So funktionieren Koalitions­verhandlungen

Politik

Man ist sich einig. Die neue Koalition steht. Die Verteilung der Macht ist geklärt. Und die ersten Schritte der neuen Regierung sind miteinander besprochen. Es soll, nein, es wird ein neues Kapitel aufgeschlagen werden und man wird die Republik zum Guten verändern. Darauf wird angestoßen. Es ist der Herbst 1969. Die Tür wird aufgestoßen für eine neue, die sozialliberale Koalition. Man hat alles geklärt, um regieren zu können, nur eines hat man nicht: einen Koalitionsvertrag.

Heute wundert einen das. Wie soll das gehen, Regieren ohne Vertrag? 1969 hatte man die wesentlichen inhaltlichen Fragen in den hin- und hergehenden Entwürfen zur Regierungserklärung des neuen Bundeskanzlers Willy Brandt präzisiert. Mehr brauchte man zunächst nicht. Die Koalition zwischen SPD und FDP hielt bis zum Herbst 1982 und hat die Republik in der Tat positiv verändert.

Zeitsprung in den Herbst 2013: Mit dem Ergebnis der Bundestagswahl verliert die Koalition aus CDU/CSU und FDP ihre Regierungsmehrheit. Es beginnt ein komplexer Sondierungs-, Überzeugungs- (in den Parteien) und Verhandlungsprozess zur Bildung der dritten Großen Koalition in der Geschichte der Republik. Es braucht weniger Aschenbecher und Rotweinflaschen als 1969 – dafür aber mehr Arbeitsgruppen. Zählen wir alles zusammen, sind hunderte von Personen an den Verhandlungen zwischen den drei Parteien beteiligt. Der Vertrag ist lang, detailliert und bestimmt das Regierungshandeln für die folgenden vier Jahre.

Koalitionsvertrag und Koalitionsverhandlung

Zunächst: Am Ende einer Koalitionsverhandlung steht ein Koalitionsvertrag. Es ist wichtig, dies wirklich zu verstehen, denn: Ein Koalitionsvertrag ist kein Dokument, das zu Beginn eines Verhandlungsprozesses auf den Tisch gelegt wird und über das anschließend – als Entwurf – verhandelt wird. Nein, ein Koalitionsvertrag ist ein Dokument, das über einen Verhandlungsprozess völlig neu kompiliert wird. Dies wäre schon ohne den gewaltigen medialen und auch machtpolitischen Druck in einem Zeitraum von vier bis sechs Wochen ein ambitioniertes Unterfangen. Betrachtet man aber die Kräfte, die auf die Verhandler innerparteilich und gesellschaftlich einwirken, so wird klar, wie schwer es sein kann, einen Verhandlungsprozess nicht nur abzuschließen, sondern auch sinnvolle und konsistente Ergebnisse zu erzielen.

Das folgende Schaubild verdeutlicht vereinfacht die Grundstrukturen von Koalitionsverhandlungen. Je nach Grad des Vertrauens innerhalb der und zwischen den Parteien sind die Besetzungen komplexer oder schlanker. Ist eine Parteiführung fest im Sattel, sind die Sondierungsgruppen normalerweise kleiner. Beispielsweise wurde die Sondierung zur Bildung einer Großen Koa­lition 2005 zwischen den drei Parteien von vier Personen durchgeführt, 2009 von 21 Personen.

Vergleich der Koalitionsverhandlungen 2005 und 2013

 

Struktur der Koalitionsverhandlungen

Natürlich gibt es vor einer Wahl Präferenzen, wer mit wem regieren will. Aber die Verhältnisse sind durch die Volatilität des Wahlverhaltens und neue Parteien unübersichtlicher geworden. Die klassischen Zweier-Koalitionen, die jahrzehntelang die Republik prägten, haben derzeit keine Mehrheit: weder Schwarz-Gelb, noch Sozial-Liberal, Rot-Grün oder Schwarz-Grün. Immer öfter müssen Dreier-Konstellationen gebildet werden. Das hat zur Folge, dass vor den eigentlichen Verhandlungen zur Bildung einer neuen Regierung Sondierungen mehrere Optionen durchspielen. Hierzu werden die Politischen Führungen (1) beauftragt. Das ist der Job von Parteivorsitzenden und deren Stellvertretern, der Fraktions- oder starker Länderchefs. Diese Gruppen bilden in der Regel den machtpolitischen Kern, sie sind auch später in den Koalitionsverhandlungen die Clearing-Runde.
Hinter dieser Top-Ebene etabliert sich eine Steuerungsgruppe oder auch ein Lenkungskreis. Hier werden Überlegungen dazu angestellt, wie der Koalitionsverhandlungsprozess operativ angelegt wird: Wer verhandelt? Wie groß soll das Plenum sein? Welche Themenblöcke werden gebildet? Wer ist dort Verhandlungsführer der jeweiligen Seite? Wer protokolliert und wie? In welchem Rhythmus wird verhandelt? Wie ist das Plenum mit den Fachgruppen verzahnt? Wo wird verhandelt? Und so weiter.

Ein Dokument aus einem Guss

Diese Lenkungsgruppe sind in der Regel die Generalsekretäre, Bundesgeschäftsführer, Fraktionsvorsitzenden, Parlamentarischen Geschäftsführer, Kanzleramts­minister – bei den Koalitionsverhandlungen 2005 zum Beispiel waren das Volker Kauder, Erwin Huber, Olaf ­Scholz und ich. Dieser Kreis hat auch dafür zu sorgen, dass der Textprozess hin zu einem Koalitionsvertrag professionell läuft. Denn: Am Ende soll es ein Dokument aus einem Guss sein, keine Textcollage.

Die finanziellen Möglichkeiten spielen natürlich eine entscheidende Rolle. Es gibt immer mehr Ideen als Geld. Der Finanzcheck ist ein zentrales Steuerungsinstrument für machtpolitische Entscheidungen. Alles, was an konkreten Maßnahmen in einem Koalitionsvertrag steht, sollte finanziell unterlegt sein.

Das eigentliche Verhandlungsplenum (2) ist kein Ort der Verhandlung – dazu ist der Kreis zu groß. Selbst bei schlanken Strukturen sitzen dort 40 Personen im Raum, 2009 waren es mehr als 80. Deswegen werden im Plenum nur die großen Linien ausgetauscht und Themen getestet. Die Fachgruppenchefs (3) berichten hier. Die Steuerungsgruppe hat einen Verhandlungsfahrplan vereinbart und achtet darauf, dass die Fachgruppen rechtzeitig abschließen, damit im Plenum ein konsentierter Abschnitt für den Koalitionsvertrag vorliegt. Die Dissenspunkte werden gelistet und in weiteren kleinen Gesprächsrunden reduziert.

Meines Erachtens sollten alle Parteien, die mit einer Verhandlungsteilnahme im Herbst 2017 rechnen können, darüber nachdenken, wie sie Koalitionsverhandlungen als einen guten und wichtigen Teil des demokratischen Prozesses gestalten und erklären. Man muss sich darüber jetzt Gedanken machen – im Herbst macht das keiner!

Natürlich ist mir klar, wie stark parteipolitische und persönliche Motive einwirken werden und wie auch alle Interessengruppen sich vorbereiten. Das ist legitim. Zur notwendigen Festigung unserer Demokratie gegen ihre Feinde gehört aber auch, dass die Bürger besser nachvollziehen können, welche Ziele verfolgt und vor allem warum bestimmte Kompromisse gemacht werden. Der Kompromiss gehört zum Wesen der Demokratie, die Fähigkeit dazu ist auch der Schutz vor dem Faustrecht. Die Koalitionsverhandlungen sind eine wichtige Gelegenheit für alle Demokraten, diese Kompromissfähigkeit als Wert neu zu begründen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 118 – Thema: Bundestagswahl 2017. Das Heft können Sie hier bestellen.