentar-Schnellschüsse mit eiligen Übersetzungen gingen denn auch daneben, so mancher schoss sich ins Knie mit seinem Fazit: „Rhetorisches Paradestück“. Im Original wirkte die Rede gerade durch das Primat der Realität über die Rhetorik. Hier einige rhetorisch besonders auffällige Passagen:

„Our nation is at war, against a far-reaching network of violence and hatred.“
Das klingt nach George W. Bush und soll es wohl auch. Dieser markige Satz ist nicht für die eigenen Wähler, sondern für die anderen.

„For us, they packed up their few worldly possessions […]. For us, they toiled in sweatshops […]. For us, they fought and died, in places like Concord.“
Auch an anderen Stellen findet man in Obamas Rede eine Anapher, ein rhetorisches Stilmittel, das mehrere Sätze gleich beginnen und bedeutsam erscheinen lässt. Warum wird dieses starke Mittel an die Vergangenheit verschenkt statt bei seinen Zukunftsplänen zu wirken?

„We remain the most prosperous, powerful nation on Earth. Our workers are no less productive […]. Our minds are no less inventive, our goods and services no less needed.“
Vielleicht der größte handwerkliche Fehler dieser Rede. Pfeifen im dunklen Wald statt Optimismus. Was stark klingen soll, macht schwach – denn es beschwört nur das Unveränderte. „Audacity of Hope“ heißt Obamas zweite Autobiografie, doch von „Verwegenheit der Hoffnung“ ist überhaupt nichts zu spüren. Nach der Rede sackte die Wall Street mit neuen Milliardenverlusten um ganze fünf Prozent ab.

„Starting today, we must pick ourselves up, dust ourselves off, and begin again the work of remaking America.“
Was für ein Bild: „Remaking America“, den Schutt wegräumen von acht Jahren Bush. Kein Wunder, dass die auflagenstärkste US-Tageszeitung  „USA Today“ damit titelte. Wenn die berühmte Zitatensammlung „Bartlett’s Quotations“ überhaupt etwas aus der Rede aufnimmt, dann dies.

„We reject as false the choice between our safety and our ideals.“
Der literarische Satzbau hebt die Stärke der Botschaft noch hervor: die außerordentliche Kritik an seinem Vorgänger, der diese Wahlmöglichkeit überhaupt zugelassen hat.

„Our security emanates from the justness of our cause, the force of our example, the tempering qualities of humility and restraint.“
Ein rhetorisch wirkungsvoller Satz, denn er hat beim Sprechen einen natürlichen Rhythmus.

„Our spirit is stronger and cannot be broken; you cannot outlast us, and we will defeat you.“
Militärpolitiker horchen hier auf. Dennoch klingt es nach Motivationsrufen einer Football-Mannschaft.

„We are a nation of Christians and Muslims, Jews and Hindus – and non-believers.“
Welche Überraschung. Wird die Antrittsrede eines Präsidenten der „Nation under God“ je wieder solche Worte enthalten?

„To the Muslim world, we seek a new way forward.“
Obamas direkte Ansprache der Muslime ist die härteste Kritik an Bush: Sieh her, Vorgänger, man kann mit ihnen reden. Mit dem schönen Bild „but that we will extend a hand if you are willing to unclench your fist“ schließt diese bedeutende Passage.

„What is required of us now is a new era of responsibility.“
Dieses Passiv macht anonym, was doch jeden ansprechen und beleben soll. Das erkennbare Vorbild John F. Kennedy („Fragt nicht, was euer Land…“) ist rhetorisch stärker. Und verantwortlich wofür? Weil Obama kein Wort dazu sagte, wie man die Verursacher des Unheils umfassend zur Verantwortung zieht, bleibt es eine Phrase.

Obamas Rede war rhetorisch flach, aber inhaltlich klar. Wer seine bisherigen Wahlkampfreden analysierte, musste das Gegenteil erwarten. Was wir sahen, war eloquenter als das, was wir hörten. Eine Rede kann einem Ereignis Größe verleihen, anders herum funktioniert es leider nicht.
Doch der Gesamteindruck war packend. William Gavin, der Redenschreiber des verfemten Richard Nixon, fand die richtigen Worte. Er sagte, der afrikanische Amerikaner Barack Obama hätte auch einfach nur zwanzig Minuten wortlos im Schein der hellen Wintersonne vor dem Weißen Haus stehen können – und doch: Er hätte schon allein durch dieses Bild der Welt mitgeteilt, wie großartig Amerika ist.

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