Lernst Du schon oder drohst Du noch?

Nahezu jeder Politiker hat Ähnliches schon erlebt: Der Vertreter eines Wirtschaftsverbands kommt mit düsterem Gesicht zum Bürobesuch und prophezeit den Untergang seiner Branche, sollte diese oder jene Regelung wirklich in Kraft treten. Wären diese Prophezeiungen alle wahr geworden, hätte so ziemlich jedes Regierungshandeln der vergangenen zwei Jahrzehnte zwangsläufig zum Ende des Standorts Deutschland geführt.
Natürlich dürfen rhetorische Übertreibungen – auf beiden Seiten – weiterhin zum politischen Geschäft gehören, auch bei der Vertretung der eigenen Interessen. Dennoch haben die so häufig bemühten Bedrohungsszenarien etwas Ermüdendes – ebenfalls für beide Seiten. Schließlich hat sich gezeigt, dass Deutschlands Wirtschaft aus eigener Kraft und eingebettet in kluge politische Entscheidungen bisher einigermaßen gut durch die Finanz- und Wirtschaftskrise gekommen ist. Und manches Unternehmen, das vor Jahren den Standort Deutschland verlassen hat, ist mittlerweile wieder zurückgekehrt oder betreibt zumindest einen Teil seines Geschäfts im Land.
Kern des Problems der Verständigung zwischen Politik und Wirtschaft ist indes nicht die Rhetorik. Diese offenbart doch nur ein tiefer gelegenes Problem: das gegenseitige Unverständnis der Motive, Interessen und Sichtweisen des Anderen.
Vorbei sind die Zeiten, wo grau gewandete Herren in Hinterzimmern Politikern bedeuteten, was ihrem Unternehmen helfen könnte. Die atemberaubenden Geschichten über einflussreiche Lobbyisten, die kurz vor der Verabschiedung noch ganze Gesetzesentwürfe drehten, werden vor allem von diesen selbst erzählt.
Schließlich hat die Berliner „Käseglocke“, wo manche in dem engen Miteinander von Politik, Medien und Unternehmen zu viel Nähe befürchten, gerade durch diese Nähe an Transparenz gewonnen. Die Politik – hin und wieder auch die Medien – sucht den Kontakt zur Wirtschaft, sie sucht ihn, um etwas zu erfahren über Branchen, Unternehmen, Marktlagen oder den Betriebs­alltag, sie will Einschätzungen hören zu Entwicklungen in der Wirtschaft. Bei diesem Miteinander helfen Einblicke, Geschichten und Beispiele mehr als Bedrohungsszenarien. Umgekehrt können Unternehmen auch von der Politik viel erfahren oder sich die eigene Branche aus anderer Sicht spiegeln lassen.
Gegenüber der Politik tut – gerade aus der Realwirtschaft – eine andere Form der Kommunikation Not, und an den Ergebnissen gemessen, tut sie sicher auch gut. Dabei ist es nicht notwendig, dass Unternehmen ihre Interessen verbergen. Sie vorzubringen ist genauso legitim, wie ihnen nicht zu folgen. Allerdings ist die den Vertretern einiger Wirtschaftsverbände zur Gewohnheit gewordene Art, Forderungen an die Politik vorzubringen, manchmal nahezu anachronistisch. Schließlich werden Unternehmen heute viel mehr als Teil der Gesellschaft angesehen, als das den Managern selbst überhaupt bewusst ist. Auch ein globaler Multi hat irgendwo seine Niederlassung und einen Standort, an dem Menschen leben und arbeiten.
Vielleicht hat gerade die Globalisierung mit ihrem Wettbewerb um die besten Standorte den Blick auf die Unternehmen seitens der Gesellschaft verändert. In jedem Fall hat sie den der Politik verändert, die oft komplexe Entscheidungen unter hohem Zeitdruck und ständiger öffentlicher Beobachtung und Kommentierung fällen muss. Dabei sind Informationen hilfreich und der sinnliche Eindruck aus den Unternehmen selbst – und nicht die hundertste Forderung nach niedrigeren Unternehmenssteuern.
Die Politik hat sich in den vergangenen Jahren in hohem Maße die Perspektive und damit ein Verständnis der Wirtschaft angeeignet. Viele Bundestagsabgeordnete verstehen sich gegenüber den Bürgern als Dienstleister und bezeichnen sie als Kunden. Öffentliche Haushalte werden nach wirtschaftlicher Buchhaltung geführt, und die politische Führung lernt aus der Führungstheorie von Unternehmenslenkern. Die Globalisierung zwingt zwei Welten zusammen. Wenn ein ehemaliger Ministerpräsident an die Spitze eines großen Unternehmens wechselt, wird diskutiert, ob er diese Aufgabe bewältigen kann. Was wäre eigentlich, wenn es umgekehrt wäre? Ein ehemaliger CEO als Ministerpräsident?
Selbst wenn dieser Rollenwechsel nicht vollzogen wird, ist es für Unternehmen notwendig, sich ihrerseits mit Instrumenten und Denkweisen der Politik vertraut zu machen. Was sagt mir meine eigene Marktforschung über gesellschaftliche Trends? Wie entwickelt sich die Arbeitswelt, wenn mein Unternehmen der Maßstab wäre? Und wofür gibt eigentlich die Stadt meine Gewerbesteuer aus?
Die Finanzkrise hat die Politik selbstbewusster werden lassen – nicht nur gegenüber dem Finanzsektor. Waren politische Entscheidungsprozesse Ende der neunziger Jahre gerade vielen Bankern viel zu langwierig, zu wenig international und zu vorsichtig, ja die Politik eigentlich ein überflüssiges Markthindernis, wurden in den langen Nächten während der Krise alle eines besseren belehrt: Auf einmal musste der Staat etwas verleihen, was im Finanzsektor plötzlich nicht mehr zu haben war: Geld und Vertrauen.
Unmittelbar nach diesen Entscheidungen war es die Politik, die ihr Tun erklären musste, als sei sie allein für das Desaster verantwortlich. Im Untersuchungsausschuss zur Hypo Real Estate, der im Sommer 2009 die Ereignisse aus dem Krisenjahr 2008 wie im Zeitraffer nochmals abspulte, gaben die vernommenen Zeugen aus dem privaten Bankensektor ihre Überraschung zu Protokoll, wie gewitzt das Bundesfinanzministerium mit ihnen verhandelt hatte, um die Bürgschaften des Steuerzahlers im Griff zu halten. Er habe viel gelernt, sagte der Chef einer deutschen Bank im Untersuchungsausschuss; nämlich, dass die Politiker die Verhandlungsergebnisse nicht etwa vor dem begrenzten Zuhörerkreis einer Hauptversammlung zu vertreten hatten. Nein: Steinbrück und Merkel „mussten das draußen erklären“, konstatierte er fast bewundernd.
Heute ist die Kommunikation des Bankenverbands fast wieder da angekommen, wo sie vor der Krise war – die Politik reguliere viel zu viel und mindere dabei den Gewinn der Kredit­institute. Kein Wunder, dass viele Banken klagen, dass die Politiker in Berlin kaum mehr zu ihren Veranstaltungsabenden kommen.
Während der Einfluss des Hinterzimmerlobbyismus kleiner wird und die Politik selbstbewusster, müssen Unternehmen – allemal die, welche das öffentliche Interesse auf sich ziehen – heute auch gegenüber der Gesellschaft stärker in Erscheinung treten.
Letztlich hat der Streit um Stuttgart 21 doch deutlich gemacht, dass sich bei Entscheidungen, die die Infrastruktur oder unternehmerische Expansionswünsche betreffen, kurz: bei jeder neuen Betriebshalle, die genehmigt werden muss, die Unternehmen nicht mehr darauf verlassen können, dass die Politik ihre Beschlüsse einfach exekutiert und am Ende alleine den Leuten draußen erklärt. Dazu sind die Bürger zu selbstbewusst, Fakten zu transparent, und letztlich unser politisches System auch nicht gemacht. In den großen Apparaten der Bundesministerien können Beamte nicht jede Entwicklung in der Wirtschaft präsent haben. Und beständig neue Leute „vom Markt“ in die Ministerien zu holen, kann das öffentliche Dienstrecht nicht leisten und der Staat sich noch weniger. Politik wird auf lokaler Ebene von ehrenamtlichen Bürgerinnen und Bürgern gemacht. Deren Zeit und Einsatzmöglichkeiten sind auch begrenzt.
Die Wirtschaft steht in der Zwiesprache mit der Politik keinen Unwissenden gegenüber. Dennoch kann die Politik nicht alles wissen – die Wirtschaft muss sie informieren und befähigen, vor allem aber muss sie sich selbst als Teil der Gesellschaft begreifen. Wer seinen Betrieb erweitern will, darf nicht dem Bürgermeister die gesamte Kommunikation überlassen, erst recht nicht, wenn es Streit gibt. Nicht alles, was in der Wirtschaft gedacht oder gewünscht wird, muss sich die Politik zu Eigen machen. Sie vertritt Gesamt- und keine Partikularinteressen. Aber die Politik bedarf eines Eindrucks, eines Erlebnisses und einer Erzählung zum Thema, wenn die Wirtschaft verstanden werden will – und wenn die Politik richtig handeln soll. Alles andere schadet dem Standort Deutschland.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe 7 Wahlen – wer gewinnt, wer verliert.. Das Heft können Sie hier bestellen.