Zwischen den Ebenen

Politik

Der Name Arne Schönbohm überschattet den hessischen Wahlkampf und damit das Bundesinnenministerium. Ministerin Nancy Faeser (SPD) hatte den Ex-Präsidenten des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik im Oktober aus dem Amt entfernt. Und das, obwohl sich der Verdacht der Russlandnähe gegen ihn später als unbegründet herausstellte. Bestand Faeser wider besseren Wissens darauf, Schönbohm abzulösen, weil er ein CDU-Parteibuch hat? Instrumentalisierte sie den Verfassungsschutz, um ihre Entscheidung mit Geheimdienstinformationen zu untermauern?

Fragen, die die Ministerin im hessischen Wahlkampf gar nicht gebrauchen kann. Den Innenausschuss schwänzte sie deshalb zwei Mal, angeblich wegen Arztbesuchen. Nun gab sie zu, ihre PR-Leute hätten abgeraten, den „Klamauk“ dort mitzumachen. In Umfragen hat die Hessen-SPD mit 20 Prozent neun Punkte Rückstand auf die CDU.

Die Doppelrolle als Innenministerin und Wahlkämpferin in Hessen bringt es mit sich, dass Angelegenheiten des einen Bereiches auch in den anderen hinüberschwappen. Gute PR, wirkmächtige Bilder und viele Follower auf Social Media sind willkommen. Affären und misslungene Kommunikation schaden. Manch einer fragt schon, ob Nancy Faeser sich zu viel vorgenommen hat: ein Spiel zwischen den Ebenen.

Der Letzte, der dieses Spiel wagte, war Norbert Röttgen, damals Bundesumweltminister im Kabinett von Angela Merkel und Spitzenkandidat der NRW-CDU für die Landtagswahlen 2012. Die Kampagne wurde seinerzeit zu einem Lehrstück für verpatzte Kommunikation. Röttgens Lavieren bei der Frage, ob er bei einer Wahlniederlage als Oppositionsführer nach Düsseldorf wechseln würde oder doch lieber sein Ministeramt im Bund behalten würde, überschattete den gesamten Wahlkampf. Es führte letztendlich dazu, dass ihm keines von beiden vergönnt war. Röttgen verlor nicht nur die Wahl mit damals katastrophalen 26,3 Prozent, sondern wenige Tage später auch sein Ministeramt in Berlin. Für „Muttis Klügsten“ bedeutete die doppelte Niederlage einen Karriereknick, von dem er sich bis heute nicht erholt hat.

Faeser wollte immer nach Hessen

Steuert Nancy Faeser auf ein ähnliches Fiasko zu? Der Vergleich hinkt auf mehreren Ebenen. Röttgens Fokus lag stets auf der Bundespolitik. Den Vorsitz des mitgliederstärksten CDU-Landesverbandes, übernahm der damalige Bundesumweltminister 2010 lediglich, um seine innerparteiliche Machtbasis zu stärken. (Dieser Schachzug wäre vermutlich aufgegangen, hätte das vorzeitige Ende der rot-grünen Koalition unter Hannelore Kraft 2012 ihn nicht in einen ungeplanten Landtagswahlkampf gezwungen.) Bei Faeser ist es umgekehrt: Die hessische SPD-Vorsitzende und frühere Oppositionsführerin wurde Bundesinnenministerin, um ihre Karriere in der hessischen Politik anzukurbeln. Ihr politisches Ziel war es immer, Ministerpräsidentin zu werden. Gegen den nach wie vor neuen und bundesweit bisher blassen Boris Rhein wollte sie die Prominenz und Medienpräsenz in die Waagschale werfen, die sie als Bundesministerin genießt. Es ist ironisch, dass sie jetzt auf dem Weg in die hessische Staatskanzlei wegen einer Bundesangelegenheit strauchelt.

Im Unterschied zu Röttgen schuf Faeser jedoch unmittelbar nach ihrer Nominierung zur hessischen Spitzenkandidatin Klarheit darüber, wie sie mit einer Niederlage umgehen werde. Sie kündigte an, dann Bundesministerin bleiben zu wollen. Für Nancy Faeser wiegt das Ministerinnenamt im Bund deutlich schwerer als die Oppositionsführerschaft im Land – beides kennt sie aus eigener Erfahrung.
Der Vergleich mit Norbert Röttgen verfolgt sie seit ihrer Kandidatur. Ein Bundesminister im Landtagswahlkampf gegen einen amtierenden Ministerpräsidenten ist selten. Seit Röttgens gescheitertem Anlauf zog es lediglich Manuela Schwesig und Franziska Giffey aus dem Kabinett zurück in die Landespolitik – allerdings beide in Länder, die bereits von der SPD regiert wurden. Schwesig hatte es dabei besonders einfach: Nach dem krankheitsbedingten Rückzug von Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidenten Erwin Sellering konnte sie sich ins frisch gemachte Nest setzen und hatte bei Amtsantritt beinahe noch eine gesamte Legislaturperiode vor sich.

Giffey musste noch eine Wahl gewinnen, um ins Rote Rathaus einzuziehen. Anders als bei Faeser und Röttgen stellte sich die Frage nicht mehr, ob sie bei einer Niederlage Bundesministerin geblieben wäre. Mit dem Ende der Legislaturperiode des Bundestages endete ihre Amtszeit mit dem Wahltag turnusgemäß. Darüber hinaus hatte die Affäre um ihre Doktorarbeit Giffey ohnehin bereits das Ministeramt gekostet. Sie hatte nichts mehr zu verlieren.

Scholz musste selbst gewinnen

Zwei weitere Urgesteine der deutschen Politik haben das Kunststück vollbracht, zwischen Bundes- und Landesebene hin und wieder her zu wechseln. Horst Seehofer war 2008 Landwirtschaftsminister im Kabinett Merkel I. Eine herbe Wahlschlappe bei der bayerischen Landtagswahl fegte Ministerpräsident Günther Beckstein und CSU-Parteichef Erwin Huber aus dem Amt. Die CSU trug Seehofer beide Ämter an. 2018 kehrte er aus der Bayrischen Staatskanzlei zurück nach Berlin, um im Kabinett Merkel IV das Amt des Bundesinnenministers zu übernehmen. Auch der Kanzler hat diese Reise schon hinter sich. Der Unterschied: Olaf Scholz musste die Wahl zur Hamburger Bürgerschaft 2011 selbst gewinnen. Erst danach konnte der Erste Bürgermeister Hamburgs 2018 als Finanzminister in die Bundesregierung zurückkehren.

Doch bedeutet der Wechsel vom Kabinettstisch in die Staatskanzlei zwingend einen politischen Aufstieg? Ist es reizvoller, eine Ebene tiefer an der Spitze der Regierung zu stehen als auf höchster Ebene in zweiter, manchmal auch dritter Reihe? Oder anders gefragt: Will man lieber einen Teil der Macht im ganzen Land oder die ganze Macht in einem Teil des Landes?

Pauschal lassen sich diese Fragen nicht beantworten. Würde Robert Habeck sein Wirtschafts- und Transformationsministerium in Berlin aufgeben für die Chance, Regierungschef an der Kieler Föhrde zu werden? Vermutlich nicht. Träumt Cem Özdemir (mehr oder weniger) heimlich davon, sein Landwirtschaftsministerium gegen die Staatskanzlei in seiner schwäbischen Heimat Stuttgart zu tauschen? Ganz bestimmt. Bei diesen Überlegungen spielen sicherlich die Größe des jeweiligen Bundeslandes und der Etat des Ministeriums eine Rolle. Man darf jedoch die individuellen Charaktere und Interessen der betroffenen Politiker sowie deren bisherige politische Vita nicht vernachlässigen. In der politischen Tektonik müsste man bei einem derartigen Ebenenwechsel ohnehin eher von einer Seitwärts­bewegung sprechen, die je nach Fall ein etwas anders gelagertes Gefälle aufweist.

Scheitern ist kein Hinderungsgrund

Schließlich gibt es Politiker wie Seehofer und Scholz im Jahr 2018. Sie machen die umgekehrte Wanderung und treten als erfolgreiche Ministerpräsidenten in die Berliner Bundesregierung ein. Von diesem Trick machte vor allem die SPD während der rot-grünen Jahre Gebrauch. Sie holte Oskar Lafontaine (1998 aus dem Saarland), kurze Zeit später Hans Eichel (1999 aus Hessen) und Wolfgang Clement (2002 aus Nordrhein-Westfalen) als Minister in die Bundesregierung. Hier wird deren geballte Regierungserfahrung aus den Ländern eine große Rolle gespielt haben. Nach 16 Jahren Opposition gab es die in der Bundes-SPD nicht mehr.

Der Ex-Verteidigungsministerin und saarländischen Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer gelang der Sprung an den Kabinettstisch über den Umweg CDU-­Generalsekretärin. Nicht immer ist die Staatskanzlei das Sprungbrett: Heiko Maas, Julia Klöckner, Peer Steinbrück oder Sigmar Gabriel zeigten: Eine Karriere auf Bundesebene ist auch nach Wahlschlappen möglich.
Es gibt für den Wechsel zwischen Bundes- und Landesebene keine goldene Regel. Auffällig ist die Vorsicht, mit der meisten Bundesminister einen Ebenenwechsel planen. Sie übernehmen den Staffelstab gern während einer laufenden Legislatur. So lassen sich in Ruhe Bekannt- und Beliebtheit aufbauen und – wie die Beispiele Seehofer 2013 und Schwesig 2021 zeigen – große Wahlsiege erringen. Nancy Faeser nimmt als Herausforderin im hessischen Wahlkampf ein Risiko auf sich. Am 8. Oktober um 18 Uhr wissen wir, ob es sich für sie auszahlt.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 144 – Thema: Interview mit Can Dündar. Das Heft können Sie hier bestellen.